von Roman Kurzmeyer
Download Text als PDF


Harald Szeemann (1933-2005) gab 1969 nach der Ausstellung
When attitudes become form die Leitung der Kunsthalle Bern ab, um als unabhängiger Ausstellungsmacher eigene Projekte zu realisieren und wurde später als international tätiger Ausstellungskurator ein Star der Kunstszene. Seine Ausstellungen machten erfahrbar, dass die Präsentationsform eines Kunstwerkes für dessen Wirkung entscheidend ist. Seine Agentur für geistige Gastarbeit in Maggia (Tessin) war Archiv, Bibliothek, Lesesaal, Lager und Ausstellungsbüro in einem und ist heute das Gedächtnis seines Museums der Obsessionen.

Mit der Ausstellung Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise eröffnete Harald Szeemann am 28. November 1985 im Kunsthaus Zürich die erste einer Folge von auratischen Inszenierungen zur zeitgenössischen Skulptur, die er in Wien, Düsseldorf und Berlin zeigen konnte. Als permanenter freier Mitarbeiter am Kunsthaus Zürich ab 1981 konzipierte er neben thematischen Ausstellungen auch eine Reihe monographischer Ausstellungen zu bedeutenden Künstlern seiner Generation wie Mario Merz (1985), Cy Twombly (1987), Richard Serra (1990), Walter De Maria (1992) oder Joseph Beuys (1993). Die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren in der Selbstwahrnehmung der Kunstszene das Jahrzehnt der Wiederkehr einer gestischen, wilden Malerei. Szeemann konnte dieser dem Zeitgeist geschuldeten expressiven Malerei wenig abgewinnen. Ihn interessierte dagegen sehr, wie er damals schrieb, „die Thematisierung von Stille in der dreidimensionalen Äusserung“. Er lenkte den Blick des Publikums in jenen Jahren auf das zeitgenössische plastische Schaffen und den Umgang der Künstler mit dem architektonischen Raum. Im Katalog zur Ausstellung Der Hang zum Gesamtkunstwerk (1983) bestimmte er die Ausstellung bezeichnenderweise „als poetisches Vehikel im Museum, dem Ort, wo fragile Zusammenhänge in sinnlicher Form noch ausprobiert werden können“.

Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise verstand sich als eine Ausstellung zur zeitgenössischen Skulptur, mit Beiträgen von dreizehn Künstlerinnen und Künstlern und zusätzlich je einem historischen Werk von Medardo Rosso (Bambino malato, 1889), Constantin Brancusi (Muse endormie II, 1926) und Alberto Giacometti (Pointe à l’oeil, 1931) aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich, welche in der Ausstellung alle der zeitgenössischen Kunst programmatisch vorangestellt waren. Die Ausstellung thematisierte die Erfahrung von Kontemplation als eine Qualität von Kunst. Ausgestellt waren kleine, delikate Objekte in kapellenartigen, weissen Dreiecksräumen, welche Szeemann schon für die Präsentation der Werke in Der Hang zum Gesamtkunstwerk verwendet hatte, aber auch grössere Plastiken beispielsweise von Tony Cragg, Royden Rabinowitsch oder Thomas Virnich als freistehende Körper im Raum, in vielen Fällen sockellos auf dem Boden der offenen Ausstellungshalle. Einzelne der Werke in dieser Ausstellung markierten statische oder dynamische Zentren, von denen aus der Betrachter besonders viel über die Ausstellung, die speziellen Werke und deren Raumbezug erfahren konnte. Mich persönlich, der ich zuvor lediglich einmal eine von Szeemann kuratierte Ausstellung, diejenige von Mario Merz im Kunsthaus Zürich, gesehen hatte, faszinierte Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise als Inszenierung. Ich war nach dem Besuch dieser Ausstellung für die Wahrnehmung der Ausstellung als einem eigenen Medium der Kunst sensibilisiert.

Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise bildet im Schaffen Szeemanns einen kontemplativen Gegenpol zur umstrittenen Ausstellung When attitudes become form von 1969 in der Kunsthalle Bern, deren Ablehnung vor Ort durch Publikum und Politik Szeemann zum Anlass nahm, die Leitung des Hauses aufzukündigen, die aber gleichzeitig auch seinen Ruhm als innovativer, mit der internationalen Szene vertrauter und trotzdem eigenständiger Ausstellungsmacher begründete. Die Berner Ausstellung erwies sich nicht zuletzt deshalb als wichtig für die zeitgenössische Kunst, weil Harald Szeemann im Unterschied zu seinen Kollegen an den Museen die neue Kunst, die in dieser Ausstellung zu sehen war, auch auf neue, den Werkformen entsprechende Art zeigen wollte. Der Ausstellungsmacher versuchte die experimentellen, gestischen Eigenschaften der Werke für das Publikum in der Ausstellung nachvollziehbar zu machen, indem er die Künstler die Werke vor Ort realisieren liess, die Umgebung der Kunsthalle in die Ausstellungsfläche miteinbezog und damit die Ausstellung zur Stadt hin öffnete. Zur kuratorischen Idee gehörte, dass Szeemann in When attitudes become form nicht nur den Ausstellungsaufbau, sondern auch die Zeit nach der Eröffnung als eine Arbeitssituation auffasste. Einzelne Werke wurden beispielsweise erst nach der Eröffnung installiert. Die Fotografien aus der Ausstellung von Balthasar Burkhard und Harry Shunk, die im Einvernehmen mit Harald Szeemann die Räume mit den ausgestellten Werken dokumentierten, und deren Aufnahmen in seinem Archiv liegen, lassen den Eindruck entstehen, dass die Arbeiten in Nachbarschaften wahrgenommen werden sollten. Die Ausstellung betonte die prozessualen Eigenschaften ihrer eigenen Entstehung und die provisorische Natur von vielen der ausgestellten Werke. Harald Szeemann hatte aus dem Museum ein Atelier gemacht. Und wie in einem Atelier wurden die plastischen Arbeiten nicht einzeln optimal zur Schau gestellt, sondern im offenen Raum, sockellos direkt auf dem Boden, einander gegenüber gestellt.

Nach dem Weggang von der Kunsthalle Bern 1969 als Folge der Diskussion um die in Bern unwillkommene Ausstellung When attitudes become form und einem damit zusammenhängenden Gefühl der Entfremdung gründete Szeemann die Agentur für geistige Gastarbeit mit der Absicht, „etwas Neues zu finden und zu tun und mich gleichzeitig vom offiziellen Kunstbetrieb abzusetzen“. Aus einem Brief vom 21. Juli 1969 an den Zürcher Maler Richard Paul Lohse ist zu erfahren, dass einer der Grundimpulse während seiner letzten Jahre an der Kunsthalle Bern derjenige war, das System des Gastspiels für das Ausstellungswesen einzuführen. Seinen später als Agentur für geistige Gastarbeit bekannt gewordener Einmannbetrieb bezeichnet er im erwähnten Brief noch als „Ideenatelier“, in dessen Rahmen er nicht nur weiter Ausstellungen organisieren will, sondern auch schreiben, Filme machen und „versuchen, durch gezielte Aktionen den ‚Besitz eines Hauses’ – der Kunsthalle, wettzumachen.“ Die Agentur, so die Darstellung ihres Inhabers Harald Szeemann, beauftragte fortan ihren einzigen Mitarbeiter, Harald Szeemann, Konzepte für Ausstellungen zu entwickeln, zu recherchieren, die Ergebnisse im Archiv zu sichern, die Ausstellung zu organisieren, an jeder Station bis zum letzten Nagel einzurichten und schliesslich persönlich an das Publikum zu vermitteln. Schon 1971 räumte Szeemann allerdings ein, dass das ursprüngliche Ziel der Agentur, nämlich „mehr Zeit zum Leben zu haben und anderen Freude zu bringen“ nicht erreicht worden sei, sich punkto Arbeitsanfall seit der Kunsthalle wenig geändert habe und er natürlich auch nicht darum herumkomme, eine Infrastruktur aufzubauen, was seiner ursprünglichen Idee ganz klar widerspreche. 1973 stellte er die Agentur in den Dienst seines Museums der Obsessionen, über das er 1996 in einem Gespräch sagte: „Das war meine Art, Kunst zu machen, und meiner Berufung als Ausstellungsmacher treu zu bleiben.“

Wie das Gesamtkunstwerk ist auch das Museum der Obsessionen wegen seines absoluten Anspruches eine spekulative und deshalb für den Ausstellungsmacher reizvolle Denkfigur. Er sah sich selbst nicht als Kunstvermittler, sondern als ein Autor. Sein erster Beitrag für das Museum der Obsessionen war 1974 die Ausstellung Grossvater – Ein Pionier wie wir in der Galerie Toni Gerber in Bern. In dieser Ausstellung präsentierte er den Nachlass seines Grossvaters, des Coiffeurs Etienne Szeemann, als Installation. Es war der Versuch, ein Leben als Ausstellung zu zeigen.

Harald Szeemann kuratierte über 150 Ausstellungen, darunter die documenta 5 (1972), die Biennale di Venezia (1999 und 2001) und  bedeutende kulturgeschichtliche Ausstellungen wie Monte Verità / Berg der Wahrheit (1978), Junggesellenmaschinen / Les machines célibataires (1975) oder Geld und Wert / Das letzte Tabu (2002). Seit zwei Jahren liegt der Katalog sämtlicher seiner Ausstellungen vor. Der von mir gemeinsam mit Tobia Bezzola herausgegebene, ab 1995 zusammen mit dem Verleger Janis Osolin aus dem Archiv zusammengestellte Quellen- und Materialienband ist ein Handbuch zu seiner kuratorischen Arbeit und der erste Werkkatalog überhaupt für einen Kurator. Harald Szeemann selbst stellte sein Archiv schon 1970 in einer kleinen Ausstellung in der Galerie Givaudan in Paris zur Diskussion und danach erneut 1972 mit der Publikation Dokumente zur aktuellen Kunst 1967-1970: Material aus dem Archiv Szeemann. Das im Gesamtkatalog publizierte Material zu allen seinen Ausstellungen, von denen  Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise diejenige war, die mein Interesse am Medium Ausstellung weckte und die Zusammenarbeit mit ihm begründete, liegt im Archiv seiner Agentur für geistige Gastarbeit in einer ehemaligen Fabrik in Maggia, die er und seine Frau, die Künstlerin Ingeborg Lüscher, 1988 bezogen. An diesem Ort liefen alle Fäden zusammen und von hier aus wurden seine Ideen wieder in die Welt getragen. Das Archiv enthält nicht nur Bücher, Kataloge, Zeitschriften, Fotografien, Briefe und die von ihm selbst nachgeführte Dokumentation seiner Ausstellungen, sondern es gibt auch Kunstwerke und Memorabilien aller Art. Schwerpunkte bilden neben dem Ausstellungsarchiv seine umfassende Dokumentation zum Monte Verità, die inzwischen an den Kanton Tessin verkauft wurde, und jene zu einzelnen Künstlern wie Marcel Duchamp, Joseph Beuys und Marcel Broodthaers. Keine Notiz war ihm zu unwichtig, um Eingang ins Archiv zu finden. Jede Einladungskarte, ob ihn der Künstler interessierte oder nicht, wurde hier abgelegt.

Das Archiv dokumentiert das Netzwerk aus Künstlern, Kuratoren, Galeristen, Sammlern und Kritikern, in dem Szeemann tätig war und als einer der bedeutendsten Ausstellungsmacher des 20. Jahrhundert wahrgenommen wurde, sowie seine Ideen und deren Entwicklung. Die Agentur war Archiv, Bibliothek, Lesesaal, Lager, Werkstatt, Rückzugsort und Ausstellungsbüro in einem und ist das Gedächtnis des Museums der Obsessionen, allerdings nur in seiner integralen Form. Die Frage, was in diesem Archiv wichtig und was von zweitem Range sei, hätte ihn zum Lachen gebracht. Alles, was beruflich und privat mit seinem Leben in Berührung kam, mochte es noch so unbedeutend erscheinen, wurde dort abgelegt und danach manchmal wieder für eine Ausstellung oder einen Text hervorgeholt. Stundenlang sass Szeemann zwischen den vielen Reisen und an Wochenenden rauchend am langen, mit Papieren überladenen Tisch, führte handschriftlich seine Korrespondenz, las, telefonierte und schrieb. Was er in Worten festhalten oder in Bildern zeigen wollte, hatte er zuvor schon gesehen, erfahren oder gelesen und verlangte nun nach der treffenden Formulierung. Das Archiv spiegelt die Arbeitsmethode von Harald Szeemann insofern, als dass er die kuratorische Arbeit als hermeneutischen Prozess verstand. Für ihn bedeutete Ausstellen zweierlei, nämlich zunächst eine eigene Haltung zum Kunstwerk oder zur Thematik einzunehmen und danach eine temporäre Präsentationsform zu finden, welche die Interpretation ohne szenografische Mittel, allein durch die Werkkombinationen erfahrbar mache sollte. Die Ausstellung ist ein temporäres Medium und Kuratoren hinterlassen daher keine ausstellbaren Werke wie die Künstler, sondern lediglich Spuren in den Archiven und vielleicht auch im kollektiven Gedächtnis. Harald Szeemann sprach von „Verzauberung auf Zeit“.


Erstveröffentlichung: Du. Das Kulturmagazin, Nr. 795, April 2009, S. 60-65.