von Roman Kurzmeyer
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Am 20. Mai 2008, einem sonnigen und warmen Frühlingsabend, wird der irische Künstler Patrick Ireland im Beisein seiner Familie und zahlreicher Freunde aus aller Welt im Park des Irish Museum of Modern Art in Dublin zu Grabe getragen. Geboren wurde er in Dublin am 29. November 1972 als Alter ego von Brian O’Doherty. Der irisch-amerikanische Künstler hatte nach dem 30. Januar 1972 beschlossen, den Namen Patrick Ireland anzunehmen. An jenem Sonntag, der als „Bloody Sunday“ in die irische Geschichte eingegangen ist, hatten britische Soldaten im nordirischen Derry während einer Demonstration unbewaffnete irische Zivilisten getötet, darunter Jugendliche. Aus Protest gegen die britische Nordirlandpolitik gab O’Doherty in einer feierlichen Zeremonie öffentlich und unter notarieller Aufsicht bekannt, er werde bis zur Wiederherstellung der Bürgerrechte und dem Abzug der britischen Truppen aus Nordirland seine bildnerischen Arbeiten mit „Patrick Ireland“ signieren und nicht in Grossbritannien ausstellen. Patrick Ireland war also nicht nur ein Pseudonym, sondern ein „nom de guerre“. Die Beisetzung von Patrick Ireland in diesem Frühjahr, an der weder Vertreteter der irischen noch der britischen Regierung teilnehmen, ist eine künstlerische Arbeit und bildet als solche den Abschluss jener Performance, die vor 36 Jahren unter dem Titel Name Change im Rahmen der Irish Exhibition of Living Art im Project Arts Centre in Dublin ihren Anfang nahm. Vermummt und weiss gekleidet unterzeichnete Brian O’Doherty damals zunächst eine Urkunde zur Namensänderung, wurde danach von Robert Ballagh und Brian King auf einer Bahre liegend zum Publikum getragen, wo der eine Träger den liegenden Körper vom Kopf ausgehend mit oranger Farbe und der zweite ihn vom Fussende her mit grüner Farbe bemalte. Es sind die Farben der irischen Flagge – Grün, Weiss, Orange – , die sich auf dem vor einem weissen Hintergrund ausgestreckten Körper vermischten. Seither wurde jede Ausstellung mit Werken von Brian O’Doherty unter dem Namen von Patrick Ireland angekündigt, und jedesmal stand damit auch die offene Nordirlandfrage zur Diskussion.



Das Begräbnis

Vor seiner Beisetzung ist Patrick Ireland in einer offenen Holzkiste drei Tage in den Gordon Lambert Galleries des Museums aufgebahrt. Wer vor den Sarg tritt, wird mit einem eingehüllten Körper konfrontiert, dessen Gesicht die Züge Brian O’Dohertys trägt. Ausgestellt sind auch Fotokopien aus einem biografischen Künstlerlexikon, das Ireland und O’Doherty mit beinahe identischen Lebensstationen verzeichnet, dazu einige wenige Relikte aus der Performance von 1972, insbesondere das bemalte Kleidungsstück, sowie die Dokumentation der Performance Name Change. Vor dem Sarg und im Hof des Old Royal Hospital, das seit 1991 als Kunstmuseum genutzt wird, versammelt sich am späten Nachmittag eine grosse und illustre Trauergemeinde. Nach langem Warten trifft Brian O’Doherty ein, und der Leichenzug setzt sich langsam in Bewegung, angeführt von Michael Rush, einem ehemaligen Jesuitenpriester. Hinter dem geschlossenen Sarg auf den Schultern junger Künstler geht der weiss gekleidete und wie schon 1972 mit einem Strumpf maskierte O’Doherty, geführt von seiner Frau und der Ausstellungskuratorin Christina Kennedy. Hinter ihm reihen sich Angehörige und Freunde erwartungsvoll wie Kinder in den Trauerzug ein. Am offenen Grab hören wir Texte von Anthony Cronin, Stéphane Mallarmé, Hans Belting, Federico García Lorca und Seán Ó’Riordáin in der jeweiligen Originalsprache. Musiker sitzen auf rot gepolsterten Stühlen neben der ausgehobenen Erde. Alanna O’Kelly trägt traditionelle irische Totenklagen vor, deren Intensität die Beisetzung der Puppe während einiger Minuten zu einer ergreifenden Zeremonie machen. Brian O’Doherty wirft schliesslich eine Handvoll Erde in die Grube, zieht sich den Strumpf vom Kopf und dankt für den wiedergewonnenen Frieden in Irland. Fröhliche irische Musik wird angestimmt. Unter die Musiker mischen sich junge Männer und Frauen, die die Grube zuschütten. Wein wird ausgeschenkt. Die Grabplatte, die nun enthüllt wird, trägt in englischer und keltischer Sprache die für das Werk von O’Doherty bedeutsame Inschrift „ONE HERE NOW“. Am Abend folgt ein Festbankett zu Ehren des wiedergeborenen Brian O’Doherty, zu dem die in Irland lebenden Verwandten des Künstlers eingeladen haben. Nach seinem Ableben, so hat es Brian O’Doherty bestimmt, soll das Grab Patrick Irelands geöffnet werden, um die zu Lebzeiten vom amerikanischen Künstler Charles Simonds genommene „Totenmaske“ O’Dohertys, die bis dahin als jene von Patrick Ireland im Museumspark begraben sein wird, herauszunehmen und im Irish Museum of Modern Art in Dublin auszustellen.


Künstler, Kunstkritiker, Schriftsteller

Der 1928 in Irland geborene Brian O’Doherty lebt seit 1957 als Künstler, Kunstkritiker, Filmemacher und Schriftsteller in den Vereinigten Staaten. Er studiert zunächst in Dublin Medizin und gelangt mit einem Forschungsstipendium an die Harvard-Universität. Schon in seiner Studienzeit in Dublin malt und schreibt O’Doherty. Während er als Künstler seit 1972 unter dem Namen Patrick Ireland ausstellt, signiert er als Kunstkritiker und Schriftsteller weiterhin mit Brian O’Doherty. In den siebziger Jahren ist er Herausgeber der Zeitschrift Art in America, lehrt bis in die neunziger Jahre Film und Kunstkritik am Barnard College der Columbia University, New York, und veröffentlicht verschiedene Bücher zur amerikanischen Gegenwartskunst. 1967 erscheint Object and Idea. A New York Journal, 1961–67 mit seinen gesammelten Kunstkritiken, 1974 folgt American Masters. The Voice and the Myth. Neben kunsthistorischen Schriften veröffentlicht er auch belletristische Texte. 1992 erscheint The Strange Case of Mademoiselle P, 1999 der Roman The Deposition of Father McGreevy, der 2000 in die engere Wahl für den Booker Prize gelangt. Im deutschen Sprachraum ist O’Doherty durch sein Buch In der weissen Zelle (engl. Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space, 1986) bekannt geworden. Es versammelt Essays zum „White Cube“, die zuerst 1976 in der Kunstzeitschrift Artforum erscheinen und die angebliche Neutralität des weissen Galerie- und Museumsraums kritisch diskutieren. Die Bedeutung des Buches liegt darin, dass es an Werkbeispielen der Moderne und nicht im Rückgriff auf ästhetische Theorien die gemeinsame Entwicklung von Kunst und Präsentationsform im 20. Jahrhundert darlegt. Mehr als irgendein einzelnes Gemälde sei das Bild eines weiss gestrichenen, leeren Raumes kennzeichnend für die Kunst des 20. Jahrhunderts, schreibt O’Doherty. Die ideale Galerie halte vom Kunstwerk alle Hinweise fern, die seine Existenz als Kunst relativieren könnten. „Die Geschichte der Moderne ist mit diesem Raum aufs Engste verknüpft. Das heisst, die Geschichte der modernen Kunst kann mit Veränderungen dieses Raumes und der Art und Weise, wie wir ihn wahrnehmen, in Wechselbeziehung treten. Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem wir nicht zuerst die Kunst betrachten, sondern den Raum.“ Zu diesem Raum gehört der Betrachter, dessen „Beitrag zu dem, was er sieht oder erfährt, die Signatur ist, die alles erst authentisch macht“. In der weissen Zelle ist aus der doppelten Perspektive des Künstlers und Ausstellungsbesuchers geschrieben. O’Doherty zeigt, dass die Geschichte der modernen Kunst weitgehend identisch ist mit jener ihrer Präsentation. Die zahlreichen Studien zur Ausstellungsgeschichte, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, wissenschaftliche Symposien, neu eingerichtete Studiengänge für Kuratoren an amerikanischen und nun vermehrt auch an europäischen Kunsthochschulen sowie Monografien über Kuratoren wie die letztes Jahr erschienene Publikation zu dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933–2005), die den Katalog sämtlicher seiner Ausstellungen enthält und seine Autorschaft an diesen Ausstellungen in einen autobiographischen und geschichtlichen Rahmen zu stellen versucht, tragen dieser Entwicklung Rechnung. In Brian O’Dohertys präzisen Beobachtungen, seinen brillant geschriebenen und klugen Kommentaren zur New Yorker Kunstszene der siebziger Jahre hat sie einen Ausgangspunkt. In der weissen Zelle kann als früher Versuch gelesen werden, eine betrachterorientierte Ästhetik zu schreiben – was sicher zum anhaltenden Erfolg dieses Buches beigetragen hat – und diese zugleich einer Kritik zu unterziehen.


Geschichte des Künstlerateliers

Studio and Cube (2007), der zuletzt erschienene Essay von O’Doherty,bezieht sich nicht nur im Titel auf jenen frühen Klassiker, sondern ergänzt die damals angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Werk und Ausstellungsraum durch Beobachtungen, die den Arbeitsplatz des Künstlers betreffen, das Atelier. O’Doherty zeigt, wie das Atelier im Verlauf der Geschichte sein Aussehen und seine Ausstattung verändert hat, im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Motiv der künstlerischen Selbstreflexion und seit Duchamp selbst bisweilen als Kunstwerk angesehen wird: 1964 transportiert Lucas Samaras den Inhalt seines Wohnateliers von New Jersey in die Green Gallery in New York, um es dort für eine Ausstellung aufzubauen. Das Ambiente, in dem der Künstler lebt und arbeitet, ist nun an einem Ort zu besichtigen, wo Kunst ausgestellt und verkauft wird. O’Doherty erzählt weiter, wie der Maler Lowell Nesbitt, ebenfalls in den sechziger Jahren, mit einem Fotografen die Studios von New Yorker Künstlerfreunden besucht, um dann nach den dabei entstandenen Fotografien Gemälde zu malen, welche Situationen aus diesen Ateliers dokumentieren. O’Doherty erwähnt Yuri Schwebler, der bemalte Leinwandstücke aus dem Atelier von Sam Gilliam als eigene Arbeiten ausstellt. Er diskutiert die Bedeutung des Ateliers für die Pop-Art, insbesondere für Andy Warhol und Robert Rauschenberg. Das „Studio“ entbehrt die Intimität und Kargheit, welche seit der Romantik und vor allem im frühen 20. Jahrhundert charakteristische Eigenschaften des Künstlerateliers sind und dem Bild vom Künstler als einsamem, elitären, am Rande der Gesellschaft lebenden Wegbereiter des Neuen oder auch seinem Image als Bohemien entsprechen. In New York heisst das Studio nun „Factory“ und ist ein öffentlicher, bald sogar legendärer Ort. Andy Warhol verkehrt die lange Zeit als Privileg verstandene Einladung zum Atelierbesuch ins Gegenteil, indem er als Künstler und Person selbst in den Hintergrund tritt, das Studio aber als medienwirksamen Lebensort in stets welchselnder Besetzung inszeniert und aus der Distanz beobachtet. In seinem Essay erinnert O’Doherty weiterhin daran, dass sich im 20. Jahrhundert eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Kunstwerk zum Künstler und dessen kreativen Prozessen vollzogen hat. Es ist daher nur folgerichtig, dass das Atelier die Stelle des Kunstwerks oder sogar jene des Künstlers einnehmen kann. In den von Piet Mondrian und Constantin Brancusi nach künstlerischen Grundsätzen sorgfältig eingerichteten und wie künstlerische Werke komponierten Ateliers sieht O’Doherty die Prototypen des „White Cube“. Es ist kein neuer Blick auf die Kunst seiner Epoche, die dieser Essay entwirft, sondern der Versuch, das Atelier in den Zusammenhang von Kunst- und Ausstellungsgeschichte zu stellen. Mit Studio and Cube korrigiert O’Doherty die dezidiert betrachterorientierte, rezeptionsästhetische Darstellung von Inside the White Cube und führt den Leser zurück zum Künstler.


Maskierungen

Brian O’Doherty lebt seit den sechziger Jahren mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Barbara Novak, in New York City, einige Schritte vom Central Park entfernt, in einem 1905 erbauten Wohnatelier. 2007 beendete er einen weiteren Roman, nun widmet er sich wieder vermehrt der Malerei. Ein Pionier der Konzeptkunst an der Staffelei? Mit den Künstlern seiner Generation teilt O’Doherty die Überzeugung, dass die Überprüfung der künstlerischen Mittel und Möglichkeiten die „Überprüfung des sozialen und ökonomischen Kontextes von Kunst“ nach sich ziehen müsse. Im 1986 geschriebenen Nachwort zu seiner Schrift In der weissen Zelle stellt der Autor selbstkritisch fest – und wer könnte ihm heute widersprechen? –, dass das kommerzielle Kunstsystem aus dieser Überprüfung in Form der Vervielfältigung der Stile oder zuvor durch die Kritik der Konzeptkunst am Warencharakter der zeitgenössischen Kunst nicht nur unbeschadet, sondern sogar gestärkt hervorgegangen ist und zwar um den Preis der „Verdinglichung von Originalität“. Die Erfindung von Patrick Ireland ist nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt zu sehen, denn es bleibt offen, ob er ein Künstler, ein Kunstwerk oder lediglich eine Signatur ist. Auf jeden Fall ist Ireland eine von verschiedenen Maskierungen oder Identitäten Brian O’Dohertys, neben welcher der Künstler bislang ausserdem Mary Josephson, Sigmund Bode und William Maginn bekannt gemacht hat. Mary Josephson etwa ist eine Kunstkritikerin, deren Artikel in Art in America erschienen, als O’Doherty Herausgeber der Zeitschrift war. Der junge O’Doherty ließ Sigmund Bode Zeichnungen und Gemälde signieren und über sprachphilosophische Fragen schreiben. William Maginn ist ein bekannter irischer Intellektueller des 19. Jahrhunderts, der auch unter dem Namen „Morgan O’Doherty“ publiziert, ein Spieler und Trinker, der trotz seiner Genialität in Armut stirbt. Maskierungen ermöglichen ein komplexes Rollenverständnis, weil sie die Person des Künstlers ins Spiel einbeziehen und das Werk so vor einer allzu geradlinigen und biografisch ausgerichteten Rezeption schützen. Vielleicht verwendet O’Doherty selbst seinen eigenen Namen als Maskierung – dies jedenfalls legt das fotografische Selbstbildnis Five Identities (2002) nahe, das neben Maginn, Ireland, Josephson und Bode auch O’Doherty zeigt. Wenn Brian O’Doherty mit Studio and Cube zum Künstler zurückkehrt, so ist damit nicht der Künstler als Individuum gemeint, sondern der Künstler als Autor. Es scheint an der Zeit, die produktionsästhetischen Bedingungen, unter denen Kunst heute entsteht, wieder stärker zu thematisieren.

Brian O’Doherty, Studio and Cube: On the relationship between where art is made and where art is displayed, New York 2007
(= A FORuM Project Publication), $ 24.95

Erstveröffentlichung in Kunstforum International, Bd. 208, Mai-Juni 2011, S. 63-65.