Zonen der Ver-Störung, Steirischer Herbst, Graz 1997

Yvonne Volkart

Dass Mainstream-Ausstellungen gerne mit Gesellschaftsrelevanz operieren, dann aber vor politischen Implikationen oder konkreten Strukturverbesserungen zurückscheuen, hat mittlerweile Tradition und erfuhr mit der Exhibitionierung älterer Herren anlässlich der documenta X eine neuartige Variation. Zur Legitimation wird dann oft auf die symbolische Ebene von Kunst und die kathartischen Erfahrungsmöglichkeiten und Erkenntnisse verwiesen, die einem eine vor Angst und Schrecken berstende Symptomkunst ermöglichen könne. Dass die Stärke von Kunst tatsächlich auf ihrer symbolisch-imäginären Ebene liegen kann, ohne lediglich Symptome anzuzeigen, zeigt die von der Wiener Ausstellungsmacherin Silvia Eiblmayr im Rahmen des steirischen-herbst-Mottos "Körper in Gesellschaft" kuratierte Ausstellung "Zonen der Ver-Störung". Auch dieser Titel mit seiner signifikant fehlleistungsorientierten Vorsilbe suggeriert zunächst Heillos-Psychotisches, doch wird - wie auch aus dem Katalogvorwort hervorgeht - versucht, Symptom und Analyse zusammenzuziehen: "In diesen "Zonen der Ver-Störung" geht es sowohl um die Effekte der aktuellen politischen und sozio-kulturellen "Wirklichkeit" als auch um die Affekte, die diese bei den Menschen erzeugt." Das Projekt überrascht positiv nicht nur durch sein konzeptionelles, relativ neutrales Display und die eher analytischen Tendenzen der Arbeiten, sondern vor allem durch die innerhalb der eigenen Grenzen Realität gewordenen Einschlüsse: Ich habe selten ein Festival-Projekt erlebt, das so konsequent (feministisch orientierte) Frauen, junge und kaum bekannte KünstlerInnen aus verschiedenen Ländern, neue Medien und den Ausstellungsrahmen sprengende Arbeiten involvierte. Trotzdem effektuiert die Ausstellung letztlich weniger eine Störung im Kunstgetriebe (des Festivalcharakters des steirischen herbstes, des Festivalthemas, der Rolle, die sie als Hauptausstellung darin einnimmt, des Konsenses darüber, wer KünstlerInnnen sind), als dass sie die Ver-Störung als Option an die KünstlerInnen delegiert.
Die Rolle des Künstlers als Störfaktor spielte zm Beispiel Heath Bunting mit seinem Projekt "Meat Space", in dem er sich auf sogenanntes "SPAMMING" (Versenden ungebetener e-mails) bezog. Er verschickte e-mails an Hersteller von Dosenfleisch, in denen er den Produzenten unsorgfältige Verarbeitung vorwarf und sie darum bat, ihm eine neue Dose mit geniessbarem Inhalt zu schicken. Geplant war, die Büchsen in der Ausstellung aufzustapeln, was nicht gelang, da die Hersteller nur in Form verbaler Entschuldigungen und Versicherungen zur besseren Kontrolle reagierten. Bunting zieht eine Verbindung vom Wort "SPAMMING" zu "SPAM" (Marke von Dosenfleisch) und zeigt auf, dass die "Rhetorik lebensverachtend [sei], wie sie "Möchtegern-Virtualisten" verwenden; sie reduziert Menschen auf Fleisch." (Bunting in seinem Katalogbeitrag). Das Junk-food-Objekt hätte die Notwendigkeit von Verdauungsvorgängen auch für "Möchtegern-Virtualisten" gezeigt und damit betont, dass wir noch im realpolitischen Hier und Jetzt leben. Es hätte klargemacht, dass die Ökonomie des Cyberspace nicht unabhängig vom "realen" Warentausch funktioniert, sondern ein ziemlich realer Ableger desselben ist. Eine weitere überzeugende Arbeit, die sich aus feministischer Sicht damit beschäftigt, dass wir noch nicht in den Cyberspace abgedüst sind und unsere Identitäten nach Belieben wechseln können, sind die technisch perfekten Videoarbeiten von Kristin Lucas. Wiederholtes Thema, auch ihrer Performance anlässlich der Eröffnung, ist die reale Arbeitsplatzverschlechterung und Aussschliessung von Frauen durch Bio- und High Tech. Doch während in ihren Videos auf faszinierende Weise verschiedene gleichzeitig ablaufende Realitätsebenen ihrer Körper inszeniert und die Unterschiede zwischen natürlichem, technologischem und virtuellem Körper abgeschliffen werden, gerann die Performance (möglicherweise infolge technischer Pannen) zu einem etwas peinlichen Rührstück körperlicher Authentizität.
Die meisten in der Ausstellung gezeigten Arbeiten waren Video-, ein paar Multimedia- und Computerinstallationen, einige Fotografien, keine Malerei, dazu kamen etwa eine Radiosendung von Wally Salner, Fiona Rukschcio und Meike Schmidt-Gleim, ein Politcomix von Linda Bilda sowie im Lesezimmer zu konsultierende Internet-Projekte und CD-ROMs samt weiterführender Literatur - die mittlerweile auch schon kanonisierte Form, Gesellschaftsrelevanz zu behaupten, aber effektiv auch eine wichtige Form, den Ausstellungskontext zu vervielfältigen. Als Ausstellungsarchitektur diente ein Schulhaus aus dem 19. Jahrhundert mit langen Gängen und vielen kleinen Zimmern, die je einer KünstlerIn zur Verfügung gestellt wurden. Diesen klaustrophobischen Kontext des Pädagogischen machte sich Anne-Sofie Sidén zunutze und erweiterte ihn um das Klinische: Die Tür ihres von unten bis oben mit Seiten aus über 20 Jahrgängen eines psychoanalytischen Journals ausgkleidetes Zimmer schnappte beim Betreten ein, der Raum konnte nur durch einen andern verlassen werden. Gleichzeitig veranschaulichte ihr Material die stereotype Rolle, die Kunst zur Illustration von Psychosen hat: Die Werbeseiten strotzten vor Fetischen aus der klassischen Moderne, der einer Psychopharmaka-Werbung entnommmene Titel der Arbeit "Would a Course of Deprol Have Saved Van Gogh’s Ear?" macht die exemplarische Versöhnung zwischen Chemodeterminismus und Kunst-und-Wahn-Images deutlich. Umgekehrt dienen aber künstlerische Qualitäten auch, solange sie domestiziert bleiben, gerne zur Subjektbildung in unserer spätkapitalistischen Ökonomie, besagt Peter Spillmanns Installation "Das Business-Subjekt". Mit wenigen Eingriffen verwandelte er den ehemaligen Hort von Zucht und Ordnung zum multimedialen Manager-Seminarraum, in dem man an einem Video-Trainingsprogramm teilnehmen konnte und in kompakter Form die aktuelle Lektion von Kontrolle und Normierung lernen konnte: Kreativität und Leistungssteigerung, Stressmanagment und Polyoptionalität lauten die "persönlichkeitserweiternden" Individual-Gebote der Stunde.

Dass die Zonen der Verstörung als unsichtbare Ideologeme und Begehrensstrukturen zirkulieren, konstruierte Dorit Margreiter in ihrer ein imaginäres Dreieck beschreibenden Installation "Space off". Ein am Boden stehender Videomonitor, in dem sich zwei Paar Hände Parfumflacons zuspielten, ein an die seitliche Wand projizierter Lauftext mit Versprechen aus der Kosmetikindustrie und deren dialogischer Reflexion sowie das Bild einer Stadtmatrix für Comics bildeten die visuellen Eckpunkte. "Speziell in der Kosmetikbranche lassen sich zahlreiche Beispiele finden, in denen "Stadt" als abstraktes Konglomerat verschiedenster Projektionen und Bedürfnisse eingesetzt und kapitalisiert wird." Dass man als Körper konstitutives Bindeglied im Setting dieser projektiven Architekturen ist, wurde im Monitorbild mit einem 360 Grad Schwenk durch das Zimmer repräsentiert, der eine Identifikation mit dem Standort provozierte sowie dadurch, dass man sich, um alles lesen zu können, ständig drehen musste.

Wichtig in ihrer symbolischen und konkreten Geste waren die Arbeiten von Mathias Poledna und Club 2. Poledna nahm die Berichterstattung der europäischen Printmedien über die Rückkehr nach Italien des linksextremistischen, nach Paris geflohenen Theoretikers Antonio Negri. An einer Wand montierte er die Zeitungsausschnitte der ersten Tage auf kleine Tafeln und konstellierte diese "Bilder" oder "Schilder" chronologisch. Ein kreisender Scheinwerfer konkretisierte das Thema: Dass Negri mit seinem Schritt die Zeit für gekommen anzeigte, dass Italien sein Geschichtsbild revisionierte und die damit verhängten Strafaktionen rehabilitierte. Poledna inszenierte politische Geschichte als mediale Konstruktion (Tafelbild oder Bildlegende) und progredierenden Schritt (Negris Rückkehr als politischer Schritt nach vorn) und stellt damit heraus, dass Geschichte im Heute gemacht wird (Lichtkegel). Club zwei richtete ein Videozimmer ein und zeigte ein Tape mit Produktionen verschiedener Kulturschaffender inklusive einer Montageserie politischer Sendungen zum Thema Migration in Österreich. Ihre
Zusammen-Arbeit mit ins Thema Involvierten machte sofort klar, dass die Zonen der Verstörung das eigene Land trassieren, aber dass es die "Fremden" sind, die deren Signifikanten zu symbolisieren haben.
Weitere Arbeiten müssten genannt werden - etwa das in seinem Dokucharakter so erschütternde Video von Jasmila Zbanic aus Sarajewo, in welchem am Beispiel einer Schulklasse die Verdrängungen von Kriegstraumata sichtbar wurden, oder die witzig-provokative Installation "How They Want To See Russia In The West" des Russen Anatoly Osmolovsky - lebt die Ausstellung doch gerade von der Diversifikation der künstlerischen Ansätze: Diese führen nicht zu einem pluralistischen Bilderbogen in Sachen Verstörung oder wirken gar legitimativ, sondern sie bieten unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten. Natürlich hätte mich die Ausstellung noch besser überzeugt, wenn sie der Störung mehr Gewicht gegeben hätte als ihrer Vorsilbe, wenn sie diese "Zonen" konkreter gefasst und angepeilt hätte und der Eurozentrismus mit seinen Ökonomien als wesentlicher Störfaktor durch die Einbindung nicht-westlicher KünstlerInnen klarer artikuliert geworden wäre. Und natürlich hätte das Vorwort der Kuratorin bezüglich dieser Fragen stringenter sein können. Aber die Ausstellung ist auch ein Beweis dafür, dass sie als Medium noch nicht ausgedient hat, dass auch Festivalprojekte nicht nur sich selbst abfeiern und dass es junge KünstlerInnen gibt, die Verantwortung für ein Thema übernehmen können.