Roman Signer
"Ich bin ja auch erschreckt und verängstigt"


"Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Unwissenheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken."

Blaise Pascal, zit. in Thomas Bernhards "Atem. Eine Entscheidung"


In den letzten Jahren hat sich in Signers Arbeit eine kontinuierliche Wende vollzogen. Die heiter schwebenden, organisch-biomorphen oder maschinenähnlichen Konstruktionen der 70er und 80er Jahren wurden immer mehr durch Aktionen mit Sprengstoffen und Zündschnüren abgelöst, die an Härte und zerstörerischer Kraft zunahmen. Liessen sich schon aus seinen frühesten Objekten latente Sexualisierungen und Psychodramen herauslesen, so werden diese in den neueren "schnellen Veränderungen", wie er seine "Zeitskulpturen" nennt, ungleich manifester und ins Katastrophenhafte gesteigert. Der Witz der zweideutigen Objekte ist in eine Lust am spektakelhaften Untergang gekippt, deren tödliche Dramatik in nichts einem Barockdrama nachsteht, dessen Helden unter Schall und Rauch das Weltliche verlassen müssen. Während im Barockdrama der Tod des Bösewichts oder des Märtyrers die Ordnung der Welt wieder herstellt, fehlt hier das Versöhnende völlig. Der "Künstlerheld" Signer, der sich unter Einsatz des Lebens den wütenden Elementen preisgegeben und märtyrerhaft den symbolischen Tod im Explosionsfeuer erlitten hat, kehrt heil zurück, die Un-Ordnung der Welt besteht weiter, nichts hat sich geändert, die tägliche Monotonie ruft sofort zu neuen Abenteuern, zu neuen Aufbrüchen in die Spreng-Zonen von Alltags-Körper und -Geist auf.
In den Museumsausstellungen zeigt Signer (mal abgesehen von den noch "künstlerischen" Objekten) entweder die Relikte der tatsächlich stattfindenden Aktionen, oder ebensowichtige Modelle und Modellsituationen. Deren Brisanz resultiert aus der Phantasie oder dem Gedächtnis des Betrachters, der/die sich an eine ähnliche, reale Situation erinnert oder an eine solche mittels kommentierendem Video, Film oder Standfotografie erinnert wird. In diesen Ausstellungen - sei es aus Sentimentalismus, sei es als museal-kollektive Gedächtnis- und Trauerarbeit des verlustiggegangenen Einmaligen - wird deutlich, dass das Museum Kunststücke konserviert, deren "eigentliches" Leben irreversibel verschwunden, immer schon vorbei und tot ist. Immaginär nach-vollziehend, nach-denkend und rekonstruierend vermögen die Besucher den Vorgang nocheinmal zu be-greifen. Die Realität des musealen Kunstwerks ist die der Leiche, der Hülle und des Sargs, das Museum wird zur Gruft und der Künstler "könnte eigentlich schon gestorben sein". Signers Museumsstücke sind posthume Monumente. Das Leben - mithin die Explosion, die Nähe, das Sich-Nähernde , die Durchdringung des Starren - ereignet sich nicht hier und jetzt, sondern an einem andern Ort, zu einer andern Zeit, allein als Erinnerung. Insofern ist seine "Skulptur auf Zeit" eine Gedächtnisskulptur. Die Realisierung absoluter Präsenz wird durch die unendliche Leere und den Verlust des Bewusstseins hindurch gesucht, momenthaft erreicht und dennoch immer nur als tödliche Illusion vermittel- und verstehbar.
Diese ganze Kraft des Negativen, die von Signer für die Sehnsucht eines erfüllten Augenblicks aufgebracht wird, hat zu vielen Missverständnissen und einseitigen Rezeptionen geführt, und zwar deshalb, weil sie - wie das Motto von Pascal zeigt - zu Symptombildungen kollektiver Verdrängungen führte. Akzeptiert man jedoch Signers Negativität, dessen Misstrauen in die Ratio der Welt, das umgekehrt mit einer unauslöschlich romantischen Sehnsucht der Hingabe an die Elemente gekoppelt ist, kann man insbesondere die frühen "Kunst"objekte als Speicher eines Körperwissens interpretieren, das immer schon da wäre. Und man kann damit trotzdem Signers etwas zweifelhaften Begriff der "Natur" - das bedeutet alles, was nicht im und mit dem Intellekt des Künstlers geschieht - ins Spiel bringen.
Sowohl die früheren Objektkonstruktionen als auch die späteren Aktionen mimetisieren einen vor- oder unbewussten Körperzustand, der sich in Form von Energieschüben, Strömungen, Stauungen, Ausbrüchen und Kollapsen mitteilt. Diese Körper-Energien und Ladungen transformiert Signer in seine Objekte, die oft nur aus solchen physikalisch-physischen Spannungsverhältnissen und -wechseln, wie Anspannung und Erschlaffen, An- und Abschwellung, zu bestehen scheinen. Das Material selbst ist minimal, oft zur Hülle oder zum Gerüst reduziert und einer Sexmaschine nicht unähnlich, so etwa die Objektinstallation "Schweben" (1978), welche aus einer vertikalen Eisenstange mit einem horizontal am Boden liegenden Gebläse und einer herabhängenden PVC-Folie besteht. Wird die Folie mit Luft gefüllt, reckt sie sich wie ein erigierter Penis in die Höhe und senkt sich, wenn ihr die Luft ausgeht, erschlaffend zu Boden.
Mit der Zeit benutzt Signer immer mehr wenige banale Alltags-gegenstände wie Hocker, Tisch und Stuhl, deren körperliche Assoziationen deutlicher, aber auch - gerade weil es nur gewöhnliche, tote Haushaltgegenstände sind - grotesker werden. Der "Ballon mit Hocker" (1981) mutet wie ein Ge-schlechtsverkehr in Gottesanbeterinnenmanier an: Unter einem Hocker befindet sich ein runder Lufballon, der sich mittels Gebläse mehr und mehr mit Luft füllend ins Monströse wandelt, den Hocker zum Kippen bringt und sich bis zum Zerplatzen tintenfischartig über den hilflos daliegenden Hocker stülpt.
Immer wieder die schwebenden, platzenden Ballone, mit Luft oder Wasser gefüllt: Sie sind auch Bäuche, Brustkörbe, Leiber.

Mit den Aktionen wird die Person Signer Teil der Skulptur, sein Tod und seine Auferstehung geraten ins Blickfeld. Diese "Mutproben" und "Opfer" erinnern an transitorische Praktiken und referieren auf gewisse messianische Künstlertendenzen, in denen der Künstler als Demiurg und Märtyrer zum Verkünder einer anderen Wahrheit und zum Erlöser der Menschheit wird. Doch Signers Tragödie wird durch das Spektakelhafte ausgelöscht und ironisiert. Er ist ein Hofnarr modernster Prägung, dessen Scheitern dem Gelächter der Masse dient und die "Wahrheit" verhüllt.

Grablegung des Ich, Krise des Subjekts
Insbesondere die neuesten Aktionen sind als Wiederholungen existentieller Urängste und Triebe zu sehen, die den Menschen neurotisieren und lähmen oder, falls er sie bewältigt, an sich wachsen lassen und aus sich selbst befreien können. Die Rauchgas-Arbeit mit der Kabine verdeutlicht die tödliche Gefährdung einer so lebendsbedingenden Selbstverständlichkeit, wie es das Atmen ist. Die grauenhaft beengende Todesangst des Erstickens wird als Auslösungskraft für die Befreiung und Flucht nach vorne reaktiviert. Dieser Hochspannungsmoment führt zum Vergessen alles Wissens, alles dessen, was sich an Ballast um die Kreatürlichkeit des Menschen angelagert hat. Es ist ein Akt absolut persönlichen Verlusts, aber auch des Wiedergewinns eines Teiles von sich, der sich schmerzhaft in die satte Zone des Ichs einrastet und sich jäh als zum Ich gehörig manifestiert. Nur durch den Verlust dieser Persona strömt das Leben voll ein, kann Signer sich exemplarisch als Lebender ganz spüren. Unter seinem Namen entladen sich im Akt der Explosion die von einer ganzen Gesellschaft verdrängten, vergessenen, gestauten und praktizier-ten Perversionen, Masochismen und Sadismen: so viel orgasias-tische, wütende, tobende Lust und Ausser-sich-Sein, so viel Nähe und Fremdheit in einem, so viele Ichs...

Auch die düsteren Tunnelsituationen, oft verbunden mit unter-irdischen Wassersystemen, stellen neben den Explosionen transitorische Orte des Verlusts dar, aus denen der Künstler - einem Geburtsakt ähnlich - geläutert wieder hervorkommt. Nicht umsonst mussten in der griechischen Mythologie die Toten, um in die Unterwelt eingehen zu können, den Fluss des Vergessens überqueren. Das Kajak, in das Signer oft steigt und das er ins Wasser lässt, wird zum Sarg, aber auch zur Fruchtblase.
Signer betont immer wieder, dass nicht Zerstörung, sondern Energieumsetzung intendiert sei. Anders gesagt: Keine Veränderung ohne den Tod und den Verlust des Alten. Es fällt auf, wie sehr die von Signer für die Aktionen benutzten Gegenstände wie Kisten, Fässer, Eimer und Säcke sargähnliche Gestalt und Funktion haben, insbesondere, wenn er sie mit Wasser füllt und zum Explodieren bringt, sie durchlöchert oder durchschiesst. Zum Sarg gehört die Gruft: Signer bezieht auffallend viele Löcher, Gräben, Tunnels, Abgründe, leere Räume, Kabinen, Pyramiden, unterirdische Wasserkammern, Röhren und Zelte mitein, Orte, die dem Körper Behausung, Ruhestätte und Heimat sind. Auch Stiefel, Mütze, Eimer, Kajak, Ballon, Auto, Bassin sind neben Helikopter, Fahrrad, Tisch, Stuhl und Hocker nicht nur banale Alltagsgegenstände, deren primäre Bedeutung durch die Aktion teilweise verschoben wird, sondern es sind auch die den (fliessenden, das heisst sich bewegenden) Körper ein- und umhüllenden, ihn mimetisierenden, an ihn anschliessenden und ihn erweiternden Gegenstände, die ihm helfen, ihn instrumenta-lisieren und schliesslich maschinell ersetzen. In der Fahrrad-Aktion von Cham wird der Körper deswegen nicht mehr benötigt, weil ihn das leere Fahrrad gespenstisch ins Absurde steigernd, metaphorisiert.
Die Härte des Aufpralls, die der Lust am Verderben ein zynisches Ende setzt, vollzieht sich so nüchtern wie das allmorgenliche Erwachen aus dem Schlaf. Dem Drama der Nacht folgt die Banalität des Alltags. Dem Revolverschuss in die Röhre auf der Furka, der Freisetzung tötender Energien, entsprechen auf ihre trockene, seriöse und unbeteiligte Handlungsweise die modernen Methoden des Tötens, der Tod per Spritze, die Auslöschung der Welt per Knopfdruck. Der Untergang wird so schnell geschehen, er wird so weit weg, so unberechenbar sein, dass er - um ihn bewusst wahrzunehmen - immer schon geschehen sein wird. Was geblieben sein wird, ist der tödliche Schmerz, aber niemand mehr, dem die Relikte zur Erinnerung gereichten.
Demgegenüber steht Signers heillose Utopie, die Sprengung per Helikopter, die Rettung durch Verlust: Das unendliche Begehren desjenigen, der leben will und leben und leben!


Retrospektive im Kunstmuseum St. Gallen:
4. Dezember 1992 - 20. Februar 1994
Zur Ausstellung erscheint ein umfassender Katalog mit Werkverzeichnis.

Publiziert in Artis, Dez.1993/Jan.1994