Zürich

Oh Pain Oh Life. Kleines Helmhaus Zürich. 23. Oktober 1995

Nun hat auch Zürich seinen Pornoskandal. Damit die Gefühle des steuerzahlenden Publikums nicht verletzt würden, schloss am Abend vor der Vernissage der sozialdemokratische Stadtpräsident von Zürich, Josef Estermann, kurzerhand die Ausstellung "Oh Pain Oh Life". Ein paar Wandbilder und Fotografien der New Yorker Künstlerin Ellen Cantor erfüllten, so die hinzugezogene Sittenpolizei, den Tatbestand der Pornographie. Auch die kontaktierte Leiterin des "Büros für Gleichstellung von Mann und Frau" zeigte sich moralisch entrüstet, und der als Fachmann um Rat angegangene Vizedirektor des Kunsthauses Zürich, Guido Magnaguagno, kommentierte an der darauffolgenden Fernsehsendung "Ziischtigsclub" ein Foto aus der Ausstellung - eine Fellatio mit Lederhandschuh darstellend - damit: "Ich als Mann bin verletzt". In der Tat war nicht viel mehr zu sehen als ein paar (Anal-)Penetrationen und graffitiartig gezeichneter, SM-Praktiken nur gerade andeutender, Sex.
Der Fall ist exemplarisch für die Verstrickung von Politik und Moral, Kunst und Gesellschaft, Heuchelei und Empörung, die die Zensurmassnahmen so oft auszeichnet. Der sogenannte gesunde Menschenverstand darf ungestraft seine Sanktionen lancieren, und die Kunstszene muss, angesichts von soviel Beschränktheit, wieder einmal die Kunst zum a priori progressiv-reflexiven Event erklären. Ob Ellen Cantors Fotoassemblagen und comicartigen Wandzeichnungen, die im Kontext etwa einer Nicole Eisenmann oder Sue Williams einzuordnen sind, S/M- und Lesbensexualität wirklich so schlagend thematisieren, wie der Kurator Simon Maurer sagt, oder ob sie damit nicht vielmehr eine unreflektierte Blödelgeschichte startet, kann bei solchen Fronten überhaupt nicht diskutiert werden.
Wie konnte es in Zürich, wo zum Beispiel in der Shedhalle eine ganze Ausstellung zum Thema stattfand, zu dieser Moralintervention kommen? Das liegt primär an der öffentlich-politischen Bedeutung des Ortes. Das Helmhaus, unter der Leitung von Marie-Louise Lienhard, ist eine Institution der Präsidialabteilung der Stadt Zürich, das heisst, der Stadtpräsident ist in letzter Instanz für das Haus verantwortlich. Um das leicht abgestandene Ausstellungsprogramm etwas zu aktualisieren, kam vor zwei Jahren das Kleine Helmhaus, in dem Simon Maurer für carte blanche hatte, hinzu. Mit der Ausstellung "Oh Pain Oh Life" sollte nun Mauerers Initialperiode zu Ende gehen. Und da also geschah es: Dass er Marie-Louise Lienhard, im Wissen darum, dass sie ihm eine solche Künstlerin nie durchgehen lassen würde, nicht rechtzeitig informierte, dass sie zutiefst geschockt war über diese "schlüpfrigen" Bilder Völlig überfordert trommelte sie Estermann herbei, der mit der Schliessung der ganzen Ausstellung, mitsamt der anthropomorphen Watteskulptur von Sabina Baumannn und den Model-Fotos von Ugo Rondinone, glänzte. Ein harter Schlag, für die Beteiligten wie für die ganze Kunstszene, die sich aber letztlich allesamt schäfchenhaft ins böse Geschick fügten und vorerst nichts dagegen unternahmen. Glücklicherweise planen nun ein paar Künstlerinnen, darunter Sabina Baumann, verschiedene Veranstaltungen zum Thema Frauen und Sexualität, mit Schwergewicht auf S/M- und Pornoproduktionen. Natürlich findet das Ganze nicht im Helmhaus statt, weil da Sex als (lustvolle) Gewalt (unter Frauen) immer noch tabuisiert werden muss.

Yvonne Volkart