Myth.author. Ein neues Kompendium zum Thema net.art
Tilman Baumgärtel: [net.art]. Materialien zur Netzkunst.
Herausgegeben vom Institut für moderne Kunst, Nürnberg. 180 Seiten, ÖS 423.- ISBN 3-933096-17-0

»»net.art« dokumentiert zum ersten Mal die künstlerischen Aktivitäten, die durch das Internet ausgelöst wurden und zum Entstehen einer netzspezifischen Kunst geführt haben«, kündigt die Presseinformation Tilman Baumgärtels Buch »net.art. materialien zur Netzkunst« an. Eigenartigerweise unterschlägt damit das Institut für moderne Kunst die eigene Leistung, nämlich das bereits ein Jahr früher herausgegebene Jahrbuch ‘98/99 mit dem Titel »netz.kunst«. Neugierig gemacht schlägt man das Buch auf und wird alsbald gewahr, dass die sogenannten »Materialien« im Wesentlichen die gesammelten und auf Deutsch übersetzten Interviews mit Leuten aus der Netzkunst-Szene sind, die der Autor selbst seit Jahren auf mailinglists wie Rhizome, nettime und telepolis publiziert.
Nichts Neues also, was kein Problem wäre, wenn Baumgärtel das, wofür er sich verdient gemacht hat, thematisch gliederte und einer kritischen Reflexion unterzöge. Doch leider erliegt der Autor den diversen Kunstökonomien mit ihren Zwängen zu Neuerung, Mythisierung, Selbstimmanenz und Territorialabsteckung. Und das obwohl er sich in stets wiederkehrenden Schimpftiraden daran abarbeitet: »Darum habe ich mich in diesem Buch auf die Kunst im Internet beschränkt, um die vielleicht beste Eigenschaft des Kulturbetriebs auszunutzen. Die Kunstgeschichte legt im Vergleich zu anderen akademischen Disziplinen, die ebenfalls Zuständigkeit für das Internet reklamieren könnten (z.B. die Informatik), grossen Wert auf Historisierung und Dokumentation. Ich habe diese Qualität des Betriebssystems Kunst ausgenutzt, um wenigstens einen kleinen Teil der kreativen Explosion, die das Internet in den letzten Jahren ausgelöst hat schriftlich zu dokumentieren.» [Sourcode/Vorwort, 008]. Dem Himmel sei dank, dass diese »kreative Explosion«, die, wie Baumgärtel festhält, infolge ihrer Immaterialiät und der Ignoranz der Kunstszene beständig »von ihrem Verschwinden bedroht« ist, von ihm gerettet wird: »dann kann man wenigstens in den Interviews in diesem Buch nachlesen, dass da einmal etwas gewesen ist.« Auf Rhizome postete er sogar, dass seine Datenauslese eine kollektive Geschichtsschreibung sei: »Call it Open-Source-History, if you will, with me as the maintainer.«

Auch die (theoretische) Einleitung beginnt mit der nochmaligen Verklärung eines kunsthistorisch abgesegneten Übervaters. »Bill Clinton stole my idea«, zitiert Baumgärtel Nam June Paiks Behauptung, der erste gewesen zu sein, der den Begriff »information super highway« erfand, und macht ihn damit auch gleich zum Propheten des Internet.
Nicht nur betreibt er eine regelrechte Geschichtsklitterung, in der z.B. wichtige Vertreter von Fluxus wie Emmet Williams u.a., zu von der Kunstgeschichte missachteten Mail-Artisten werden, die anscheinend sogar Fluxus auf die Sprünge halfen, sondern er wertet auch simple Netzpraktiken, die nicht viel mehr als medienimmanente Spielereien oder unbeholfene Aufgüsse radikaler Kunstpraktiken der 60er Jahre sind, zu grossen Kunstleistungen auf. Damit wird er unfreiwillig zum Verfechter bourgeoiser konservativer Kunstideen, der genau jenen Menschen »Materialien zur Netzkunst« nachliefert, die noch halbwegs rechtzeitig auf den Zug der »kreativen «Explosion« im Netz aufspringen wollen, um dem Fantasma des durch neue Medien hervorgebrachten völlig Neuen hinterherzurennen. Da nützt es gar nichts, wenn das Buch suggeriert, dass Netzkunst nicht nur besser, sondern auch die grosse Befreiung vor dem kapitalistischen Kunstsystem sei. Baumgärtel verstrickt sich durch seine negativen Unterstellungen der Kunstszene gegenüber in hanebüchenen Behauptungen, eindimensionalen High- and Lowunterscheidungen und opportunistisch anmutenden Selbstlegitimationen: »Aber ich weiss, dass eine Dokumentation von den vielen anderen Dingen, die im Internet stattfinden, in der Form, wie sie dieses Buch unternimmt, keine Chance gehabt hätten.« Deshalb entscheidet er sich vorneweg uns zu sagen, was Kunst ist und was nicht.

Es ist schade, dass [net.art] die Chance einer fundierten Interpretation der nur angedeuteten und/oder mit URL’s versehenen Projekte so gründlich verpasst. Diesen Verlust machen auch die vielen Interviews, die teilweise wirklich ein lebendiges Bild der verschiedenen VertreterInnen abgeben, nicht wett. Denn der Autor hakt an wunden Punkten kaum nach und wechselt ständig das Thema. Auf die Entstehungszeit und das damalige Engagement bezogen, ist das verständlich, nicht aber, wenn man Jahre später extra ein Buch darüber herausgibt. Zu fragen bleibt, wem es etwas bringt, wenn man diese Community von spielerisch agierenden NetzpraktikerInnen, die sich zum Teil selbst net.artists genannt haben, zu grossen KünstlerInnen verklärt. Schliessslich garantieren weder vague Selbstdefinitionen noch Mythisierungen und medienimmanente Referenzen für radikale Kunstpraktiken. Vielmehr halten sie einen modernistischen Hochkunstdiskurs am Laufen, der durch Crossover und Ausbruch aus medialen Selbstreferenzen in Frage gestellt wurde. Nicht weil sie Kunst sind, sind viele dieser Netzpraktiken so wichtig, sondern weil sie medienspezifisch in soziale und kulturelle Gegebenheiten intervenieren und damit eine Reflexion über und Kultur von neuen Technologien produzieren. Eine der zentralen Voraussetzungen, um ins Kunstsystem aufgenommen zu werden ist die, dass man sich mit dessen Geschichte und Ästhetik auseinanderzusetzen hat. Das tut kaum jemand aus der Netzszene, wie man auch den Interviews entnehmen kann. Misst man die Netzkunst deshalb mit der »Kunstelle«, erscheint sie entweder als uninformiert und naiv, oder als frisch und hip. Schaut man die Netzpraktiken aber von ihrem kulturellen und sozialen Produktionscharakter her an, dann zeigt sich, dass hier Leute spezifische Formen entwickeln um gesellschaftsrelevante Fragen zu stellen, die sich lohnen, mit solchen aus dem Kunstfeld verglichen und auf ihren Diskurscharakter projiziert zu werden.