Gedanken zu Candida Höfers Zoologischen Gärten.
Kunsthalle Bern.

Ich hatte keinen Ausweg, musste mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. Immer an dieser Kistenwand - ich wäre unweigerlich verreckt. Aber Affen gehören bei Hagenbeck an die Kisten- wand - nun, so hörte ich auf, Affe zu sein. Ein klarer, schöner Gedanken- gang, den ich irgendwie mit dem Bauch ausgeheckt haben muss, denn Affen denken mit dem Bauch.

Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie


Der seltsam unangenehme Verdoppelungseffekt, den Candida Höfers photographische Arbeiten auslösen können, ist mir erstmals in der die Arbeiten seit 1984 umfassenden Ausstellung der Kunsthalle Bern bewusst geworden. Nach Serien um Serien der dichtaneinandergehängten, tafelbildähnlichen menschenleeren Innenraum- und Museumsphotographien, befiel mich im Innern dieses schönen, alten Hauses ein so körperliches, nach einem Ereignis lechzendes Unwohlsein, dass ich, suchend und fliehend, in einen in Windeseile dahinrasenden Sturmschritt verfiel. Durch die Räume hastend, blitzten fragmenthaft die Photographien auf, getreu die Situation kommentierend, deren Mit-Urheber sie waren: Wahr-nahm ich vor allem die unheimliche Leere, die menschliche Entvölkerung um mich herum. Diesem Zustand misst man gewöhnlich keine Beachtung zu, da er für zeitgenössische Kunstinstitute durchaus üblich ist und in der Alltagshektik gerne als Ruhe- und Sammlungspol willkommen geheissen wird. Doch mir erschien die Stimmung derjenigen einer Leichenhalle nicht unähnlich. Nichts konnte mich zur Besinnung bringen, weder die für mich neuen, seit 1990 entstandenen Photographien der Zoologischen Gärten, noch die schon wieder! menschenleere Malerei Shirley Wiitasalos im unteren Stockwerk, deren kollektive Aussenräume, wie etwa Parkplätze, meine depressiven Anwandlungen nur noch verstärkten. Das Gefühl totaler Verlassenheit und Kälte, das mich schliesslich am Ort festkrallte, kann man sofort als das des sich selbst entfremdeten, modernen Menschen des 20. Jahrhunderts wiedererkennen. Man kann sich aber weiterfragen, ob es nicht spezifischer mit einer typisch weiblichen Verfassung und Problematik zu tun hat. Es schien mir plötzlich klar, dass Frauen, deren eigenes Geschlecht bis anhin als Metapher des Fremden und Verschwundenen gedient hatte, keine Bilder zur Verfügung haben, wenn sie aus der Distanz, das heisst, ohne sich körperlich direkt identifizieren zu müssen, (weibliche) Zeitstimmungen zur Darstellung bringen wollten. Vor allem dann, wenn ich in Betracht ziehe, dass die Orte des Weiblichen immer deterritorialisiert und marginalisiert wurden, bleibt nur noch die völlige Leere und Desolatheit, die vielen Arbeiten weiblicher Künstler gemeinsam ist. Auch dass im Vergleich mit den ähnlich arbeitenden, männlichen Kollegen aus der Becher-Schule allein Candida Höfer konsequent den Menschen aus ihren Photoarbeiten eliminierte, schien mir kein Zufall mehr zu sein. Die Menschenleere in Höfers Photographien könnte man so verstehen, dass, ohne ein Bild des ins Negativ gespiegelten Anderen zu benutzen, einen notwendigen Abstand zu sich selbst als Frau und als Mensch gewonnen würde, die eine neue, offene Form von Identitätskonstruktion erlaubte.
Welche Rolle spielen dann aber die Tiere, und wo verläuft die Grenze zwischen einem Fremden, das spezifisch auf das weibliche Geschlecht gemünzt ist und einem Fremden, das den Gesamtkomplex dessen umfasst, was gemeinhin nicht in ein homogenes Gesellschaftsbild eingepasst werden kann? Während sich in Höfers jahrelanger Arbeit auf die eine oder andere Weise die Thematik der Andersheit durchhält, kann man kaum behaupten, dass Weibliches thematisiert würde. Weder in der Berner Ausstellung noch in einem der Katologtexte wurde an diesem Punkt eingehakt. Ich selbst habe mein Interesse daran merklich und merkürdigerweise immer mehr verloren. Höfer würde sich vermutlich entschieden gegen eine solche Interpretation wehren, zumindest deren Abwinken der immer wieder diskutierten Frage, ob ihre (und die der andern Becher-Schüler) Arbeit ideologiekritisch sei oder nicht, ist bekannt, besagt schlussendlich aber nicht viel . Möglicherweise führen Angst vor Vereinnahmung und vor neuer Ideologie zu solchen Antworten.
Die Photographien der Zoologischen Gärten machen meiner Meinung nach besonders deutlich, dass es bei Höfer nicht um das Fremde an sich oder das Weibliche als Teil des Fremden geht, sondern um das Zurschaustellen von Architektur als repräsentativer Zeichenkörper einer Gesellschaft, die daraufhin befragt wird, welchen Ort sie dem Fremden zugesteht und schafft.
Ohne die Formalisierung in Höfers Photographien zu übersehen - im Gegenteil, oft wird erst durch sie Bedeutung konstituiert - möchte ich nach der Besonderheit dieser photographischen Orte und deren Sinneffekte, nicht aber nach einem einzigen Sinn fragen. Obwohl Höfers serienmässiges Vorgehen den Charakter einer strukturalistischen Untersuchung hat, spricht sie im Gegensatz zum Wissenschaftler nicht aus, was sie meint, sondern belässt sie ihr Wissen im vieldeutigen Raum des photographischen Ab-Bildes. Ihre Photographien müssen entziffert, das Gemeinsame der Architekturen muss verglichen werden. Damit bieten sie entweder ein weites Feld für Spekulierer, oder aber das kritische Potential wird völlig negiert. So behauptet Gregorio Magnani: "Die individuelle Eigenart jedes Raumes, die von der Photographin offenbar aus einer Laune heraus getroffene Auswahl von Städten, Kurorten, Universitäten und Museen und die Art, in der jedes Photo von der speziellen Konfiguration und Atmosphäre des jeweiligen Raumes beeinflusst scheint, legen nahe, dass ein Vergleich der Aehnlichkeiten und Unterschiede nur ein begrenztes Resultat bringen würde." Wenn ich hingegen davon ausgehe, wie es die Zeichentheorie vorschlägt, dass es Bedeutung an sich nicht gibt, sondern sich erst aus der Differenz von zweien oder mehreren einstellt, dann kann ich nicht von einem eigentlichen, individuellen, nur so und nicht anders sich präsentierenden Raum sprechen, sondern jeder Raum ist immer auch als das Produkt eines anderen Raumes zu verstehen. Ich kann demzufolge fragen, wie es sich in einer Stadt wie St. Petersburg, in deren Zoo die Eisbären in einem schäbigen, grauen, engen Becken ihr Dasein fristen, im Gegensatz zu London leben lässt, wo die Pinguine in einem durchgestylten Becken herumtapsen. Nicht nur sieht Magnani in den Photographien Höfers keine Entblössungen ideologischer Funktionen von Raum und Architektur, sondern ihre Arbeiten scheinen seiner Ansicht nach solche sogar noch zu verhüllen! So
kollidiert Magnanis Meinung mit (m)einer semiotischen aufs Heftigste und bestätigt meinen Essentialismus-Verdacht, wenn er Höfers systematische, aber niemals gleiche Kameraposition nur gerade als "blosse Laune" bezeichnet, die "im allgemeinen nicht die angemessenste, aber die innerhalb seiner speziellen Raumorganisation natürlichste" sei. Was für Leute wie Magnani die nicht weiter zu analysierende, sondern schlicht gegebene Natur eines Raumes ist, war für den Semiologen Roland Barthes der Auslöser einer umfassenden Ideologiekritik. Für ihn ist nämlich jede vordergründige, nicht hinterfragungswürdige Natürlichkeit, jedes So-Tun, als ob es nichts Normaleres als dieses Eine gäbe - dieses sich ständig repetierende Schema musealer Ordnungen etwa - reinste Ideologie. Die Aufnahmen der Zoologischen Gärten scheinen mir besonders deutliche Beispiele für die versteckten Ideologien des sogenannt Natürlichen. Sie lassen sich auch als Anspielungen auf das Begriffsduo Natur-Kultur lesen, da sie die ganze Zoo-Natürlichkeit der Wild-Tiere als westliche Fiktion und kulturelle Architektur-Projektion ablichten.
Höfer hat, meine ich, einen verschärften Blick, und zwar für Bereiche, in denen "das Andere" mit "dem Selben" zusammenstösst. Sie entdeckt sozusagen die Leerstellen, die Lücken im Netz des gesellschaftlichen Raumes und lässt sie sich häufig als Komik oder grotesker Witz niederschlagen: die Pinguine im Zoo von Köln etwa, die, völlig ignorant, den Zuschauern den Rücken zukehren und zum Hintergrund des Bildes hinauswatscheln.
Ihre Arbeit hält sich in einem Dazwischen von faszinierter Teilnahme und kritischer Distanz auf. Die serielle Arbeitsweise ist als Instrument zur Sichtung des Materials weder Ziel noch Selbstzweck. Sie erlaubt die Rückführbarkeit des Gegenstands auf die gleichen Voraussetzungen und gestattet damit die Vergleichbarkeit des an sich Verschiedenen. Der Gegenstand wird niemals radikal der Kamera unterworfen und von ihr formalisiert, sondern behält immer den Anschein des säuberlich Dokumentierten und Unverfälschten. Dennoch fallen - wie übrigens auch bei Wiitasalo - die vielen seriellen Ordnungs- und Gittersysteme auf, die Raum und Photographie formal strukturieren. Die Zoologischen Gärten, mit ihren Käfigen und Gehegen, führen auf eine inhaltlich eindeutigere Art als die Gruppenraum-photographien das Thema des Eingesperrtseins weiter, sie scheinen aber insofern zu "normalisieren", als in Gehege hinein sowieso Tiere gehören, und die Photos sich distanziert geben.

Schon im 19. Jahrhundert hat der "Maler des modernen Lebens", Edouard Manet seine Bilder mit Gitterstrukturen gegliedert und damit einen Weg zu einer strukturalistischen Bedeutungs-interpretation eröffnet. Es waren sehr viele Frauen, die er hinter Gittern plaziert hat, zumeist ausdruckslos, melancho-lisch, beziehungslos. Er hat niemals psychologisierend einge-griffen, hat sich nie eingemischt, hat sich zurückgehalten und alles gemalt, das ihm von Bedeutung schien; er war frontal, nüchtern, niemals beschönigend. Erst die Zoobilder haben mir die Nähe von Candida Höfers photographischem zu Edouard Manets realistischem Blick bewusst gemacht: die subtilen Formen latenter oder manifester Käfige und Gehäuse, die Betonung erstarrten Leben, die momentanen Augenblicke, zu einem Bild gefroren. Eine gerade Linie lässt sich von den still verharrenden Frauen Manets zu den ausgestopften Tieren im Museum und den bewegungslosen im Zoo Höfers ziehen. Das Motto könnte ein psychoanalytisches sein: gleichschwebende Aufmerksamkeit, für alles und jedes, nichts ist unwichtig. Noch ist nichts klar. Der Sinn, die Sinne werden von den Betrachtern herangetragen.
Die Aufsicht verstärkt und trägt das Ab-Standhalten vom Dargestellten, die Distanz der photographierenden Frau zum photographierten Tier ins Bild. In der Hierarchie Mensch-Tier scheint sich zu wiederholen, was hundert Jahre vorher in der Hierarchie Mann-Frau zum Bild führte. Vom Flaneur zur Flaneuse. Nur keine Identifizierung, die Frau will mit dem Tier nichts mehr zu tun haben. Sie photographiert gar nicht die Tiere, sondern den zoologischen Raum, das Gehege, die "interessante" Architektur, deren repräsentative Bedeutung im Gegensatz zu den Gruppenraumphotographien nur funktioniert, wenn ein Tier drinnen hockt.
Bevorzugt werden die Orte geistig-körperlichen Genusses. Waren es bei Manet die leicht anrüchigen Vergnügungsbars der Lebemänner, so geht Höfer kulturbeflissen in Museen und Zoologische Gärten, früher in Restaurants, Kurhäuser und Wartesäle: Alltagsstätten, angehäuft mit kapitalistisch-bourgoiser Ideologie der Westwelt, ideell im 19. Jahrhundert entstanden, unter Stichworten subsummierbar wie Gross- und Kleinbürgertum, Freizeitkultur der Masse, Systematisierungssucht von Wissen. Es ist das Zeitalter des Hochkapitalismus, in dem nichts und niemand mehr sicher war vor dem bedrohenden Zugriff eines Wissenschaftlers, Imperialisten, Kolonisten oder eines Safarijägers der Firma Hagenbeck. Der Zoo als der Ort der Festsetzung und Kontrolle des Wilden und Exotischen par excellence stellte in seinen Anfängen auch Menschen aus.

Nichts davon bei Höfer, und doch dokumentieren ihre Aufnahmen präzise die vielfältigen Formen der Inhaftierungen. Sie stellt gleichsam eine Enzyklopädie kollektiver Bildvorstellungen zusammen, die sich die Westbürger von den wilden Tieren und deren Umgebung, vornehmlich der Dritten Welt, machen sollen, je nachdem, ob ein Stararchitekt am postmodernen Werk war, oder ein vermutlich unter Denkmalschutz stehender Zoo sich bis in die Gegenwart halten konnte. Das fremde Tier wird wie ein Kunstobjekt in ein Museum gesetzt und muss als Zeichen des Ungebändigten das Andere des westlichen System repräsentieren. Mag sein, dass diese Tiere wild und ursprünglich sind, in erster Linie markieren sie bei lebendigem Leib diese Attribute. Was aus dem System ausgegrenzt wurde, wird an einem zugwiesenen und domstizierten Ort gefahrlos geniessbar. Völlig vereinnahmt, sind diese Tiere lebendig tot. Die Photographien betonen ihre Bewegungslosigkeit sowie die absurde Kluft zwischen zeitgenössischer Architektur und dem archaischen Aussehen des Tieres. Die Vorstellung, dass diese komischen Larven, traurigen Leichen, unheimlichen Relikte aus mythologischen Zeiten Tiere sind, wird völlig zerstört: Sie sind menschliche Architektur.

Soll man sie als blosse Zeichen lesen, als Stellvertreter alles Fremden (Ausländern, Frauen, Kinder, Kranke), deren partieller, kompensatorischer Genuss dem ausgehöhlten Westmenschen Lust bereitet? Würde eine Bejahung dieser sehr traditionellen Metaphorik aber nicht bedeuten, dass Höfer denselben Gestus rücksichtsloser Aneignung wiederholt, der schon zu deren Zooidentität führte? Zeigt Höfer am Bild des Tieres, das sich gegen ihre Photokamera nicht wehren kann, was in der Welt passiert? Minimundus zoologicus? Dann wären auch in diesen Photographien die Tiere selbst bedeutungslos, während allein ihre Funktion als Eingesperrte, als Teilarchitektur wichtig würde! Zweifellos ist dies - unter anderem - der Fall. Auf ihre scheinbar teilnahmslose Weise packt Höfer sehr wohl zu. Ihre Aneignung verschiebt aber die herkömmlich-kulinarische Zoointention. Auf einer anderen Ebene haftet den Tieren durchaus noch etwas Fremdes, Uneinnehmbares an. Die rätselhafte Relikthafigkeit und Starrheit wird einerseits zum Schutz vor der Zudringlichkeit des entblössenden Blicks, und bedeutet andererseits den Einfrierungsprozess des photographischen Schusses. Die Ambivalenz in den Photographien Höfers bietet eine Möglichkeit, das Fremde in Ruhe zu lassen und es doch Bild werden zu lassen. Deshalb glaube ich nicht, dass die Photographien der Zoologischen Gärten negative Spiegelbilder der menschlichen Gesellschaft sind, wie es Ulrich Loock nahezulegen scheint: "Sie [die Photographien der Zoologischen Gärten] legen die Frage nahe, ob wir prinzipiell anders vorgehen, wenn wir Räume für Tiere oder für uns selbst konstruieren. Möglich, dass die öffentlichen Räume menschenleer photographiert werden müssen, das es unerträglich wäre, Menschen ihnen in gleicher Weise angepasst zu sehen wie Tiere dem Zoo." Räume werden immer nur für den Menschen, nicht für die Tiere geschaffen! Die Photographien zeigen diese Tiere gar nicht als so gut ein- und angepasste, sondern lassen sie - über ihre Repräsentationsfunktion hinaus - auch als uneinnehmbare erscheinen. Und sei es, indem sie aufhören, Tiere zu sein...

Ausstellung in der Kunsthalle Bern: 3.7. - 15.8.1993

Die Photographien der Zoologischen Gärten sind als Ausstellungskatalog bei Schirmer/Mosel, München 1993 erschienen und werden ab Mitte November in der Galerie Walcheturm, Zürich gezeigt.

Zürich, 30. Septemer 1993