Yvonne Volkart: Katalogbeitrag Urs Frei, Biennale di Venezia 1997

Fluchtlinien
Urs Freis Arbeiten sind weder Metaphern, noch verweisen sie auf einen latenten Inhalt. Sie sind antillusionistisch und konkret, abstrakt und schizoid in einem, gebündelte Intensitäten, Psycho- und Soziogramme, jenseits personaler Befindlichkeiten oder expressiver Ästhetik. Es sind Arbeiten, die - ohne Tautologie - ihr pures Arbeiten sind.

Auf der Einladungskarte für die diesjährige Frühjahrsausstellung in der Galerie Walcheturm, Zürich, einer Fotografie, war säuberlich zu einzelnen kleinen Paketen verschnürtes, horizontal nebeneinandergelegtes Verpackungs- und Malmaterial zu sehen. In diese farbige "Auslegeordnung" hinein, oder aus ihr heraus, ragten zwei längliche, farblich und formal analoge Stücke. Diese weissen Hosenbeine, gelben Socken und grauen, unverschnürten Turnschuhe waren unmittelbar Teil des Arrangements, weniger Person, als vielmehr Agenten von Beziehungen.(Ich schliesse nur deshalb auf den Künstler, weil ich zufällig seine Turnschuhe wiedererkenne und diese unbedingt einem Subjekt zuschreiben will). Die Einladungskarte zeigt, dass - wie die beiden französischen Schizo-Analytiker Gilles Deleuze und Félix Guattari sagen - "der Mensch [...] mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren." Die Dinge und Schuhe schliessen sich zu einer Maschine zusammen, deren Produktionsweise qua verbindende (konnektive) Ströme, verläuft. Das Programm: nicht Ausschluss, sondern potentieller Ein- und Anschluss. Die Funktionsweise: über konkrete materielle Prozesse und nicht über ideelle Codes. Hosen und Schuhe und Dinge sind Bild, und nicht der Künstler ist im Bild, oder gar Schöpfer eines Bildes. Die "Wunschmaschine" mit ihren Strömen und Partialobjekten (Fussmaschine/Paketma-schine) läuft, das Spiel im Zeichen der Lust kann beginnen.

Urs Freis (Kunst-)Produktion als Wunschproduktion im Sinne Deleuze/Guattaris zu interpretieren heisst zunächst, das Anti-Metaphorische seiner Tätigkeit in jenen umfassenden Kontext zu stellen, wo der Prozess der Produktion als primäre, sämtliche Sphären durchziehende, antiidealistische Kategorie gesetzt wird. Mensch, respektive Industrie und Natur sind voneinander nicht zu unterscheiden, sondern im gemeinsamen Produktionsprozess, dem "der Wunsch immanentes Prinzip" ist, vereint. Dh. die libidinöse Wunschproduktion ist jene primäre Real-Ökonomie des Unbewussten, der alle anderen Ökonomien unterworfen sind (was allerdings deren faschistoide Repression nicht ausschliesst, in welcher sich zum Beispiel der Mensch seine Unterdrückung wünscht). In dieser "Fabrik des Unbewussten" ist alles vom universellen Charakter der Produktion bestimmt.

Immer schon liess Urs Frei sogenannte Atelieraufnahmen zirkulieren: Sei es in Form kleiner Bücher oder eingestreuter Aufnahmen in Katalogen, sei es als Einladungskarten oder wie hier im Katalog, als einziges Dokumentationsmaterial. Diese Abbildungen haben nun ganz und gar nicht die Aufgabe, der "künstlich organisierten Situation im Ausstellungsraum" die "authentisch chaotische im Privatkontext" gegenüberzustellen, oder womöglich die einsame werkzeug- und bauschrottlastige Produktionsphase des Künstlers im verdreckten Atelier zu ästhetisieren, mythisieren oder im Gegenteil zu ironisieren. Freis Sichtbarmachung der Produktion hat weder etwas mit narzisstischem Künstlerkult an sich, noch wird damit der kapitalistischen Produktionsideologie brav Tribut gezollt und die eigene Produktivkraft mittels vermeintlich noch nicht zu Konsumfetischen "nivellierten" Objekten triumphierend zur Schau gestellt. Tatsächlich verwischt in diesem Fall der fotografisch inszenierte Einblick in die Produktionsverhältnisse die Grenze zwischen Produkt und Produktion: Aus den Fotografien lässt sich nicht erschliessen, was käufliches Objekt, was Abfall und was zur Herstellung benötigtes Werkzeug ist. Da ein isolierender, dekontextalisierender und Ordnung schaffender White-Cube-Kontext (noch) fehlt, kann die symbolische Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht gezogen werden. Also ist alles Sowohl-als-Auch, Produktion, wilde Wissenschaft der Bastelei, wie Claude Lévi-Strauss sagt. Das Endmaterial entspricht dem Ausgangsmaterial, und diese zusammengewurstelten Plastikbänder und ineinanderverkeilten Bretter gehören vielleicht doch nicht auf den Müll, obwohl man Sperrgut auf diese Weise ineinandersteckt. Urs Frei macht die Unterschiede zwischen Herstellung und Fertigprodukt nicht - weder hinsichtlich des verwendeten Materials, noch hinsichtlich ihrer Erscheinungsweise, alles scheint selbstvergessenes experimentelles Spiel. Genau deshalb funktionieren seine Wunschmaschinen auch im White Cube, obwohl man sie dort sofort zu symbolisieren sucht. Was im Atelier "authentische" Grenzverwischung ist (aber bereits im Foto artifiziell ist), wird im Ausstellungskontext künstlich inszeniert. Das tut nun dem Realitätseffekt keinen Abbruch, denn das Artifzielle ist nicht das Kriterium, sondern entscheidend ist, wie sich die Produktionsverhältnisse im Artefakt artikulieren. Stets trägt jedes der einzeln verkäuflichen Objekte die "gebastelte" Entstehung mit: Da ist etwas mit roter Farbe überstrichen, dort verstopft ein alter Lumpen ein Loch. Die Arbeiten erwecken den Eindruck, sich in die Teile aufzulösen und zu neuen Gruppen zu formieren - das ist ihr rekursives Programm: dass alles weitergehen könnte. Doch genau so rekursiv und bricolageartig entstehen sie: Frei nimmt bereits Produziertes auseinander und setzt den Prozess wieder in Gang. Nicht endlos, sondern immer wieder, unter veränderten Vorzeichen, mit Unterbrechungen. "Die Nicht-Vollendung ist Imperativ der Produktion," sagen Deuleuze/Guattari. Frei schliesst die Realität der Produktion, des Materials und des Entstehungsortes mit derjenigen des Kunstwerks kurz - er verlegt seine Fabrik/sein Spielzimmer in den Ausstellungsort und macht einfach weiter. Mit dieser Grenzverwischung lässt er sowohl jene Signifikantenkette explodieren, die das Spiel zur Kunst symbolisiert, als auch jene, die Kunst zum zweckfreien, von jeglichen gesellschaftlichen Intereressenfeldern unberührten, rein individuellen Spiel stilisiert. Sein libidinöses Kunstspiel ist immer schon von kollektiven Phantasien bevölkert.

Die Realität der Wunschmaschinen schützt also nicht davor, dass "im herrschenden System unserer Gesellschaften die Wunschmaschine allein als perverse ertragen [wird], das heisst nur am Rande des ernsthaften Gebrauchs der Maschine und einzig als nicht eingestehbaren sekundären Gewinn der Benutzer, Produzenten und Anti-Produzenten (sexueller Genuss, den Richter beim Urteilen oder der Bürokrat beim Streicheln seiner Akten erfährt.)" Die Kunst gestattet primären Genuss, damit wird sie aber zu jener Enklave, wo die libidinös-revolutionären und deterritorialisierenden Wunschmaschinen zwar laufen, jedoch von der kapitalistisch-reaktionären Maschine reterritorialisiert werden. Deleuze/Guattari glauben, dass gewisse Kunst und Wissenschaft, wenn sie wirklich vom libidinös-schizoiden Wunschstrom angetrieben werden, Fluchtlinien durch die Netze des Kapitalismus bahnen, das gesellschaftliche Feld besetzen und dazu geführt werden, sich revolutionär zu definieren. Letzteres ist bei aller Realitätspostulierung utopisch und bei Urs Frei (noch) nicht der Fall, wenn auch als Fluchtpunkt angepeilt. Zweifellos aber trassieren seine schizoiden Wunschmaschinen, die als kaputte funktionieren, mithin den reibungslosen Ablauf der Gesellschaftsmaschine zum Bersten bringen und "mikropsychische" Unangepasstheit realisieren, solche Fluchtlinien. Diese, sowie die marginalisierte Situation des Schweizer Jungkünstlers innerhalb des in Venedig offen gepflegten Nationalitäten-diskurses , sind prädestiniert, solche und andere (Re-)Territorialisierungen zu durchkreuzen.