Überleben und Exploraterrarismus . Den posthumanen Raum neu kartografieren
Yvonne Volkart



Das Gesicht der Humanität ist das Gesicht des Menschen/Mannes gewesen. Die feministische Humanität muss andere Formen tragen, andere Gesten zeigen; [...] Feministische Humanität muss, auf welche Weise auch immer, der Repräsentation und der buchstäblichen Gestaltung widerstehen und zugleich den Ausbruch in machtvolle neue Tropen, neue Sprachfiguren und Redewendungen, neue Wendepunkte der geschichtlichen Möglichkeiten wagen. Dafür brauchen wir, auf dem Scheitelpunkt der Krise, im Wendepunkt aller Tropen, ekstatisch Sprechende. Donna Haraway


Es gibt Orte und Zeiten, die sich dir einschreiben, dir eingeschrieben haben, immer schon, obwohl sie ausserhalb dessen stehen, was du zu sein glaubst. Du ahnst die geheimen Verbindungen, oder wirst ihnen nachträglich erst gewahr. Im Moment bist du nur getroffen von etwas, das noch keine Bedeutung hat. Schon als kleines Mädchen fürchtete ich mich vor dem Tag, an dem ich 36 Jahre alt werden würde. Ich stellte mir vor, wie das sein würde, eine Frau zu sein. Es wäre mein letzter Geburtstag im alten Jahrtausend und ich war sicher, dass ich das neue nicht erleben würde, so sehr glaubte ich, dass ein 3. Weltkrieg meine Möglichkeiten verengen oder alles auslöschen würde. Ich hatte Angst davor, leiden zu müssen und als zu spät Geborene betrogen worden zu sein um jene Welt, in der ich meine Sehnsucht nach Weite hätte ausleben können. So sehr wollte ich das Land, die Länder im Osten kennenlernen, wo meine Mutter herkam. Und auf den Mars wollte ich auch. Noch lebe ich, und ich reise ständig und fliege und lerne fremde Menschen kennen, um das aufzubauen, was meine Perspektive eines engagierten Lebens ist.

An jenem Tag des 24. März 1999 zeigte ich meinen StudentInnen unter anderem Marina Grzinics und Aina Smids für das slowenische Fernsehen produzierte Arbeit »Luna 10. The Butterfly Effect of Geography« . Das Video interessierte mich damals so wie jetzt, weil es dezidiert darstellt, dass es darin um eine andere als gewohnte Perspektive geht, um die einer Frau nämlich, eines Menschen aus einem postkommunistischen Land. Es handelt vom Wunsch nach Ausdehnung, Welteroberung und der Frage nach Überleben. Der Titel bezieht sich auf den ersten Mondsatelliten, den die Russen in den 60er Jahren in den Weltraum schickten, der Untertitel auf den Traum, neue Territorien als Produkte des kalten Kriegs zu gewinnen (Grzinic). Zu Beginn des Videos sehen wir eine Frau durch ein Fernrohr schauen - die Verdoppelung der eigenen Situation als weibliche Zuschauerin. Sie und ein Mann geleiten uns in einer Art Rahmensituation durch die verschiedenen window-, oder wie Grzinic/Smid sagen, hypertextartigen Bildsequenzen des Videos hindurch, welche Bilder progressiver yugoslawischer Filmemacher wie Emir Kusturica oder Zelimir Zelnik sowie Dokumaterial von Piratenradios u.a. zeigen. Die Schöne schweigt, während er über technische »Revolutionen« wie Internet, Kriege, die Rolle der Medien und die Perspektive der Menschen aus dem Osten spricht. Obwohl er den männlich dozierenden Part innehat, steht er manchmal plötzlich in Unterhosen da, oder wird zu einer Art technologischem Medium, das Ziffern an eine Tafel schreibt, während sie ihm die Worte eingibt. Das heisst, sein Körper besetzt auch eine weibliche untergebene Position. Sie wechselt ihre Kleidung ebenfalls zwischen Unterrock und Militäruniform. Mithin, die geschlechtsspezifischen und sozialen Matrixen der beiden sind temporär und widersprüchlich, komplex und gleitend. »Luna 10« kann als ein kritisches Plädoyer für die Appropriation und Umbesetzung neuer (Kriegs-)Technologien und Medien durch Frauen und andere subalterne Gruppen interpretiert werden. Die Frau aus dem Osten hat sich des Fernrohres (veraltete technologische »Prothese« und Phallussubstitut) bemächtigt. Sie will auch auf den Mond, und auch sie wird nur die Bilder übermitteln, die sie sieht. Ihr prüfender Blicks und die grünliche Farbe des Films lassen Analogien zu militärischen Infrarot-Überwachungsszenarios zu. Doch die Bilder, die eingeblendet werden, sind voller Konstrast. So steht sie z.B. zu Beginn mit teigverklebten Händen in dörflich-ärmlicher Umgebung da. Der Mann zitiert westliche technologische Überschreitungsfantasien, wir sehen dazu Bilder privater Häuslichkeit, Ländlichkeit, Hochzeiten, kommunistische Defilées oder die Erschiessung einer Frau durch drei Soldaten auf einem Feld. Die grünliche Farbe betont auch das Archivartige und Vergilbte dieses Filmmaterials, das aber durch die gleichzeitige Präsenz auf dem Band Aktualität beansprucht. Räume, Körper, Identitäten und Technologien werden dadurch als historische, mediale und ideologische Konstruktionen dargestellt. Alles interferiert mit allem, aber da sind ganz reale Räume und Körper, in denen alltägliche Momente wie Lust, Angst, Trauer, Freude erfahren werden. Mediale Konstruktionen von Orten und Körpern heisst gerade nicht, dass etwas nicht intensiv erlebt würde. »LIVE is a very simple program«, sagt der halbnackt dasitzende Mann voller Hohn in »Luna 10«. Aber das ist nur eine logische Perspektive unter anderen, und sicher nicht die, die er, der lieber ein Idiot sein will, anpeilt. Seine Überlebensphilosophie ist simpel und radikal in ihrem Wunschpotential: »Have you queued up for the virtual bread? As it is with technological revolutions in the West, you will get only bread crumbs. Better than nothing.«

Anlässlich ihrer Ausstellung im Winter unterhielt ich mich mit Milica Tomic darüber, was sie an jenem 24. März 1999 tat. Sie wollte ihr lange geplantes Video »Portrait meiner Mutter« (»Portrait von Marija Milutinovic«) drehen, weil es gemäss Wetterbericht das erstemal seit langem klar und sonnig zu werden versprach. Es sollte der Weg aufgenommen werden, welchen sie üblicherweise von der eigenen Wohnung im Zentrum Belgrads zur Wohnung ihrer Mutter am Stadtrand zurücklegt. Im Katalog zur Ausstellung schreibt sie: »Es erübrigt sich zu erwähnen, dass in diesen Tagen auch noch ein anderer seine letzten Vorbereitungen traf, um Belgrad zu seinem Objekt zu machen; natürlich jeder von uns auf seine Weise und aus seiner Perspektive.«

Posthumane Kondition
Es ist wichtig, diese unterschiedlichen Perspektiven herauszuarbeiten, sie miteinander in Beziehung zu setzen und auf ihnen zu beharren, nicht um ein pluralistisch-relativistisches Patchwork zu entwerfen, sondern um die Phantasmen von Gleichheit und die realen Gegensätze und Unvereinbarkeiten zu enthüllen. Was geschah mit mir als engagiertem Menschen, als ich in der Folge alle die persönlichen Statements der Frauen und Männer aus Belgrad im Internet lesen konnte und mir ihre Wut und Trauer am Telefon anhörte? Was tun damit, dass die Medien Räume und Distanzen schrumpfen lassen und ihre Technologien gleichzeitig Kriege führen, den tödlichsten aller Antagonismen? Was heisst es, eine engagierte Kunstvermittlerin zu sein, die über Gender im Cyberspace und ideologische Implikationen von neuen Technologien spricht und gleichzeitig diversen Eskalationen zusieht? Wie damit umgehen, dass eine solche Position, wiewohl in ihrem Gebiet der Kunstszene kritisch, zutiefst widersprüchlich ist?
»Wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum für alle hat. Wir fühlen, dass eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben. Die Welt, die ihrem Hang zu unseliger Verstandesschärfe den Namen *Fortschritt* gibt, trachtet, die Güter des Lebens mit den Vorteilen des Todes zu verbinden. Sie kauft Raum und Zeit als imaginäre Werte menschlichen Kapitals und schafft damit die Vervielfältigung ihrer Eingänge«, sagt Jacqueline, eine der fiktiv-realen Protagonistinnen Europas aus Eva Meyers und Eran Schaerfs bimedialem Hörspiel-Film-Projekt »Europa von weitem«. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob Jacqueline Perserin, Jüdin, Europäerin, Christin, arabische Israeli, Schauspielerin oder eine einbalsamierte koptische Frauenleiche ist. Und Piemanta, Jacquelines Grossmutter/ Schulfreundin/ Doppelgängerin erwidert: »Sie [die Welt] hat völlig das ökonomische Prinzip begriffen, demzufolge der Eingang das einzige ist, was zählt und sich bezahlt macht. Es geht darum, in einen Raum zu gelangen, der erst aus der Zeit entstanden sein wird. Da er nicht aufhört, sich zu vergrössern, wird er zu einer Weltausstellung, die keinen anderen Gegenstand als ihre Eingänge hat.«
Tatsächlich stehen viele trotz der forcierten Werbung für die behauptete Vielheit der Eingänge vor verschlossenen Türen: »Was wäre aus meiner Anstellung in der Medienklasse eurer Hochschule geworden«, fragt meine polnische Mitbewohnerin, «wenn ich nicht auch noch einen kanadischen Pass gehabt hätte?«

Das sind die paradoxen Räume und Konditionen des Posthumanismus, d.h. jener Welt, die sich, gegründet auf humanistische Ideale, in einem widersprüchlichen Prozess von deren Auflösung und gleichzeitiger Restitution befindet. Unter anderem deshalb, weil der Begriff des Posthumanen selbst so gespalten, ambivalent und vage ist - als Metapher für das Nicht-Natürliche schlechthin und als Indikator für das Ende humanistischer Ideale wird er sowohl von TechnodeterministInnen als auch von (Post-)Feministinnen benutzt - verwende auch ich ihn. Einerseits, um mich in die feministische anti-essentialistische und anti-androzentristische Tradition einzuschreiben, andererseits um ein Wort ins Spiel zu bringen, das, wie und wo man es auch einsetzt, immer gleichzeitig auch an einem anderen Ort ist, das heisst immer wahr und falsch, Hype und Utopie zugleich und damit nie wirklich festgelegt ist - ein Wort also, das das Paradoxe von Orten und Zeiten und die Temporalität von Perspektiven immer wieder neu verkörpert.
In diesen posthumanen Räumen läuft, wie Saskia Sassen sagt, die Internationalisierung des Kapitals unter dem Stichwort Globalisierung, während die Internationalisierung der Arbeit unter dem diskriminierenden und veralteten Begriff der Migration geführt wird. Während mit der Transnationalisierung der Wirtschaft die Gesetze der Nationalstaaten und die Rechte der darin lebenden Menschen übergangen werden können, sehen wir uns gleichzeitig mit einer Verstärkung von Rassismus, Nationalismus, Sexismus und Fundamentalismus konfrontiert. »Luna 10« zeigt - neben vielen post- und cyberfeministischen Theoretikerinnen wie Donna Haraway, Rosi Braidotti, Anne Balsamo, Carol A. Stabile, Katherine N. Hayles, dass auch auf der Ebene des Körpers trotz technikdeterministischer Schwelgereien und realen Grenzverschiebungen ideologische Differenzen wie Alter, Klasse und Geschlecht nicht aufhören, sondern verstärkt und rekonstituiert werden. Es zeigt aber auch, dass es Möglichkeiten gibt, in diese Prozesse zu intervenieren, respektive aus seiner/ihrer Perspektive mitzutun. Die Frage, was für Körper und Geschlechter die neu gezogenen Nord-Süd-Grenzen der internationalen Arbeitsteilung produzieren, ist ja das Thema von Ursula Biemanns »Performing the Border«. Dass es nicht einfach dieses schöne leichte Grenzüberqueren gibt, wie Berta Jottar in »Performing the Border« zu recht sagt, bringt auch der Netzkünstler Alexei Shulgin mit einer Aktion prägnant auf den Punkt. Shulgin war mit seiner Punkrockband (einem alten Computer) vom Tijuana Media Center für ein Konzert nach Mexiko eingeladen wurden, erhielt aber als temporär in den USA lebender Russe kein Visum. Aus diesem Grund veranstaltete er sein Konzert direkt am Grenzzaun. Er selbst betätigte sein Keybord auf der US-Seite, der Computer spielte auf der mexikanischen Seite. »Since borders have become more permeable for products and less passable for people, Shulgin’s computer is allowed to travel freely between Mexico and the USA without a visa«, schreibt Natalie Bookchin in der Presseaussendung. Shulgin benennt die diskriminierenden posthumanen Bedingungen und codiert sie einfach zu einem Fest um. Damit schafft er die temporäre Möglichkeit, die ausschliessenden Nord-Süd und Ost-West-Verhältnisse ins Absurde zu drehen, so dass sie ohne Subordination sogar genossen werden können. Shulgin inszeniert minimale Gesten, die das individuelle Überleben-Wollen plötzlich als etwas Subversives darstellen, als systemkohärente Antworten auf und Re-Aktionen gegenüber spezifischen ausschliessenden Bedingungen. In dieser Inszenierung von Anpassung und Fest liegt meiner Meinung nach ein politisches Potential, weil die Idee einer Party an einem dafür nicht vorgesehenen Ort symbolisch tatsächlich auf Überschreitung eng abgezirkelter Grenzen hin angelegt ist.

Insofern möchte ich die obig gestellte Frage - was es für meine Identitäten bedeutet, wenn die Räume, in denen ich mich bewege, zynisch und paradox werden - vorerst nur vorläufig und indirekt beantworten. Nämlich damit, dass ich nach Positionen, wie denen von Shulgin und anderen, suche und Kollaborationen anstreben muss, in denen das Paradoxe unserer jeweils unterschiedlichen Situierung und Perspektive als fundamentaler Ausgangspunkt für die eigenen Identitäten, Lebensentwürfe und Handlungsräume auf sich genommen wird. Ich möchte also diese Frage über den Umweg der Diskussion von Arbeiten beantworten, in denen KünstlerInnen spezifische Ästhetiken entwickeln, welche Identitätsentwürfe für eine Existenz im posthumanen Raum kartographieren. Ich möchte konkreter betrachten, mit welchen Mitteln einige KünstlerInnen »Erscheinungsräume« (Irit Rogoff, Hannah Arendt zitierend) konstruieren. Sie alle enthüllen das Diskriminierende und die Gewalt aktueller Grenz- und Technologiediskurse, ohne in Opfer- und Larmoyanzdiskussionen stecken zu bleiben. Wie die Hoffnung und den Glauben an die Wichtigkeit ästhetischer Identitätsentwürfe verbreiten im Wissen darum, dass an einem schönen Frühlingstag (fast) alles zunichte gemacht wird, so dass Kunstmachen als obsoletes Projekt erscheint?

Es ist kein Zufall, aber auch kein Grund essentialistisch und verallgemeinernd zu werden, dass die grosse Mehrheit der von mir ausgewählten KünstlerInnen Frauen sind. Erstens vertrete ich als Frau eine situiert weibliche Perspektive, und zweitens könnte das Bejahen der posthumanen paradoxen Konditionen im Begriff des Weiblichen, so wie er sich symbolisch artikuliert, bereits eingeschrieben sein. Denn wie die feministische Theorie generell und hier Teresa de Lauretis im besonderen aufzeigten ist der »Status [der Frau] als Objekt und Zeichen gleichermassen« immer schon widersprüchlich: »Das weibliche Subjekt ist gleichermassen FRAU wie Frauen.« Die nach de Lauretis als »weiblich« herausdestillierte Verbindung von Objekt- und Zeichenstatus gilt allerdings für andere subalterne Gruppen und »unheilige Allianzen« wie Mensch/Tier oder Mensch/Maschine auch und kann deshalb nachgerade als die posthumane Kondition schlechthin gelten.

Zentral bleibt die Frage, was für ästhetische Strategien entwickelt werden, damit wir als solche mehrfach codierte, hybride und differentielle Subjekte angesprochen werden und
uns re-formulieren können? Wie kann das spezifisch situierte Wissen von Kunst- und DiskursproduzentInnen unterschiedlicher Herkunft für Identitätsdiskurse, die nicht fixiert sind und auf neue Fixierungen hinauslaufen, genutzt werden?. Anhand Yvonne Rainers Film »Film About A Man Who« kommt de Lauretis zu folgendem Schluss, den ich zur Voraussetzung der hier diskutierten Ansätze nehme. Mit ihren Fragen von Post-Nation, Post-Kolonialismus etc. gehen diese Künstlerinnen allerdings über de Lauretis zitierten Diskussionspunkt von A-Frau-Sein hinaus, was dessen Erkenntniswert allerdings weniger schmälert, als vielmehr (einfach auch zeitbedingt) ausdifferenziert: »Genau in diesem widersprüchlichen Raum, in der gespaltenen und sich hintergehenden Verkettung seiner Grammatik des Erzählens und seiner bildlichen Mehrdeutigkeit, spricht der Film mich, Zuschauerin, als a(-)woman an. Hier bemüht sich der Film um meinen (un)weiblichen Blick und schreibt meine im Geschlecht befangene Subjektivität ein in das, was ich ein Erkennen des Verkennens nennen könnte; in die persönlich-politischen Widersprüche meiner eigenen Geschichte von A-Weiblichkeit.« Wichtig an dieser Aussage von Teresa de Lauretis ist für uns die paradoxe Position, in der sich das weibliche Subjekt befindet und aus der heraus es sich stets neu konstruiert. Als Frau geboren und erzogen, identifiziert sich das weibliche Subjekt immer wieder mit seinem Status als Zeichen und seiner Situierung als Frau, die sie ja gleichzeitig nicht sein kann, weil es phantasmatische Konstruktionen sind. Dieser Prozess des Verkennens ist gleichzeitig der Prozess ihrer vielen Konstruktionen von Subjektivität, respektive die eigentliche Voraussetzung dazu. Aber nur dann, wenn dieser Prozess als phantasmatische Setzung dekonstruiert wird - gewissermassen in der Verneinung dieses Optionsraumes - ermöglicht er dem weiblichen (Betrachter)Subjekt eine Möglichkeit zur u-topischen, temporären Identitätskonstruktion. De Lauretis sagt: »Durch die Dekonstruktion des narrativen Raumes erzeugt der Film einen kritischen Raum, in dem ich gerade als Frau und als A-Frau angesprochen bin.« Nur dann also, wenn das Subjekt als total paradoxes adressiert wird, kann es sich in diesem nicht fixierten »kritischen Raum« neu artikulieren.


Symptomwerdung
Ich möchte diesen Prozess erkennender Verkennung am Beispiel von Milica Tomic’ Video- und Netzarbeit »Ich bin Milica Tomic« erläutern. Tomic steht in einem weissen Unterrock da, sie erscheint strahlend schön, leuchtet überirdisch. Dann beginnt sie zu sprechen: Ich bin Milica Tomic, ich bin Deutsche. Sie wiederholt das in 65 verschiedenen Sprachen und Nationen. Ich bin Österreicherin, ich bin Amerikanerin und so weiter. Bei jedem Satz erscheint eine Blutspur auf ihrer Haut, so dass sie am Schluss völlig gezeichnet ist von Wunden, aus denen Blut strömt. Nach den 65 Sprechakten schliesst sich alles wieder zum vollkommenen Körper und beginnt von vorne. Eine nationale Identität und eine Muttersprache haben, sind in unserer Noch-Zeit der Nationalstaaten wichtige identitätsbildende Faktoren und konstituieren unsere Gefühle von Heimat und In-der-Welt-Sein. Die Sehnsucht danach ist dem Körper gleichsam eingeschrieben, macht sein Wunschpotential aus, das sich im unversehrten Körper äussert. Die Realität heisst aber auch, dass das Phantasma der Nation die Körper verstümmelt, dass sich das Subjekt als kontingentes, verwundbares und verwundetes artikuliert, und zwar unabhängig davon, ob die »eigene« Nation eine besonders blutrünstige ist oder nicht. Das Subjekt, als Abspaltung eines solchen Phantasmas, befindet sich immer schon im Paradox von Körper-und-Zeichen-Sein. Tomic’ unmittelbar aus den Sätzen resultierende Wunden enthüllen, dass jeder ihrer performativen Akt ihres zwanghaften Identitätssprechens ein Akt der Verkennung ist. Mir ihrer hysterische Mimetisierung des Wunsches nach nationaler Identität bei dessen gleichzeitiger Dekonstruierung durch die klaffenden Wunden verwirft sie aber den Wunsch nach (nationaler) Identität nicht einfach a priori, sondern vielmehr nimmt sie ihn ernst, sowohl bezüglich seiner subjektkonstituierenden als auch seiner traumatiserend-tödlichen Produktivkraft und treibt ihn in einem gleichsam rituellen Sprechakt erkennender Verkenntnis ad absurdum. Ihre hysterische Identifikation mit der ödipalen Position (sie ist verblendet und wird kastriert), in welcher sich die Befangenheit als Frau mit Eigennamen und als nationalstaatliches Subjekt entäussert, mithin ihre Aufführung eines symptomatisch Zu-einer-Wunde-Werdens bewirkt, dass auch wir als ZuschauerInnen aufgefordert sind, in diese mimetischen Prozesse einzusteigen und uns mir ihrer Rolle der völligen Verletzlichkeit zu identifizieren. Was bleibt, ist dieser ästhetische Raum, wo die Frau auf der Leinwand (und im Netz) als »ekstatisch Sprechende» (Haraway) perform(ier)t, und aus dem sich die Möglichkeiten eines ungleich multipleren und variableren Raumes ableiten, eines mythischen, utopischen, eines »Erscheinungsraumes«, in welchem »politische Repräsentation und Partizipation ausserhalb der traditionellen Institutionen der parlamentarischen Systeme» gedacht werden und stattfinden kann.


Topographien
Milica Tomic hat ihr Video »Portrait von M.M.« Monate später trotzdem oder erst recht gedreht. Den Weg zu ihrer Mutter, die in einem sicheren Gebiet wohnte, musste sie zur Zeit der Nato-Angriffe tatsächlich jeden Abend zurücklegen, so dass sie nicht nur die vor-läufige Protagonistin ihres Realität gewordenen zukünftigen Videos wurde, sondern die Realität ist auch die Simulation einer noch nicht stattgefundenenen fiktionalen Passage geworden.
In »Portrait meiner Mutter» kommen verschiedene Wege zusammen: Der Weg der Tochter durch Belgrad und der Lebensweg der Mutter, der nicht unabhängig vom historischen Verlauf Jugoslawiens ist: Die Mutter, im modernen Belgrad eine Schauspielerin mit Tendenz zu minimalistischer Avantgardeästhetik (gegen die vorherrschende Ästhetik des sozialen Realismus), zieht sich in den 80er Jahren, zur Zeit forcierter Nationalisierung also, von ihrem Schauspielberuf zurück. In einem Akt weiblicher Selbstkastrierung möchte man sagen, sagt sie mitten in einer Rolle, sie sei eine schlechte Schauspielerin und wendet sich in der Folge einer esoterisch-weltflüchtigen Form von christlicher Orthodoxie zu. In der Diskussion der drei Frauen zeigt sich klar, dass der als zutiefst persönlich erlebte Lebensweg der Mutter mit ihrem fatalistischen (d.h. sich politisch fatal auswirkenden) Glauben unter der Schirmherrschaft einer staatsaffirmativen Kirche parallel zur Reterritorialisierungspolitik Serbiens verläuft. Tomic’ Video wird damit zur Fortsetzung des von der Mutter abgebrochenen Wegs eines Künstlerinnenlebens voller Engagement und Kritik.

Die Geschichte der Mutter wird aber nicht bebildert oder kontinuierlich erzählt. Man hört im Off die Stimmen von Tochter, Mutter und deren bester Freundin, wie sie über das Leben der Mutter und die aktuelle Situation reden. Erst ganz am Schluss des 63-minütigen Videos sieht man Tochter und Mutter, wie sie sich in der Wohnung umarmend treffen. Das ist der Moment, wo die Stimmen verstummen, wo sich die beiden in einem Moment unendlich erscheinender Stille in die Augen schauen und umarmen. Dazwischen die körperlos-körperhafte Passage - zu Fuss, mit Bus und Taxi - durch die Strassen eines unerwartet unversehrten Belgrads, stumme Begegnungen mit Menschen - Fremden und Verwandten - mit subjektiver Kameraführung gedreht, die gleichsam Tomic’ unsichtbaren Körper in Bewegung ersetzt. In den Seh- und Hörfluss schieben sich in unregelmässigen Abständen Schwarzfilmsequenzen ein, die von undefinierbaren Störgeräuschen begleitet sind und, den diskontinuierlichen Gesprächsverlauf der Frauen unterbrechend, nicht nur nochmals alles in Frage zu stellen scheinen, sondern auch repräsentationslose Momente möglicher Eintritte in den videographischen Raum sein könnten. Es ist, als ob diese Momente uns Betrachterinnen aufforderten, ebenfalls durch diese schwarzen Löcher und undefinierbaren Geräusche hindurch zu gehen und unser eigenes Leben einzuschreiben, um das Leben als bios graphein sozusagen mental zu praktizieren. Dass uns Tomic einen Raum zur Verkörperung und Partizipation zur Verfügung stellt, macht die Installation nochmals klar. Neben dem frontalen Videoscreening platziert sie vier Diaprojektoren, die die Längswände paarweise mit Bildern füllen. Darauf sind u.a. Aura-Bilder aus den spirituellen Büchern der Mutter, oder Gebrauchsanweisungen für Tampons aus den 60er Jahren von der Mutter, die die Vorstellungen des weiblichen Körperinnern des kleinen Mädchen Milica widerspiegeln. Topografische Verhältnisse (Stadtraum/Galerieraum/weibliches Körperinneres) werden gleichsam zur Grundbedingung personen- und ortsübergreifender biografischer Einschreibung und Partizipation.


Orte des Überlebens
Der Ort gewinnt seine Bedeutung durch seine Funktion der Ver-Ortung von (realen und virtuellen) Körpern, mithin der Bildung von Identitäten. Anders gesagt, da wo KünstlerInnen mit der Realisierung des Begehrens nach Subjektwerdung operieren, spielen auch Orte in ihrer realen und symbolischen Bedeutung eine zentrale Rolle. Ann-Sofi Sidén z.B. untersucht die Situation von Prostituierten aus verschiedenen Ländern Osteuropas an der deutsch-tschechischen Grenze und hält sich v.a. in Dubi auf. Der spezifisch gewählte Ort ist aber lediglich ein Symptom in einer ganzen Reihe von Verkettungen. Für die Installation »Warte mal!« baute Sidén u.a. eine Reihe von Glaskabinen auf, je eine für ein Video, in die man sich, einem Peepshow-Besucher ähnlich, niederlässt und der Frau zusieht, die auf Sidéns (herausgeschnittene) Fragen anwortet. Damit simuliert Sidén einerseits eine reale Situation, in der eine Sexarbeiterin auf dem Monitor für einen männlichen Zuschauer agiert, andererseits rekonstruiert sie diese völlig künstlich und falsch (in realen Peepshows sind die Kabinen gerade nicht transparent und besteht die Handlung der Frau nicht im einfach Dasitzen und über ihr Leben reden). Diese Glaskabinen baute Sidén zweireihig auf, links werden die Interviews mit den Besitzern eines Stundenhotels und den darin lebenden Frauen gezeigt (Sidén lebte auch hier während ihrer einjährigen Recherche), rechts die Frauen, die in einem anderen Bordell leben. Erst mit der Zeit findet man heraus, dass gleiche Namen fallen, oder dass Leute, von denen man reden hörte, nun vor der Kamera sitzen. Die Konzentration auf den gleichen oder wenige Orte hat den Effekt, dass eine Situation vertrauter und durch mehrere Perspektiven gebrochen erscheint, so dass man selbst eine symbolische Position einnimmt: Und zwar sowohl die des Kunden, der/die nicht viel zu sehen, dafür umso mehr zu hören kriegt, als auch die der sitzenden und sprechenden Frau, die angesehen wird. (Sidén spricht fast ausschliesslich mit Prostituierten, Interviewsituationen mit einem Freier, dem Besitzer des Stundenhotels und Polizisten bilden die Ausnahme). Die Re-Konstruktion der Sprechsituation der Frauen qua Transparentboxen führt dazu, dass ich als ZuschauerIn unmittelbar in eine Doppelrolle verfalle, in der ich virtuell zu der werde, die ich doch gleichzeitig begehren muss, aber daran gehindert werde, weil sie ihre Fetischfunktion nicht erfüllt und Unerhörtes sagt. In dieser Doppelrolle, in der man plötzlich Komplize und Opfer ist und doch nicht ist, erfährt man die Gewalt und die Verletzungen, von der jede dieser Frau ihre eigene erschreckende Version erzählt, buchstäblich am eigenen Leib: Unfreiwillig hineingezogen (so wie viele dieser Frauen auch, die geraubt und verkauft wurden) besetzt man die prekäre Position erniedrigter Menschen, in der sich sogar der Unterschied von Freier und Prostituierter aufhebt, weil sie/wir alle (auch Sidén sieht man manchmal agieren) als AgentInnen in einer Reihe voneinander abhängiger Wirkungen und Ökonomien positioniert sind. Das stundenlang dauernde Anhören unterschiedlicher individueller Bedingungen enhüllt klar, dass es auch sich wiederholende Umstände gibt (Kapitalisierung, Transnationalisierung, Diskriminierung der Frau, Konstruktion der Grenze als Ort von Konsum und Überschreitung).
»Mein Interesse gilt der Gestalt einer gebrochenen und leidenden Humanität, die - ambivalent und widersprüchlich, in gestohlenem Symbolismus und unendlichen Verkettungen nichtunschuldiger Übersetzung, eine mögliche Hoffnung bezeichnet. Ebenso aber bezeichnet sie eine nichtendene Reihe mimetischer und simulatorischer Ereignisse, die mit den grossen Völkermorden und Massenvernichtungen der antiken und modernen Geschichte vermacht sind« schreibt Donna Haraway. In Sidéns Arbeit kommen solche posthumanistischen Züge, wie sie Haraway einfordert, zum Tragen. Hört man den endlos sich wiederholenden Geschichten zu, die die Frauen erzählen, so erscheint das wie das einzelne Gesichter gewordene Gemurmel anderer (historischer und gegenwärtiger) Erzählungen: die Frau als Opfer, als Ware, als migrantische Glücksucherin und als um ihr Überleben Kämpfende - aktualisiert für das Zeitalter neuer Weltordnungen und globaler Kapitalströme. Und dennoch steckt in vielen Geschichten Hoffnung: Frauen, die verschleppt wurden, konnten Geld verdienen und werden zurückkehren, andere machten sich selbständig und bereiten sich auf eine neue Existenz vor, wieder andere bauten sich ein gutes soziales Netz auf oder betrügen ihre Betrüger auf ihre Weise. Aus den verschiedenen Lebenswegen der Frauen, die sich einerseits eklatant wiederholen und sich andererseits vom individuellen Erlebnishorizont her markant unterscheiden, wird klar, dass die persönlichen Strategien des Überlebens - um es mit Biemanns »Performing the Border« zu sagen, »vielfältig und variabel» sind.


Mobilität als Metapher
Obwohl »Performing the Border« auch eine Videorecherche über Frauen an einer Grenze ist und Möglichkeiten weiblichen Lebens in subalternen Verhältnissen einer Neubewertung unterzieht, ist Biemanns Interesse ein ganz anderes als das von Sidén. Sidéns Annäherung an die Frauen ist von der Partizipation an deren Leben getragen. Sie verwendete Monate, um ihr Vertrauen zu gewinnen und diese Interviews überhaupt durchführen zu können. Aufgrund dieser körperlichen und privaten Involvierung zur Materialrecherche ist es konsequent, dass Sidén den Verkörperungen und den Möglichkeiten dazu im Ausstellungsraum soviel Gewicht schenkt.
Biemann geht kapitalismuskritischer und theoriegeleiter vor. Ihr geht es explizit um die Frage, welche Rolle territoriale Grenzen und weibliche Körper, mithin Geschlechtergrenzen im Kontext der neuen internationalen Arbeitsteilung spielen. Sie zeigt, um mit Saskia Sassen zu sprechen, die Frauen als Benutzerinnen der vom internationalen Kapital geschlagenen transnationalen Brücken. Die Ästhetik des Videos suggeriert unausgesprochen, dass der Grenzort Ciuad Juarez sowohl ein Ort der Ausbeutung der Frau im Zeitalter transnationaler High-Tech-Konzerne als auch ein Raum zur Konstruktion von Körpern, Geschlechtern, Identitäten, Nationen und Kapital überhaupt ist. Landkarten, Zäune, digitale Grenzlandschaften und Kontrolltechnologien visualisieren die territoriale Nord-Südkonstruktion und parallelisieren sie gewissermassen mit der von Biemann nur verbal angedeuteten Körperkontrolle und Überwachung, der die Frauen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Mithin, Körper- und territoriale Grenzen werden als Effekte ähnlicher Bedingungen dargestellt. Eine Ästhetik von Mobilität und Fluktuation, die begrifflich den Diskurs um Migration, transnationales Kapital und Industrialisierung umreissen, bestimmt den visuellen Rhythmus des Videos, der nur durch die Einblendung dasitzender sprechender Theoretikerinnen und Aktivistinnen ins Stocken kommt. Mit der Kamerafahrt aus einem Auto beginnt das Video, mit tanzenden Körpern endet es. Dazwischen die Bewegungen der in die Maquiladora strömenden Frauenmassen, die morgendlichen Busfahrten dorthin, die Autos und Reiter in der Wüste, das Ausgraben der toten Leiber, die flimmernden Bilder im Fernsehen, die virtuellen Detonationen von Minenfeldern, die Fahrt entlang der 5000 Meilen langen Grenze, das treibende Schlauchboot, die Lauftexte, die von Hand Wäsche waschende Frau, das die Strasse hinuntergehende kleine Mädchen: »Sie ist immer noch ein kleines Mädchen. Findet sie einen Weg, sich durch diese kulturellen Brüche zu steuern?, fragt die weibliche Stimme im Off. Die Bewegungen der Kamera, der Filmmontagen, der Menschen können als die ästhetische Inszenierung und Ineinanderschaltung eines Diskurses von Migration und Kapitalfluss interpretiert werden, der die verschiedensten Felder mittels dieser gemeinsamen Eigenschaft ineinanderschaltet und damit strukturell gleichschaltet: der Rhythmus des Fliessbandes, der Fluss des Finanzkapitals aus dem Norden, der Menschen aus dem Süden, die stampfenden und klatschenden Mädchen beim Schönheitswettbewerb, des weiblichen Begehrens, wie es sich in den Liebesliedern artikuliert, die in den morgendlichen Busfahrten oder in der Disco zu hören sind, der Hiebe und Stiche, denen die Frauen zum Opfer fallen: alles ist Effekt dieser Bedingungen von Bewegung und Grenzverschiebung, die voller Widersprüche sind. »Gender spielt für das Finanzkapital eine Rolle«, sagt ein ein Lauftext. Biemann enthüllt nicht nur das Leben an der Grenze als Set völliger Sexualisierung - wie Sidén - sie zeigt darüberhinaus auch, dass die (Re-)Stabilisierung von Geschlecht immer noch und immer wieder ein Mittel zur Kontrolle. mithin Produktion von Menschen ist. Mit anderen Worten, sie macht evident, dass die Multis durch die Arbeitsplatzbeschaffung für Frauen und deren Ermächtigung zu Konsumentinnen einer für sie aufgebauten Vergnügungsindustrie einerseits einen Prozess der Zerstörung patriarchaler Strukturen einleiten, der andererseits durch Reterritorialisierung unter Kontrolle gebracht wird.


Orte der Wünsche
Viele dieser Künstlerinnen wählen ganz bestimmte Orte zum Ausgangs- und Schnittpunkt ihrer Projekte. Das hat vordergründig mit dem Recherche- und Korpuscharakter dieser Ansätze zu tun: Man wählt eine bestimmte Situation und schaut sich dort genauer um. Biemann etwa nimmt die Grenzstadt Ciudad Juarez, Margreiter den Wohnort ihrer Tante und Cousine namens »Short Hills» oder Sidén Dubi. Das sind einfach auch einmal Strategien, um reale Kontexte herzustellen und auf der gelebten Realität verkörperter Subjekte zu bestehen. Alle diese Arbeiten zeigen diese Orte aber auch als Räume, in denen sich eine Vielheit an Wünschen versammelt, Räume also, die über ihren Authentizitätscharakter hinaus hochgradig symbolisiert, mithin konstruiert und imaginär besetzt sind.
Biemanns Titel »Performing the Border« sowie das Zeigen von Landkarten, Grenzüberwachung und -situationen spielt deutlich darauf an, dass es die Natürlichkeit eines Ortes nicht gibt, sondern dass er immer konstruiert ist, auch wenn dies seinen Realitätscharakter in keiner Weise schmälert. Milica Tomic’ gefilmter und passierter Stadtkörper ist ein anderes Belgrad als das von der Nato angegriffene oder von ihrer Mutter erzählte. Dorit Margreiters »Short Hills« betitelte Arbeit wiederum ist zwar der Name einer Vorstadt in New Jersey, in der sie ihre Tante und Cousine - eine chinesisch-amerikanische Familie - zu Hause besucht und zu ihren Lieblingssoups befragt, dieser Name erinnert aber ebenso an Titel von Soap Operas, von denen darin auch ausführlich die Rede ist. Der Lebensort ist sowohl real als auch medial konstruiert - ein Aspekt, den Margreiter dadurch verstärkt, dass sie »Short Hills« wesentlich um das Erzählen der Inhalte der Soaps sowie den von der Tante neugebauten TV-Room und dessen Pläne kreisen lässt. Darüberhinaus bettet sie die Apparatur ihres Videos auf ein riesiges Landschaftsmodell. Und das Video-Hörspiel «Europa von weitem« spielt offensichtlich mit dem Phantasma des Eurozentrismus, in dem Europa plötzlich »von weitem« gesehen wird, auch wenn sich alle die kosmopolitischen Frauen, die Europa spielen sollen, in Paris, im Herzen des kolonialen Europa gewissermassen, treffen: Europa ist nurmehr eine (alte) Konstruktion, die allerdings als wertvoll genug betrachtet wird, aus dem Todesschlaf gerissen und für utopische Neueinschreibungen neu aufgeführt zu werden. Auch in »Europa von weitem« ist die Thematik des Neukartografierens und Wiederbauens, die hybride Überlagerung von weiblichem Körper und Territorium offensichtlich: Das Video beginnt visuell mit dem Markieren eines Sportfeldes und dem Ausmessen magerer Körperteile einer älteren Frau (Elfriede Jelinek) während einer Anprobe bei einer Schneiderin, akkustisch hören wir von den unerwarteten Begegnungen der Frauen in Paris.

Es scheint, als ob der Ansatz von der performativen Konstruiertheit von Orten und Menschen es diesen Künstlerinnen überhaupt erst ermöglichte, eine Neu-Konstruktion respektive ein Re-Mapping der territorialen und körperbezogenen Räume zu denken. Eva Meyer und Eran Schaerf tun das z.B. dadurch, dass sie dieses abgefuckte und reterriorialisierte Wort Europa sowohl in seiner patriarchal-territorialen Bedeutung als weibliche Allegorie als auch in seiner neukartografierten Schengenland-Funktion ernst nehmen und in einem Akt völlig künstlicher, vor jeder Zementierung entfliehender Sprach- und Bildrekonfigurationen für eine mögliche Umbesetzung freischlagen, in der Frauen einen Platz haben.

Auch Dorit Margreiter operiert in »Short Hills« mit dem dekonstruktiven Re-Mapping stereotyper Zuschreibungen von Frau und Territorium, respektive Fau und Stadt. Ging es in traditionell-patriarchalen Entwürfen darum, die Fau als Land zu skizzieren, damit es ein (männliches) Subjekt besetzen und unterwerfen konnte, so geht es jetzt darum, Räume zu schaffen, in denen sich posthumane, postkoloniale, weibliche Subjekte frei bewegen können. Als Beispiel sei eine Szene aus »Short Hills« erwähnt, in der sich das Gesicht der Tante in einer Fotografie hinter Glas von Hongkong spiegelt, der Stadt, aus der sie vor über 20 Jahren emigrierte, um in den USA zu studieren. Margreiter spielt hier subtil damit, dass Hongkong deren frühere Heimat war, zu der sie, wie man im Verlaufe des Videos erfährt, immer noch eine grosse Affektion hat, die sie sich mittels Hongkong-Soaps stillt. Andererseits ist die Gleichsetzung von Frau und Stadt, wie gesagt, der patriarchale Mythos schlechthin. Auf diese Festschreibungsgechichten von urbanem Weiblichen und ureigentlicher Heimat spielt nun Margreiter mit einer solchen Videoeinstellung an, markiert aber auch eine Differenz dazu. Das Gesicht geht nicht auf in den Fassaden, sondern spiegelt sich abgehoben davon im Glas; und diese Frau spricht, sie spricht über die Stadt und dass sie sie aus guten Gründen verlassen hat. Und weil sie nicht diese Stadt visuell verkörpert, sondern in einer Trennung und Unterscheidung dazu steht, aber dennoch klar artikulierte Affektionen dazu hat, öffnet sich damit ästhetisch jener virtuelle Zwischenraum, der sich gleichsam in einem Umschlagen der Zuschreibungen eröffnet und in den sie sich, ohne eben die Stadt verkörpern zu müssen, einschreibt. Da die Frau nicht direkt von der Kamera aufgenommen ist, ist die Intensivierung dieses Moments, respektive das Zur-Erscheinung-Kommen eines Möglichkeitsraumes aber nur strukturell, respektive eine Spiegelung, oder vielleicht sogar nur eine Täuschung. Die Verkörperung der Frau im Spiegelglas ist eine Reflektion, respektive eine Reflexion auf die Möglichkeiten ästhetischer Strategien von Subjektkonstruktion.
Eine Ästhetik der Absenz bei gleichzeitiger medialer Verkörperung durch das Kameraauge im Stadtraum verfolgt ja auch Milica Tomic in »Portrait meiner Mutter«, oder nochmals etwas anders wird sie in der Kluft zwischen zu hörenden Frauenstimmen und alltäglich-touristischem Stadtraum in »Europa von weitem« inszeniert. Nur weil alles immer gerade an einem anderen Ort ist, kann der Traum sich an jenem virtuellen Ort realisieren und können sich die Frauen als Grenzgängerinnen, Nomadinnen, Migrantinnen etablieren, ohne im Klischee aufzugehen.

Einer von Ursula Biemanns virtuellen Orten des In-Erscheinung-Tretens ist die nächtliche Disco. Von ihrem Erscheinungsbild in der ruralen Stadtlandschaft der Grenzzone her wirkt sie zuerst einmal ebenso wie ein implantierter Fremdkörper wie die technoide Maquiladora. Zeigt Biemann die Vergnügungsstätte zuerst in all ihrer herkömmlich-brachialen Lärmigkeit, geht der Ton abrupt in einen elektronischen Ambientsound über, dessen strömende Durchlässigkeit so gar nichts mit den zu einer folkloristischen Musik tanzenden Frauen zu tun hat. Die in Blaulicht getauchte Atmosphäre und die Kluft, die sich aufreisst zwischen den sich bewegenden und exhibitionierenden Leibern und der Schönheit und Ruhe der Musik lässt plötzlich etwas anderes erahnen, das noch gar nicht da ist, sich aber hoffnungsvoll blau über die Szene legt. Der Raum der anderen Möglichkeiten tut sich auf inmitten jener Orte, deren Marktwert sich auf dem leeren Versprechen gründet, ein solcher Ort der Überschreitung und intensiven Begegnung zu sein. Im Zentrum simulierter, aber nichtsdestrotz erlebter Transgressionen wechselt der Ton und zieht uns Zuschauerinnen nochmals ganz anders hinein in ein nächtliches Treiben verkörperter »Ekstasen«.

Wege, Passagen
Kunstmachen im Zeitalter des Posthumanismus heisst also auch, in einer offensiven Weiterführung dekonstruktiver Praktiken auf ihr Suffix hin, aber im Bewusstsein um die Negativität und die Paradoxie aktueller Konditionen, die spezifische Situiertheit eigener Perspektiven in den Vordergrund zu stellen. Anerkennt man diese primäre und universale Relativität und Temporalität eigener und anderer Positionen, dann braucht man sich auch nicht mehr vor Stereotypen oder Essentialismen zu scheuen, wie das engagierte künstlerische Praktiken der letzten Jahre oft taten, sondern kann sie imitierend durchqueren und ad absurdum treibend für die eigene Widersprüchlichkeit umzucodieren versuchen. Skepsis ist angebracht gegenüber simplen Identitätsmodellen und heilbringenden Rekonstruktionsversuchen. Skepsis aber auch gegenüber todbringender Abarbeitung und damit Überbewertung an von feindlicher Hand möglicherweise territorialisierten Zonen. Strategien der Infiltration, Invasion und des auf Überleben hin konditionierten Dennoch sind angesagt. Strategien der Simulation und Konstruktion, die jede Naturalisierung von vornherein zertrümmern.

Es erscheint mir bezeichnend, dass eines der für mich hoffnungsvollsten Bilder überhaupt, die ich in letzter Zeit wahrnahm, eine von der Videokamera sehr lange festgehaltene Szene auf einem Flughafen aus »Europa von weitem« ist. Man sieht eine alte muslimisch gekleidete Frau wartend auf einem Gepäckwagen sitzen. Sie passt auf ein Baby und ein grösseres Kind auf, das spielerisch den Wagen hin und herschiebt. Da ist immer nur diese Bewegung des Hin und Her und dieses Zusammenkommen des alten und der ganz jungen Menschen, die orientalisch gekleidet sind in dieser panwestlichen Flughafenästhetik. Ein Bild, das sich in seiner Zusammenstückelung des Heterogenen einprägt, ein alltägliches Bild, das gleichzeitig als widersprüchliches herausfällt und eine Art Stillstand in der Bewegung produziert.


&Mac1 Diese Wortverdichtung prägte die Schriftstellerin Ginka Steinwachs mit Bezug auf George Sands Überschreitung weiblicher Grenzen. Es setzt sich zusammen aus lat. explorari: erforschen, lat. terra: Erde und Terrorismus.
&Mac1 Donna Haraway: »Ecce Homo. Bin ich nicht eine Frau und un/an/geeignet anders: Das Humane in einer posthumanistischen Landschaft.« In: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg/Berlin 1995, S.118
&Mac1 Marina Grzinic/Aina Smid: »Luna 10. The Butterfly Effect of Geography«, Ljubliana 1994
&Mac1 Ausstellungskatalog Milica Tomic. Galerie im Taxispalais, Innsbruck, Dezember 1999
&Mac1 Aus: Europa von weitem. Ein bimediales Hörspiel-Film-Projekt. Realisation: Eva Meyer/Eran Schaerf. Komposition: Inge Morgenroth. BR 1999
&Mac1 Saskia Sassen: Die Immigration überdenken: Eine internationale Perspektive. In: Inklusion: Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Hg. Peter Weibel/Slavoj Zizek. S. 107-116
&Mac1 Der Katalog zur Ausstellung »Post Human«, kuratiert von Jeffrey Deitch, ist ein Beispiel für die Fantasmen totaler Machbarkeit. Wichtig ist diese Ausstellung auch deshalb, weil sie das Wort Post Human populär werden liess.
&Mac1 Teresa de Lauretis: Strategien des Verkettens. Narratives Kino, feministische Poetik und Yvonne Rainer. In: Yvonne Rainer. Talking Pictures. Filme, Feminismus, Psychoanalyse, Avantgarde. Herausgegeben von Kunstverein München, Wien 1994, S. 48
&Mac1 An anderer Stelle führte ich zudem das Symptomatischwerden des Weiblichen mit seinen Metaphoriken des Fliessens und der Entkörperlichung als Zeichen des Posthumanismus näher aus. Yvonne Volkart: Kunst; Medien, Geschlecht. Gender in der Kunst- und Medientheorie. In: Gender Studies Reader, herausgegeben vom Frauenrat der Universität Konstanz, Konstanz 2000.
&Mac1 Teresa de Lauretis zitiert dieses Wort aus Yvonne Rainers Filmscript The Man Who Envied Women: »Ich kann nicht ohne Männer leben, aber ich kann ohne einen Mann leben. [...] Aber ich weiss auch, dass jetzt etwas anders ist. Etwas in Richtung einer Unweiblichkeit. Nicht eine neue Frau, nicht eine Nicht-Frau oder Frauenhasserin oder Antifrau, und keine platonische Lesbe. Wahrscheinlich ist Unfrau auch der falsche Begriff. A-Frau ist besser. A-fraulich. A-Weiblichkeit.« In einer Fussnote fügt de Lauretis jedoch an: »Aber das Gefühl, dass ‘es die Richtung der Unweiblichkeit’ ist, in die einen der ‘Feminismus in Höchstform’ führt, ist mein ganz persönliches und klarerweise nicht Yvonne Rainers Gefühl - jedenfalls noch nicht.» S.59 und S.63
&Mac1 Teresa de Lauretis, S.59/60
&Mac1 Irit Rogoff: Wegschauen. Partizipation in der visuellen Kultur. In: Texte zur Kunst, Dezember 1999, Köln, S. 111
&Mac1 Donna Haraway: Ecce Homo, S. 119
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&Mac1 Ausstellungen:
&Mac1 Milica Tomic: Galerie im Taxispalais, Innsbruck. 13.11.1999-9.1.2000 (mit Kat.)
&Mac1 Ann-Sofi Sidén: Warte mal! Secession Wien, 3.12.1999-16.1.2000 (mit Kat.)