Die Kamera, dieses Tochter-, dieses Mädchenauge
Zur Videoserie Home 1-3 von Sabina Baumann


Graue Unkenntlichkeit. Streifen, Rillen. Eine Tür. Kein Luftballon, kein Sack: Eine knallbunte Decke mit liegendem, schlafendem Kopf. Die Kamera tanzt, schweift in die Höhe. Und schafft Distanz: Ein ordentlich gemachtes Bett mit farbigen Decken. Und weiter tastet sich die Kamera, rückt ganz nahe an die Lampe, an das Tischbein, streichelt es lange, langsam, in gleitender Bewegung. Später wird man die Frau durch die Wohnung gehen sehen, sie wird das Geschirr, das wenige, spülen, sie wird essen, aus dem Fenster in den Hof schauen. Wir sind mit ihr, mit in der Wohnung, in den Gegenständen, in diesen Möbeln, die wir so noch nie gesehen haben, so nah, so leibhaftig, obwohl wir den Stil, diesen scheusslichen Möbel-Pfister-Unterschichtsstil kennen. Von unseren Müttern, Grossmüttern. Von unseren Nachbarinnen. Hier ist er schön.
Die Kamera, dieses Tochterauge, lässt die Frau und ihr Home zerfliessen. Völlige Zerrüttung eines möglichen Wunsches, diese Wohnsituation analysieren zu wollen. Es ist ein Hineingehen in die unartikulierten Zwischenräume dieses Unterschichtsstandards, gelebt von einer älteren Frau, und wie sich mit Home 1 und 2 zeigt, noch einer Frau und noch einer. Es ist, als ob sich diese Kamera zum Ziel gesetzt hätte, die Dinge und Frauen ihrer stereotypen Signifikanz zu entkleiden und alles nochmals neu und anders sagen zu wollen.
Diese Entkleidung ist keine Entblössung. Die radikale Nähe und Unmittelbarkeit sind nicht pornografisch. Das Eindringen in den Innenraum ist ein unaufhörliches Streicheln, eine Zärtlichkeit, eine Schönheit. Denn die Kamera bleibt immer aussen, tastet die Oberflächen ab, gleitet der Haut der Dinge entlag, verwandelt sie zu Körpern, in unendlicher Lange-Weile und schierer Ewigkeit. Mithin, dieser weibliche Innenraum, diese Seelenzone, ist immer ein Aussen, ein Zwischenraum, in den wir Betrachterinnen niemals eindringen können. Füllen ja, das können wir ihn vielleicht, in dem Masse, als wir bereit sind, mit der Kamera selbst diese Dinge zu werden. Ihn uns distanzlos anzuverwandeln in derselben Leibhaftigkeit und lebendigen Körperlichkeit, wie es die Kamera vorführt. Denn die Grenzen zwischen diesen Frauen und ihren Homes ist aufgelöst. Alles ist zu dieser traumartigen Zwischenzone, zu dieser hypnotischen Mikrowelt geronnen, in der es keine fixierte Innerlichkeit, keine feste Identität mehr gibt, denn alles gleitet, gleitet. Ein einziger Fluss, und ein fundamentales Allein-Sein. Deshalb der Beginn von Home 3 mit dem Schlaf: Um auf der Horizontalität der Bewusstseinsströme zu insistieren und die Extension des somnambulen Ausser-Sichseins als Auftakt zu setzen.

Sabina Baumanns Kamera gibt der Frau nach der Menopause ihre Sexualität und Autonomie zurück. Ihr Alleinsein, ihr Sich-Nichtdefinieren über Mann und Kind, ihr Sich-Gutes-Tun (schlafen, essen, herumgehen, Dinge berühren) und ihr einfach In-der-Wohnung-Sein re/präsentiert die ältere Frau als Körper voller Erotik, der mit sich selbst ist und sich selbst genügt, weil er sich grenzenlos in die Dinge hineingibt und also immer schon sexuell ist. Die Kamera wird zu einem wissenden Mädchenauge, das die Erotik dort entziffern kann, wo es die Männeraugen nicht (mehr) tun. Das Mädchen ahnt ein Geheimnis und will sich in dieses einschreiben wollen. Nur so kann man hier von Identifikationen sprechen, oder besser von Schnittpunkten und Überlagerungen, die sich von Darstellender zu Darstellender zu Aufnehmender und Betrachtender auftun. In diesen Zwischenräumen kann sich vielleicht das formulieren, was wir in seiner ganzen Tragweite und jenseits jeglicher Stereotypie weibliche Ex/istenz nennen können.

Yvonne Volkart

Yvonne Volkart, geboren 1963 in Zürich, studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte. Sie ist Dozentin für Sprache und neue Medien an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Zürich. Arbeitet als freie Kunstkritikerin und Kuratorin mit Schwerpunkt auf Cyberfeminismus, Technokörper und künstlerischen Widerstandspraktiken. Lebt in Zürich.