Allegorische Lektüren - versprengter Sinn
Zur Arbeit "Legende" von Studer/v d Berg
Yvonne Volkart

Die zwölf auf die Glasscheiben der jeweiligen Schaukästen gedruckten Sätze sind agrammatisch und falsch. Syntax, Flexion und Konjugation, mithin die primärsten Sprachkonventionen, fehlen völlig. Die meisten Sätze lassen sich als Beschreibungen von Situationen und Handlungen miss/verstehen, doch letztlich ergeben sie weder im einzelnen noch im Gesamten einen Sinn. Analog dazu verhält sich die Beziehung zwischen Text und dazugehörendem Bild. Jedes Bild fungiert als die nachvollziehbare Interpretation/Illustration/Spur des Textes ohne Sinn. Nun sinn-lich zwar, doch ziemlich redundant: Mühsam nur verdeckt diese Simulation von Sinn die tiefe Inkommensurabilität - "Nabel des Traums" (Sigmund Freud). Die Bilder setzen jene Personen, Dinge und Handlungen buchstabengetreu in Szene, die sich aus dem Text herausfiltern lassen. Es sind - abgesehen von der Wahl der formalen Bildsprache und deren vielfältiger Implikationen - blanke 1:1-Übersetzungen, die die unsinnigen Episoden visuell anschaulich machen.
Welcher Sinn kann darin liegen, Un-Sinn zur Schau zu stellen, den Mangel zu produzieren? Noch dazu auf eine mechanistische, scheinbar rationale Weise? Geht es etwa darum, die Hohlheit von Bildern, deren allzufrüh einleuchtende, unmittelbare (doch wissen wir: es gibt keinen Sinn ohne Mittelbarkeit) Sinn-lichkeit zu entlarven? Oder wenn wir den Titel dieser Arbeit "Legende" dahingehend verstehen, dass der Text die Interpretation des Bildes (und nicht das Bild diejenige des Textes) wäre, wie es bei Bildlegenden gemeinhin der Fall ist, wären diese Sätze nurmehr der unzureichende, saloppe und hilflose Versuch, etwas zu sagen, das in den Bildern schon und anders da ist. Verglichen mit den Möglichkeiten, die die Ambivalenz, die Rekursion des Bild-Text-Verhältnisses auftun, ist dieses Entweder-Oder zu arm. Die Richtung (sensus) der Sinne, vielleicht des Sinns der Legende, liegt vielmehr buchstäblich in der "Legenda", im zu Lesenden von Bild zum Text und umgekehrt, im Sammeln gemeinsamer Spuren. Ihre Redundanz ist dann nicht tautologisch, sondern provoziert durch die verbal-visuelle Verdoppelung und deren Differenz Aufmerksamkeit.

Betrachten wir Beispiel VII. Der Satz fällt auf, weil er zwei voneinander unabhängige Handlungen durch die Konjunktion "und" parataktisch miteinander vereint: "zwei mann in blau und weiss hose befehlen, dass architektin huldigen direktorin, und zwei mann in hose befehlen, dass klug gelehrter bekommen gross baum von frau mit hut". Der Satz enthält Verdoppelungen und Symmetrien, wobei die beiden Sätze "zwei mann in hose befehlen" auf der Bildebene zu einer zentralen Einheit zusammengezogen sind: Im Mittelpunkt des Bildes befiehlt je ein Soldat , dass je eine Frau je einer anderen Person etwas geben soll. Wiederholung, Verdoppelung, Redundanz und Symmetrie sind in diesem Bild die Mittel, Macht und Gewalt sowie sexuelle und klassenspezifische Differenz zu inszenieren. Die an sich absurde Situation, dass eine Frau einem Mann einen Baum geben muss, provoziert durch die eher stereotype Parallelaktion, in der eine Frau einer anderen eine Blume darreicht, sowie die modellhafte Klarheit des Bildes ödipale und soziale Assoziationen. Die "demokratische" Gesichtslosigkeit und Modellhaftigkeit der Figurinen verbirgt die sich qua Handlung enthüllenden Grenzen nicht, sondern präsentiert sie vielmehr als exemplarische, sich stets wiederholende Legende. Erst die Bebilderung macht die Präsenz latenter, komplexer Machtdispositive anschaulich: Im nächsten Bild sehen wir die aus der demütigen Haltung erwachten, nunmehr thronende Architektin, im Vollbesitz ihrer Insignien.

Die Lektüre dieses Schaukastens macht deutlich, dass die Legende keine lineare, von links nach rechts progredierende Geschichte ist. Zwar spielen Studer/v d Berg an die Linearität abendländischer Heilsgeschichten an, indem sie jedem Kasten eine Nummer geben und sie als aufeinanderfolgende Serie aufhängen, doch scheint dies eher zu deren Ausserkraftsetzung zu dienen. Diese säkularisierte Heiligenvita, diese a-linearen, a-grammatischen Episoden aus dem (Arbeits-)Alltag gewöhnlicher Menschen besteht aus Legenden (im Sinne von Bildunterschriften) und sind Legenden (im Sinn jener unerhörten Geschichten, die jenseits als Faktizität und Historizität Kommentare und Erklärungen liefern). Mit anderen Worten: Die Legende gibt nicht vor, jene einzige, sedimentierte Wahrheit zu sein, wie es die Geschichte tut, sondern sie ist immer nur erfundene Meta-Erzählung, die etwas anderes, Unerklärliches in Worte fasst.

Was ist die Legende aus unserer heutigen, rationalen Sicht anderes als geschriebener, erzählter Unsinn, das, was der Sinnhaftigkeit von Geschichte, von Historie (wie das Programm programmatisch heisst), niemals gerecht werden wird und was hier, in diesem Kontext, falsch, nämlich nicht von links nach rechts, zu lesen ist. Deshalb sind die Sätze Skelettsätze: Sie machen a priori klar, dass hier andere Richtungen einzuschlagen sind als solche auf die (rechtsgerichtete) Richtigkeit mit bedeutsamem Inhalt und Sinn hin. Ihre Unvollständigkeit zeigt, dass ihre Richtung/ihr Sinn (sensus) immer schon zerrissen und zerstückelt ist und als Legenda neu konstruiert werden muss. Dieser entsteht, wie bereits gesagt, aus den Details und Differenzen, den sinnlos angesammelten, aneinandergereihten und -geketteten Wörtern und Sätzen, nicht aus der Gesamtheit einer Geschichte. In der Legende verketten sich - im Gegensatz zur Geschichte, die von grossen Männern gemacht wird - kleine Ereignisse von unbedeutenden Wesen. Ihr Sinn ist, da auf dem Zufallsprinzip beruhend, Effekt, nicht Intention, aber von der subjektiven, sozialisierten Sicht der BetrachterIn geprägt.

So fällt mir zum Beispiel auf, dass Frauen zwar in der Überzahl sind und ihre näheren Bezeichnungen von kultureller Dominanz sprechen, dass sie sich aber bezüglich der Handlungen in eher geschlechtsspezifisch untergeordneten oder stereotypen Rollen als Hausfrau und Verführerin wiederfinden, während der Mann über Geld verfügt und sich als Lehrmeister gebärdet: "frau locken klein schlange mit süssigkeiten [...]; architektin versorgen hose in kiste, und klug gelehrter stechen krank mann; auf treppe in haus architektin schenken wein an klug gelehrter, und krank mann bezahlen geld an klug arbeiterin; architektin teilen geld mit klug gelehrter; auf treppe in höhle architektin hindern klug gelehrter beim verbrennen tee, dazu krank mann zeigen dick kind und klug arbeiterin, wie abstellen klein becher". Wie bereits am Beispiel VII gezeigt wurde, enthüllt meine Lektüre diese scheinbar sinnlosen Episoden als machtvolle, soziale Beziehungsgefüge, die mit Bezug auf die Kategorien Klasse, Alter, Geschlecht Sinn machen. Meine Auseinandersetzungen mit persönlichen Erfahrungen als Kind, Frau, Angehörige der nicht-privilegierten Klasse und Tocher einer Ausländerin befähigen mich, diskriminierende Sinneffekte in diesen sinnlosen, vordergründig sogar die Gynokratie privilegierenden Sätzen zu entdecken. Unterdrückung war nicht beabsichtigt, sondern vielmehr "von selber" entstanden. Allerdings enthüllt sich damit paradigmatisch der Mechanismus diskriminierender Effekte: In den wenigsten Fällen sind sie bewusst intendiert, sondern entstehen aufgrund spezifischer Konstellationen, bewusst nur denjenigen, die sich aufgrund ihrer (betroffenen) Situation auf solche Mechanismen sensibilisiert haben und die so gerne der Idiosynkrasie verdächtigt werden.
Mithin, die falschen Sätze werden zur Simulation dessen, was der Schriftsteller Ernst Jandl einmal als "Gastarbeiterdeutsch" geschaffen und bezeichnet hat. Sie spiegeln die Unfähigkeit und Hilflosigkeit derjenigen wider, dem Regelwerk der Sprache gerecht zu werden. Die Sprache des symbolischen Systems ist komplexer und detaillierter, als dass eine einzelne Person sich ihrer bemächtigen könnte: Ihren prägenden Sinn wird sie so oder so entfalten. Die falsche Sprache aber kann auch ein Zeichen dafür sein, dass sich einzelne einschalten, den Gemeinsinn verfremden und zugunsten ungeahnter Details entstellen. Was hilflos erscheint, wären die Stärke der Fremden, Bestehendes anzueigenen, mit der eigenen Situation zu mischen und in der Entfremdung oder Überblendung als andere, wirkliche Wirklichkeit zu kreieren.

Studer/v d Berg tun das, indem sie den Anachronismus einer vormodern allegorischen Bilderzählung mit modernsten Computerverfahren vermischen. Diese Überblendung von alt und neu montieren sie in Schaukästen - diese ebenfalls anachronistischen Modelle pädagogischer Belehrung. Konvergieren einerseits die pädagogischen Implikationen dieser "Kunst am Bau"-Legende mit der Funktion des Gebäudes als Ausbildungsstätte, so brechen andererseits deren Anachronismen mit denen der Bank, in ihren symbolischen und architektonischen Dimensionen. Im Konzeptbeschrieb halten Studer/v d Berg fest: "Handlungsabläufe, Personen, Gegenstände und Abstrakta sind so angelegt, dass sie auf elementarster symbolistischer Ebene die Funktionen und Inhalte des Gebäudes und seiner Benutzer, den Bau und seine Entstehung, sowie unseren Eingriff repräsentieren."
Die einzelnen Episoden der Legende auf die Situation eines männlich/weiblichen Künstlerpaares mit ihrer Arbeitgeberin - einer Bankausbildungsstätte - hin zu übersetzen, wäre eine symbolistische Ineinssetzung, die trivial würde und zudem nie restlos aufginge. Dennoch kann die Legende, wie Studer/v d Berg nahelegen, als allegorischer Kommentar dazu gelesen werden. Doch bleibt die Legende immer fragmentiert, allegorisch nicht im vormodernen, sondern im modernen Sinn: Der Sinn ist nur als zerstückelter rekonstruierbar. Er ist nicht gegeben, sondern muss, mit dem jeweils spezifischen Kontext der InterpretIn, gelesen werden. Die Legende ist zwar ein Modell, aber ein spezifisches.

Copyright: Yvonne Volkart, September 1997