Das Mädchen, das ich nicht (mehr) bin

Zu Pia Lanzingers Das Mädchenzimmer
- REVISITED

"Im Ultraschall hab' ich 'nen Flyer gefunden von dem DJane-Workshop. Und meine Freunde, die dabei waren, haben gemeint, Mensch geh doch da hin, das ist was für dich. Da hab' ich mir gedacht, warum nicht, obwohl das Motto ja Mädchenzimmer ist, und ich nicht mehr direkt ein Mädchen bin. Aber ich fühl‘ mich eigentlich ziemlich jung, also nicht so, was Leute sich unter 30 vorstellen." Diese legitimative Aussage einer der von Pia Lanzinger Interviewten zeigt, daß die Kategorie ”Mädchen” als Bestimmungsterminus doppelt relativ ist, so relativ, wie es Geschlecht oder Alter als Ordnungsgrößen sind. Das Mädchen ist noch nicht ganz Frau, weil sie zu jung ist, um eine zu sein, und doch ist sie Frau, weil ihre Geschlechtsorgane der Gesellschaft unauhörlich einflüstern, daß sie eine sei und also als eine solche erzogen und sozialisiert zu werden braucht. Die Bibliothek der MädchenMuster auf Folie im Fenster: Nesthäkchen und der Weltkrieg: Buchstäbliche Anleitungen zur Nachahmung, weil das Mädchen noch nicht jene Eigentliche, jene Originalfrau ist, die sie kategorisch werden muß. Das Mädchen, dem der Ort im symbolischen System verweigert ist, wird dafür, wie die Kissen mit Menstruationsartikelwerbungen Mädchen(t)räume aufzeigen, umso konsequenter zur Konsumentin weiblicher Sozialisationsartikel substantialisiert: Zu recht beklagt sich eine interviewte Teilnehmerin des Veranstaltungsabends mit ”Bravo” und ”Young Miss" darüber, wie sehr die Redakteurinnen den Abend zur Produktwerbung ihrer Zeitschriften mißbraucht hätten. Aus solchen mißlichen Erfahrungen heraus mag sich auch die in den Interviews öfters geäußerte Zufriedenheit und Überraschung der Mädchen über eine adäquate Darstellung in den Fotografien, gelungene Events und eine spannende Ausstellung erklären.
Das Mädchen, diese vor-läufige Kopie, lebt im Noch-Nicht, im ständigen Paradox sexueller Zuschreibung und Disqualifizierung, ihr Ort ist der Nicht-Ort, der Zwischenraum, dessen Lückenhaftigkeit - nehmen wir die Grrrls zum sprechenden Beispiel - in der buchstäblichen Wiederholung der Auslassung eines signifikanten Vokals - positiv als Chance angeeignet wird. Wie die Mädchen(t)räume, wo der Traum vom Raum in Parenthese steht, um als steter Einfall und Zwischenfall in die Lücke, als welche die Junge/die Frau im symbolischen System verankert ist, einzubrechen und sich horizontal auszubreiten. ”Spätestens dann”, schreibt Pia Lanzinger im Ausstellungskonzept, ”fällt den BesucherInnen auf, daß sie es sich auf den Kissen mit den Menstruationsartikelwerbungen bereits bequem gemacht haben”. Daß jedoch, wie eine Lehrerin berichtet, eine ihrer Schülerinnen unter den Augen ihrer Mitschülerinnen ein Kissen aus der Ausstellung klaute, weil sie diese langbeinige, Feel-Free-Schöne in der Straßenflucht in Form eines eigenen Kuschelkissens einfach haben mußte, mag ein Zeichen dafür sein, daß das Aneignen von Mädchen(t)räumen sogar dann, wenn sie bereits als werbestrategisches Verführungsmittel ökonomisiert sind, immer noch als widerrechtlich, als auf legalem Weg nicht machbar erscheint: Identifikation, Protest und Ermöglichung eines eigenen Ortes als illegitimer, kollektiver Akt der Überschreitung.
Das Mädchenzimmer - REVISITED ist die willkürliche, symbolische Setzung eines unmöglichen Ortes: Jenes Zwischenraumes, den nicht nur jede Frau, jedes ”Frauenzimmer” (wie bezeichnenderweise das weibliche Geschlecht früher genannt wurde und heute in Bayern immer noch ab und zu gebräuchlich ist, vor allem: so ein eingebildetes Frauenzimmer) temporär passiert, sondern der sie vielmehr als Ort der Produktion von ”jungem, weiblichem Geschlecht” recht eigentlich symbolisiert, wird hier zum physisch betretbaren, abgezirkelten Realraum, in dem es viel zu hören und zu sehen gibt. Pia Lanzinger versteht ihren Raum als Modell einer ”oral”, anzufügen wäre ”visual” history, oder besser herstory. Aber es geht nicht nur um die Geschichte der Erkenntnis, wie Frau/Mädchen über arbiträre Begriffe, Zeiträume, Handlungs- und Erzählmuster als Reales konstruiert wird, sondern es geht vielmehr darum, wie sich Frauen und Mädchen diesen Raum zunutze machen, sich mittels dieses Raumes als Konstruierte erkennen und sich dazwischen selbst re-konstruieren. Dieses Mädchen, das ich einmal war, das ich nicht (mehr) bin, weil ich eine Frau, ein Mann (im Mädchenzimmer können auch Männer nachträglich erkennen, daß sie den Ort des Mädchens eingenommen und schon wieder verlassen haben) bin, aber das ich jetzt gerade, nur jetzt, im Moment des Hörens der Rezeptionsgeschichten, des Betrachtens der Münchner Kunstraums-Ausstellungsfragmente, der alten Fotos, der Briefe, im Sitzen auf den Kissen, im Herumgehen im Raum, sein kann: Das Mädchenzimmer - REVISITED gestattet es, im Sich-Einlassen auf diskontinuierliche Rezeptionsmuster und fragmentarische Erzählstücke, die an eigenes erinnern und damit für einen kurzen Augenblick des Vergessens zu Eigenem werden, den paradoxen Status ”Mädchen” als mögliche Existenzweise lebbar zu machen.


Dezember 1998, Yvonne Volkart