Lesung Berlin, Galrev 1993/Wien, der Prokurist 1994

Angefangen hat alles, was Peter Z. Herzogs Textproduktion anbetrifft, mit Briefen. Vielleicht vorher noch: mit Titeln, für seine malerischen, zeichnerischen und skulpturalen Arbeiten, deren Korrespondenz Rätsel aufwarf. Aber die Briefe. In ihnen war der oder die Adressatin zwar wichtig, aber ebensosehr waren sie es bald einmal überhaupt nicht mehr. Sie gingen vergessen, tauchten wieder auf, in den Worteskapaden, den brieflichen Sätzen. Sie waren zweischneidig, diese Briefe, oder: Briefe mit bedingter Kommunikation. So entstanden die Texte, die sogenannt autonomen.

"Anhauch Klangfest Linien weggerettet" ist der Obertitel, das Motto vielmehr der heutigen Session. Diese Worte führen unmittelbar in Herzogs Sprachwelt ein, die ein "Klangfest" ist. Und doch - nur ein "Anhauch", zarter als ein Atemstoss, weniger als ein Hauch, eine atmende Berührung, eine An-rührung, momenthaft, festliche Festung des Klangs. Aber nie: Verfestigung. Die Linien sind weggerettet, verschwunden: "Niedergeschrieben verschwindet", heisst es in "Ein kleines Stück BuntGlas". Und trotzdem: als Weg gerettet. Die Sprache als Linie, als Raum, als "Sanatorium auf Weideplätzen". Nicht Ding, nicht Sprache, und doch beides zugleich: "Die beste aller Wiesen ist über der Erzählung gebaut".
Die Linienführung, als geographische Auslotung, als graphitische Einritzung, als bio-graphische Einschreibung: sie ist Herzogs Einspurung und Leibesinschrift: er zeichnet. Er ist ein Zeichner, ein Zeichnungsmacher, ein Zeichenleger. Auch wenn er malt. "Semiose" (d.h. Zeichenprozess), also "Semiose, überall und allerdings" heisst ein grosses Zeichnungs- und Sprachprojekt Herzogs. Teile davon stellte er im September an den Kulturtagen in Lana aus. Auf hunderten von losen Blättern und Kartons sind Zeichnungen, Skizzen, Sprachspiele, insbesondere Anagramme, Texte entstanden, die nach bestimmten Strukturen an die Wand geheftet wurden. Es sind akribische Kleinstformate einerseits, zusammen ein Riesending andererseits, das, ohne Anfang und Ende, der Zirkel- und Körperstruktur des Anagramms, Herzogs Herzstück, vergleichbar ist. Ein verzetteltes Monstrum, das ausufert, wuchert, alles und jedes in den Zeichenprozess miteinbezieht: ein Zeichengeschwür.
Oder eine Sprache, wenn wir unter Sprache (im semiotischen Sinn) ein System von Zeichen verstehen. Bild- und Sprachzeichen sind bei Herzog absolut gleichwertig. Zeichen jedoch haben immer eine Bedeutung, und sei sie latent oder mehrdeutig. Herzogs Zeichen sind seltsam verschlüsselt, der Normalsprache ähnlich, und doch abgehoben, der Sprache der Verrückten nicht unähnlich, oder der Surrealisten, die die Verrückten imitierten. Sie sind ver-rückt. Doch dieser Sprache da fehlt der surrealistische Reiz am Wahn, der avantgardistische Hang zum Exotischen, zum Spiel bar aller Vernunft. Diese Sprache ist durchzogen, gleichsam geimpft von Diskursen, ihr fehlt das Naive. Sie ist so krank, so schizo, wie jeder ein Schizo ist. Und doch ist sie eine Privatsprache. Gemeinhin nennt man das poetisch. Eigentlich mag ich dieses Wort nicht, weil es immer als vager Oberbegriff für alles Uneindeutige, Leise und Bildhafte verwendet wird. Trotzdem möchte ich von dieser Text- und Bildarbeit als von einer Poesie sprechen. Ich meine damit nun die Art und Weise, wie (und dass überhaupt) jemand Ende des 20. Jahrhunderts nocheinmal die Dinge mit einem "klangfesten" Zauberstab anhauchen will: "Kerbel beginnt zu blühen". Wie er die Dinge, die Menschen, die Sprache "wegretten" will vor dem Zugriff der Norm, ihrer Sprache und allgegenwärtigen Instrumentalisiernung. Als gälte es, das Tabu, die Verharmlosung der Poetisierung zu brechen und zu zerbrechen. Das hat Herzog mit ein paar Wenigen gemeinsam.
Herzogs Konzept der semiotischen Poesie oder poetischen Semiose steht im Widerspruch zu unserer Zeit, in der Weltoffenheit und -gewandtheit sowie political correctness gefordert werden. Es steht aber auch im Widerspruch zu nostalgisierenden Romantizismen.
Herzogs Arbeit ist eine riesige Marginalie. Wie kann aber eine Marginalie in einer Zeit, die Einmischung verlangt, Relevanz haben?
Ich warf Herzog mal vor, seine Arbeit sei nicht politisch. Er entgegnete: Sie sei anti-politisch, aber nicht a-politisch. Mit anderen Worten: Sie stützt sich auf den a-topischen Anspruch einer marginalen Literatur, deren Politik die Rettung vor der Prosaik ist: "Linien weggerettet".
Das Politische dieser Arbeit ist die Poesie, die Heiterkeit der Marginalie, das Kriegerische des Unverständlichen, die Lust an der Entstehung, an der Ent-stellung, an der "Weitung der Dinge", wie Herzogs Ausstellung in St. Gallen hiess.
Als Zelle atopischer Kommunikation kommuniziert er das Nicht-Verstehen, spricht er die Fremdheit von Sprache und Dingen aus. Poesie zersplittert die Logik des Einen, sie zersetzt die Sprache der westlichen Globalkultur. Poesie ist eine Marginalie. Ich kann sie wahr-nehmen, ich muss sie nicht wahr-nehmen. Ich kann sie verstehen, ich muss sie nicht verstehen.
1. "Auch hier könnte man sagen:
Das Ungeheuer der Unvernunft gebiert Träume."

("Ficklampa")

2. "Zeichen des Widerstands"

(Leier)

3. "Wohlverstanden, es darf auch ein Ende vorgezeichnet sein, nämlich dass er hier sozusagen nicht zu sagen haben wollte!!!! Man wird also von den Dingen erzählt!!! &&& et cetera.

("HERAKLIT 'RE-CY-CLING!'")

4. "das stete sich-entfalten 'semantischer kollisionen" (Alexander Flaker) scheint mir als prinzip einer sprachlichen verfahrensweise - sämtliche metaphern zu sprengen. das leiblich sinnliche 'sein' ist somit immer argwöhnisch - ja fatal.
gleichzeitg wird auch eine absolute 'sinnlichkeit' angestrebt, DINGE, doch die mimetische gestalt-werdung muss dabei zerstrt werden: diese wirklichkeitsschwelle gilt es zu überschreiten: knapp gesagt: gegen einen konzeptuellen inhalt.
herauswandern aus den inhalten!
aufbruch in ellipsen.
george braque: braun: blau: grün, ganz einfach?

("Garzinie worunter")

5. Empedokles-Zitat:
"Vereinzelt irrten die Glieder umher, gegenseitige Vereinigung suchend"

"(TextWolke)"

6. "Klang der Worte, als Erinnerung an die Sprache"

("SyrinxQuasar")

7. "Ja, und noch ein kleiner Sprung zu Ignatius von Loyola:
'Nicht vom Grössten umschlossen sein, sondern vom Kleinsten ist göttlich"

("Ein kleines Stück BuntGlas")

("Wie Waldestief & Para")

8. "Der Begriff Dichtung hat nun endlich ausgedient. Wir sprechen aber besser von Textstrukturen organischer Energie: Und worüber man nicht sprechen kann, darüber machen wir Tai-Chi."

("TU")
("Verbucht")

9. "Der Begriff Semiose in der unendlichen Singularität und Synchronizität. Scheint das Nicht-Erscheinende durchzuscheinen in Gestalt eines Besetztzeichens der Sinnabwesenheit?"

("Bemerkungen über das Unbemerkbare")

("SILBENTRAEUME")