Konrad Tobler

Alice im Pixelpark


Seit nunmehr zwanzig Jahren bietet das Festival Ars electronica in Linz einen aktuellen Überblick über den jeweils neuesten Stand der künstlerischen Auseinandersetzung mit elektronischen Medien, neuen Technologien und deren gesellschaftlichen Auswirkungen.

Rebecca Allen ist Professorin am Department of Design der University of California, L.A., und Künstlerin. Ihre interaktive Computerarbeit "Bush Soul", mit der sie am diesjährigen Festival Ars electronica, dem Mekka der Cyberpilger, vertreten ist, basiert auf einer hochentwickelten Software und versteht sich gleichzeitig als Kunst. Damit ist sie repräsentativ für viele der hier gezeigten und prämierten Werke. Diese versuchen, avancierteste Technologien für eine neue künstlerische Grammatik fruchtbar zu machen. In "Bush Soul" kann der Benutzer-Betrachter mittels eines Joysticks seine Seele in Avataren, künstliche Stellvertreter, hineinversetzen, die er dann durch eine virtuelle Landschaft dirigiert. Die Avataren gewähren der Benutzerseele allerdings nur kurzzeitig Gastrecht, ausserdem haben sie einen "Charakter" und machen nicht alles, was der Joystick-Dirigent will. Der Joystick zuckt und ruckt dann heftig in der Hand.
Die smarte Professorin kommt aus dem Computergame-Business. Doch ihr Interesse gilt neuen, eher reflexiven Anwendungen, die die Wettkampszenarien der Games überwinden. Zweieinhalb Jahre Arbeit zusammen mit einem Team von Assistenten, die programmiert und Landschaften entworfen haben, stecken in "Bush Soul". Solch lange Entwicklungszeiten sind ebenso wie die Teamarbeit, so erfährt man auch von anderen Künstlern, für derlei Arbeiten üblich und unumgänglich. Allen zielt mit ihrem Werk auf den Kunstmarkt. Allerdings denke sie eher an Institutionen, erklärt die Künstlerin mit schlauem Lächeln. Derlei Arbeiten sollten fürs Publikum zugänglich sein. Auch wenn manche Kritiker sicher noch eine Weile lang fragen, was daran Kunst ist.
Noch in anderer Hinsicht ist Allen repräsentativ für die Zunft: Eine Grenze zwischen Kunst und raffinierter Softwareentwicklung zu ziehen, hält sie weder für möglich noch für nötig. Warum sich die novitätensüchtige Kunstszene noch nicht auf Cyberart gestürzt hat? "Es besteht noch keine tragende Infrastruktur, ein Netz von Kuratoren, Kritikern, Museumsleuten, die verstehen, was passiert." Kommt hinzu, dass gerade interaktive Cyberart erfahren werden muss, schlecht dokumentiert werden kann. Sie steht also, was ihre massenhafte Verbreitung betrifft, dort, wo die Malerei vor Erfindung des Vierfarbendruckes stand.
Die "Ars electronica", die dieses Jahr ihr zwanzigstes Jubiläum mit gebührendem Stolz und grossem Bahnhof feiert, präsentiert sich in ihrem Kunstteil als wuchernder Pixelpark der Ideen und Visionen. Die schwindelerregende Fülle von manipulierbaren Interfaces, digitalisierten Soundscapes und virtuellen Bildern erzeugt beim Besuch eine Mischung aus Faszination und Skepsis. Faszination, weil viele Werke und die Begegnung mit den anwesenden Künstlern signalisieren: hier ist der Link zur Zukunft oder wenigstens zur Zukunftssucht. Skepsis, weil weder die Grenzen zwischen angewandter Technologie, Spielerei, Kunst, Kritik mühelos auszumachen noch die aktuellen Mythen des Cyberspace leicht zu entlarven sind. Auch scheint der Erkenntnisgewinn nicht immer auf der Höhe der Form.
Doch mit solchen Zweifeln deklariert man sich bei den Adventisten des elektronischen Zeitalters als Spielverderber. "Kunst als Enklave der Kritik wird obsolet, ja sogar verantwortunglos", antwortet Gerfried Stocker vom Leitungsteam auf den gegenüber der "Ars electronica" hartnäckig bestehenden Verdacht allzu grosser Technologiefreundlichkeit. Gerade dort, wo die Künstler mit ihren Beiträgen wichtige aktuelle Themen bearbeiten wollten - etwa die derzeit hochbrisante Debatte um Bio- und Gentechnologie, die das diesjährige Motto "Life Science" des Festivals geliefert hat - , seien sie ohnehin auf die Zusammenarbeit mit den Experten der entsprechenden Industrie angewiesen. Derlei kann man zwar bestreiten, und gewitzte Arbeiten wie das "Creative Gene Harvest Archive" der Künstlergruppe Gene Genies Worldwide/USA - es versammelt Haarproben von Koryphäen der Forschung zum Zweck der späteren genetischen Rekonstruktion - ermutigen dazu. Doch für ein Laboratorium wie die Ars electronica, das an der Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie operieren will, drängt sich dieser offensive Ansatz auf. Fragwürdig wird er, wo er jene von der Mitsprache ausschliesst, die nicht auf der schwindelerregenden Höhe der Debatte respektive dem letzten Stand der Technologie sind.
Deren verführerische, aber auch nachdenklich stimmenden Seiten zeigen die Werke der Preisträger des renommierten "Prix Ars Electronica" aus diversen Kategorien von Netart über Computeranimation bis zur interaktiven Computerkunst. In dieser Sparte gibt es betörende Interfaces wie "HAZE Express" von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau zu bewundern: eine Fahrt im Nachtexpress, den Blick aus dem Zugfenster fesseln farbige kristalline Strukturen, die sich auf Berührung hin verändern. Lynn Hershmans "Difference Engine #3" (Goldene Nica für "Interactive Art" ), eine "interaktive Multi-User-Skulptur zum Thema Überwachung, Voyeurismus, digitale Absorption und spirituelle Transformation", fordert den Betrachter mit ihrem hohen konzeptuellen Anspruch heraus. Daniel Rozins "Easel" ist ein ironischer Widergänger der Malerei. Auf einer Leinwand kann man mit einem realen Pinsel, der in virtuelle Farbtöpfe getaucht wird, sein eigenes Pixelporträt verändern, das eine über der Staffelei montierte Kamera aufgenommen hat. Der Reiz verliert sich leider relativ schnell. Bemerkenswert Luc Courchesnes "Landscape One", wo man mit virtuellen Personen in einem Park Kontakt aufnehmen und auf diese Weise den Park erforschen kann. Das braucht - wie viele der gezeigten Werke - Zeit und Geduld, will man über die banal wirkende Einstiegsebene hinausgelangen.
Überhaupt scheint es ein Kennzeichen neuester Cyberart zu sein, dass sie den auf momentanes Erfassen von Bildern und Situationen konditionierten Blick wieder zu mehr Ausdauer zwingt. Das Stadium der virtuosen Effekthascherei ist allmählich überwunden. Der Weg führt zwar nicht zurück ins Holozän der Kunst, als Bilder rar und Gegenstand der Kontemplation waren. Aber er führt zum Verweilen vor einem Bildschirm, einer Benutzeroberfläche, in einer interaktiven oder gar immersiven Struktur, deren Geheimnisse sich nicht im Vorbeigehen erschliessen und deren Qualität sich nicht zuletzt daran bemisst, wie stark sie den Betrachter-Benutzer für ihr Forschungsanliegen oder ihre erzählerische Bildregie zu gewinnen vermögen. An die Grenzen der Geduld des Besuchers stossen dabei Künstler wie Eduardo Gac mit "Genesis", deren ausgeklügelte Langzeitprojekte visuell unbefriedigend sind. Auch beim "Hamster"-Projekt (Christoph Ebener, Frank Fietzek, Uli Winters), einer Versuchsanordnung, die eine "Symbiose zwischen einer Hamsterpopulation und einer Gruppe intelligenter Roboter" vorführt, werden dem Besucher greifbare Resultate vorenthalten.
Die "Ars electronica" ist eine pulsierende Informationsbörse. Auf direkte Weise findet der Austausch in "OpenX" statt, wo die Betreiber unkonventioneller, nichtkommerzieller Netprojekte an Computern auf neugierige Besucher warten. Ernest, kalifornischer Netaktivist beim Projekt "rtmark" (http://rtmark.com), das für subversive netzkritische Aktionen unter Insidern recht bekannt ist, zeigt auf seinen Bildschirmen die Homepage von Novartis, deren Kooperation am "LifeScience"-Symposium Turbulenzen ausgelöst hat. Natürlich eine Leimrute, denn "60 Jahre Sponsoring in Linz 1939-1999" sind sein eigentliches Thema. Die Gruppe "c5" (http://www.c5corp.com) aus dem Silicon Valley verunsichert mit abgehobenen Forschungen zum Informationsfluss im Netz; zu greifbareren Zwecken benutzt dieses der unabhängige serbische Sender B92 (http://www.freeb92.net). Die Vernetzung der Cyberart-Szene schreitet ebenfalls fort: ENCART, das "European Network for Cyberart" ( http://www.encart.net)) soll in Zukunft als gemeinsame Netz-Arbeitsplattform von vier führenden europäischen Medienkunstinstituten (Ars Electronica Linz, C3 in Budapest, V2 in Rotterdam und ZKM Karlsruhe) dienen; neben Seminaren, Vorträgen und Workshops will man auch Artists-in-Residence-Programme gemeinsam organisieren. Bemerkenswert ist das Suchsystem "Starrynight", mit dem das expandierende Web-Kunstarchiv Rhizome (http://www.rhizome.org) aufwartet. Mark Tribe, der Rhizome seit 1996 betreibt, erzählt, wie ihm die Idee dazu vor einigen Jahren während einer Ars electronica kam. "Damals war dieses Festival die einzige Möglichkeit, solche Kunst zu sehen. Es wurde mir klar, wie wichtig es wäre, ein Forum für den kritischen Diskurs zu entwickeln, der die Entstehung neuer Medien unbedingt begleiten muss." Jenseits der grossen Themen und Namen, denen man in Linz auf Schritt und Tritt begegnet, zeigt OpenX, dass die virtuelle Landkarte noch genügend weisse Flecken für einfallsreiche Denker, Macher, Pioniere bietet.


Ausstellung prämiierter Beiträge im OK Centrum für Gegenwartskunst bis 19. September; Dauersausstellung neuer Cyberart im Ars Electronica Center.

Katalog der prämierten Arbeiten aller Sparten: "Cyberarts 99", Springer Verlag Wien/New York, Katalog "Life Science" . (www.aec.at)