'Kurzer Rock und Lange Weile' wurde als Vortrag im September 2004 während des Modepalastes im Wiener Museumsquartier gehalten und bietet einige Überlegungen zum Verhältnis von Mode und Zeit an. Das Programm mit den anderen Veranstaltungen findet sich hier.




Kurzer Rock und Langeweile

Zur Zeit der Mode

 

von Friedrich Tietjen



 

1. Herbst

 

Meine Damen und Herren,

so golden der September über lange Zeit war: wir haben Herbst. Die Blumen blühen, aber sie blühen noch und nicht mehr lange. Die Adams- und Evenkostüme, die in den vergangenenen Monaten bei passenden Gelegenheiten ausgeführt wurden, müssen eingepackt werden: Die Textilien treten wieder in Kontrast mit sich selbst und weniger mit der schönen blanken Haut der Körper, die sie enthüllend verhüllten. Herbst, das ist eine wehmütige Jahreszeit, eine Periode bittersüssen Abschieds: eigentlich ist das Jahr schon zu Ende – was höchstens noch kommen kann, ist ein Urlaub in der Ferne. Herbst, das ist die Jahreszeit, in der die Dinge so reif werden, dass ihr Verfall und schliesslich ihr Ende absehbar sind. Und wenn die kurzen Tage und langen Nächte des Winters kommen und mit ihnen Stürme, Kälte und Nässe in allen Aggregatzuständen, wenn Glühwein, Skifahren, Ballsaison und Weihnachtsgeschenke allenfalls Trost und nicht Ersatz für Gänsehäufel, Motorradfahren, frische Beeren und genüssliches Schwitzen bieten können, dann bleiben die wenigen Versprechen und Hoffnungen des Herbstes: Dass die Saat im Frühjahr aufgehen wird; dass ab 21. Dezember die Tage wieder länger werden; und dass man schon weiss, was es im nächsten Jahr anzuziehen gibt.

Mode, mit anderen Worten, gibt eine Ahnung davon, was im nächsten Jahr passieren wird und passieren kann – abseits vom kommenden Semester, vom immergleichen Job und dem so lästigen wie lustigen Geburtstag als Nachweis zunehmenden Alters. Die Modenschauen, Magazine und Geschäfte geben bekannt, was sich tragen lässt – auch ohne dass man wüsste, wer im einzelnen was wählen würde. Immer wieder wird das Verhältnis von Kleidung und Körper neu definiert in ihren Farben, ihren Formen. Die Mode spricht im Futur, in Verkleidungen, in Zungen; sie redet von künftigen Verlockungen, von neuen Körpern, von kommenden Dingen. Sie stellt den urbanen Gesellschaften ihr kollektives Horoskop.

 

„Das brennendste Interesse der Mode,“ schreibt Walter Benjamin, „das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren ausserordentlichen Antizipationen. [...] Jede Saison birgt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.“[1] Um nur eines der naheliegenderen Beispiele zu nennen: Im Oktober 1939 posierte das amerikanische Model Wilma Wallace für die Zeitschrift LIFE in neuen „military-based fashions“ - einige Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen, aber noch gut zwei Jahre vor dem Kriegseintritt der USA. Diese neue Mode wies jedoch nicht allein auf die bevorstehenden militärischen Auseinandersetzungen hin, sondern nahm auch schon Bezug auf die Rolle, die die Frauen darin spielen würden: In den USA wurde ab 1942 das Women's Auxiliary Army Corps aufgestellt, in dem Frauen praktisch alle waffenlosen militärischen Aufgaben erfüllen sollten. Das WAC und später das WAAC waren im US Militär höchst umstritten, und nicht zuletzt die Frage der angemessenen Bekleidung sorgte für teils bizarre Konflikte. Nachdem die bis ins Detail natürlich überwiegend von männlichen Offizieren entworfenen Uniformen sich als teilweise unvereinbar mit den Dienstpflichten erwiesen, schneiderten die Frauen oft mit stillschweigender Billigung ihrer Vorgesetzten vorschriftswidrig ihre langen Röcke zu Hosen um oder besorgten sich welche von anderen Truppenteilen. Dieser produktive Missbrauch von Uniformen war nicht allein Ausweis praktischer Intelligenz; in letzter Konsequenz spiegelte sich darin auch das Selbstbewusstsein der Frauen, gleiches zu leisten wie ihre männlichen Kameraden – ein Selbstbewusstsein, das nach dem Krieg zu neuen Reibungen führte, als die heimkehrenden Soldaten zu Hause und bei der Arbeit ihre alten Rollen wieder einnehmen wollten.

 

Seitdem sind Uniformen immer wieder in modische Grabenkämpfe verwickelt worden. Punk hat sich in der Kleiderkammer des Militärs bedient und die Uniformen mit den Ikonografien des Mülls konfrontiert, in den friedensbewegten späten 70ern und frühen 80ern kauften auch die Gammler und die Hippies der zweiten Generation ihre Jacken und Taschen billig im Surplus-Store, deren Lässigkeit und dreckigen Farben darüber hinaus auf das angenehmste gegen die bürgerlichen Kleidernormen verstiess – umgenutzt wurden ja vor allem Ausrüstungen der Kampftruppen, keine strengen Ausgehuniformen. Zeitgleich eroberte der military look die Laufstege, und im Zuge des 80er Revivals einerseits und der allgemeinen Weltlage andererseits war er in den letzten Jahren wieder ziemlich gross – bis jetzt, wie die Vogue online verkündet: „2004 ist definitiv Schluss mit Military-Look und Biker-Chicks. Kampfhosen, Kettenrasseln und Punk-Tops machen der neuen Weiblichkeit Platz.“[2] Der neuen Weiblichkeit, der ewig neuen Weiblichkeit – wie oft ist die eigentlich ausgerufen worden in den vergangenen Jahrzehnten? Vermutlich alle paar Jahreszeiten aufs neue. Und so wird nach dieser neuen Weiblichkeit wieder eine andere kommen, und auch der Military-Look, einmal eingeführt, wird in neuen Varianten auf- und weiterleben, und vielleicht sieht die Synthese von beiden so aus wie das T-Shirt einer Frau, die ich vor ein paar Wochen auf dem Naschmarkt sah: In der Art der Tarnmusterungen und in ähnlichen matten Braun- und Grüntönen waren Blütenrispen auf den Stoff gedruckt: Hier ist nicht – wie bei den meisten dieser Muster sonst üblich – in den Formen der Flecken das welke Laub des Herbstes Vorbild, sondern die Blüten des Frühlings, und zwischen den Rispen blitzte viel Weiss hervor, die Farbe also, die den militärischen Übungen in Unsichtbarkeit das Begehren des Gesehen-Werdens entgegenstellt. Sollten das die kommenden Dinge sein – mir wärs recht.

 

 

2. Winter

 

 Von Mode reden heisst gemeinhin von Frauenmode reden: Hier findet zu jeder Zeit die grosse Metamorphose statt, entpuppt sich unscheinbares in unvermuteter Schönheit, wandern die Rocksäume rauf und wandern sie runter, hier wird über die Farben entschieden, die den Alltag illuminieren, hier werden neue Ornamente für die Massen erfunden. Camouflagemuster, Kampfstiefel und Schulterpatten scheinen dagegen noch die auffälligsten der wenigen Innovationen zu sein, die der Männermode zu verdanken sind. Denn was gibt es ansonsten dort zu sehen? Nichts, oder besser: nicht neues, oder genauer: Anzüge. Anzüge, das sind Hemd, Hose, Jacke, manchmal eine Weste und fast immer irgend ein Halstuch, eine Krawatte, eine Fliege. Dieses Grundschema wird unendlich variiert, doch üblicherweise nur in beschränktem Masse: Die Jacken werden ein- oder zweireihig geknöpft, die Kragen sind mal rund, mal breit, die Hosen haben einen Aufschlag oder nicht, die Farben sind meist monochrom und in den Tönen der winterlichen Landschaft – Jacke, Hose und Weste sind schwarz wie kahle Bäume, dunkelblau wie das Wasser unterm gefrorenen See, braun wie das welke Laub, das Hemd weiss wie ein Schneefleck und allein das modisch wechselnde Stoffstück am Hals bringt zuweilen ein paar Farbtupfer vor, rot wie das Blut eines vom Habicht geschlagenen Kaninchens oder bunt wie ein paar Fetzen Müll. Was in Farben und Formen darüber hinausgeht hat kaum je eine grössere Rolle spielen können denn als Outfit der Exzentriker: Buntgemusterte Anzüge wirken nicht weniger lächerlich dadurch, dass Elton John sie trägt, und abgesehen von griechischen und schottischen Trachten haben sich Röcke als Beinkleid bei Männern in der westlichen Welt nicht durchsetzen können.

 

Das hat sicher mit den Geschlechterverhältnissen zu tun – Frauenmode hat insbesondere seit dem 20. Jahrhundert eher Motive männlicher Kleidungsstücke übernommen als umgekehrt, und nicht nur die schon mehrfach herbeitzitierten Camouflagemuster zählen dazu, sondern auch Schulterpolster, Jeans und nicht zuletzt Anzüge selbst. Andererseits aber lässt sich die Stabilität des Anzugs als Grundmodell der Kleidung kaum anders als dadurch erklären, dass es offenbar alle oder wenigstens die meisten Ansprüche erfüllt, die ein männliches Kleidungsstück gegenwärtig idealerweise erfüllen muss: „Diese Ideal bietet eine vollständige Hülle für den Körper, die dennoch aus separaten, in unterschiedlichen Lagen angeordneten Einzelteilen besteht. Arme, Beine und Gesäss werden sichtbar markiert, aber nicht eng umschlossen, so dass schwungvolle Bewegungen keinen unangenehmen Druck auf Nähte und Verschlüsse ausüben und die Unregelmässigkeiten der individuellen Körperoberfläche harmonisch überspielt, doch nie emphatisch modelliert werden. Die einzelenen Teile des Kostüms überlappen einander, statt aneinander befestigt zu sein, was grosse körperliche Bewegungsfreiheit ermöglicht, ohne dass peinliche Lücken in der Komposition aufklaffen. Das gesamte Kostüm kann sich so auf natürliche Weise ordnen, wenn der Körper aufhört, sich zu bewegen [...]. Zugleich bewirkt lässiges Räkeln, dass das Kostüm attraktive zufällige lässige Falten bekommt, die eine gleitende Abfolge von graziösen Noten für den Körper in Ruhestellung bilden und die auch gefällig wieder eine glatte Form annehmen, wenn der Träger sich schnell aufrichten und wieder gerade stehen muss. Das Kostüm ist somit gleichzeitig gesellschaftlich formell und informell, es gehorcht dem Fluss der Umstände. [...] Es schmeichelt dem Träger in jeder Hinsicht, weil es nicht auf spezifische körperliche Details besteht ... [und] reflektiert die modernen ästhetischen Prinzipien.“[3]

 

Anne Hollander, aus deren Buch Anzug und Eros ich diese ausführliche Beschreibung zitierte, argumentiert im weiteren, dass diese Eigenschaften den Anzug zum Paradigma moderner Kleidung werden liessen, zu dem die Frauenmode erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Pendant entwickeln konnte. Entscheidend dafür war, dass die untere Körperhälfte der Frauen im Allgemeinen und ihre Beine im Besonderen nicht mehr unter Kegeln von Stoffen verschwanden, sondern sichtbar gemacht wurden – erst danach konnten die Hosen von der Männermode übernommen und kurze Röcke als eigenständige Entwicklung der Frauenmode sich durchsetzen: „Der kurze und enge Rock war visuell viel radikaler als jede andere Veränderung der Moderne, abgesehen von der Verschiebung, die auf die Betonung des Taktilen zielte; er verlieh dem weiblichen Körper eine Kohärenz, die ein männliches Privileg gewesen war – es wurde deutlich, dass Kopf und Füsse nicht unabhängig voneinander waren, genausowenig wie Denken und Handeln.“[4]

 

Der Unterschied zwischen Frauen- und Männermode jedoch ist spätestens an dieser Stelle, dass der kurze Rock für erstere zwar zu einem prominenten Motiv wurde, doch keinesfalls für die Vereinheitlichung sorgte, wie sie der Anzug für die Männermode geschafft hatte. Diese Vereinheitlichung verweist auf einen der Ursprünge des Anzugs, nämlich die Uniform der Linientruppen Ende des 18. Jahrhunderts. Das ist aus verschiedenen Gründen interessant: Einerseits zählten die Uniformen zu den ersten mehr oder weniger standardisiert massenproduzierten Textilen: Die Kleidungsstücke mussten alle gleich aussehen und dafür möglichst gleichartig produziert werden – sie erforderten die Massenproduktion als Produktionsform der Moderne. Zum anderen bleibt die Massenproduktion ja bis heute auch nicht ohne Effekt auf die, die ihre Produkte konsumieren: Sie erzeugt und strukturiert die vorzüglich männlichen Massen, aber sie organisiert sie nicht und mobilisiert sie nicht.

 

Wenn der Anzug einerseits dem Einzelnen Autonomie in den Bewegungen verschafft und ihm erlaubt, seine Körperlichkeit unspezifisch zur Schau zu stellen, dann ist der Preis dafür Monotonie und Verwechselbarkeit in der Erscheinung. In den Legionen, die die Geschäftsdistrikte der grossen Städte bevölkern, ist der einzelne Angestellte kaum zu identifizieren. Zwar liesse sich fragen, ob solche Identifikation auch wünschenswert wäre; doch wenn andererseits der Anzug ein oder gar das Kleidungssmodell der männlichen Moderne ist, so scheint dies doch eine recht erstarrte Moderne, ein stillgestellter Fortschritt zu sein.

 

 

3. Frühling

 

Allerdings ist noch sehr die Frage, ob es bei der Mode überhaupt um so etwas wie Fortschritt geht. Der ist zwar bis heute eines der dominierenden Prinzipien der Organisation von Gegenwart und Geschichte ist – ich wenigstens bin damit aufgewachsen, es wurde mir in der Schule beigebracht und teils auch noch später an der Universität, und unzulässig vereinfacht sah das so aus, dass die Dinge sich weiterentwickeln, seien es Gesellschaftsformen, Atommodelle, Kunst oder Fahrzeuge: vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft, von Daltons kleinen massiven Kugeln zu Rutherfords Elektronenbahnen, von den klobigen Formen der mittelalterlichen Kunst bis zu den Segnungen der Perspektive seit der Renaissance, von Freiherr von Drais Laufrad zu den Zeitfahrrädern der Tour de France. Fortschritt, so scheint es, erlaubt mehr Freiheiten, erklärt mehr Phänomene, gibt bessere Bilder, lässt schneller fahren. Aber mit der Mode verhält es sich irgendwie anders: Die schafft zwar auch immer wieder was Neues, ständig wechseln die Kreationen, die Farben, die Stoffe, aber die Veränderungen erscheinen merkwürdig ziellos. Dennoch werden sie mit Vehemenz vertreten und durchgesetzt: Ist in einem Jahr Weiss die Farbe des Sommers, geht im nächsten nichts ohne florale Muster, Schlaghosen wechseln mit engen Röhren um wieder Schlaghosen Platz zu machen, und hin und wieder gibt es kleine Revolutionen, bei denen vor allem in der Frauenmode bislang verhüllte Hautpartien des Körpers entblösst werden, was von entsprechend erregten, häufig männlichen Reaktionen begleitet wird – sicher erinnern Sie sich noch an die etwas absonderliche und zeitlich merkwürdig verschobene Debatte um bauchfreie Mode an den Schulen in diesem Jahr und an die ziemlich zweifelhaften Argumente und Vorschläge bis hin zur Einführung von Schuluniformen. Wobei die tiefgreifenden Revolutionen, die Erfindung eines neuen Motivs eher selten sind; viel häufiger sind Zitate bis zurück ins 19. Jahrhundert und Revivals, die die Archive vergangener Dekaden bis hin zu Accessoirs und Musik sichten. Die Revivals der letzten Jahre folgen in grober Näherung den Dekaden des 20. Jahrhunderts, doch wird keineswegs alles unterschiedslos aus dem Fundus wieder herausgeholt – die Jeans der 70er und frühen 80er mit den schmalen weissen Paspeln etwa sind bislang nicht zu neuem Leben erweckt worden.

 

Wenn Revivals eine Vergangenheit zitieren, ist das jedoch weit mehr als ein textiler „Früher war alles besser“-Kommentar. Was wieder belebt wird, ist ja nicht eine Zeit – es ist ihr retrospektives und selektives Abbild. Historisierung der Gegenwart und Aktualisierung der Vergangenheit verlaufen synchron. Im Passagen-Werk zitiert Benjamin aus einer Schrift von 1935: „Da aber nun keine Gegenwart sich völlig von der Vergangenheit loslöst, bietet [dem Modeschöpfer] auch die Vergangenheit Anregung … So lässt sich aber nur das Verwenden, was in die Harmonie des modischen Klanges gehört. Das in die Stirn gerückte Hütchen, das wir der Manet-Ausstellung zu verdanken haben, beweist nichts anderes als dass wir eine neue Bereitschaft haben, uns mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts auseinanderzusetzen.“[5]

 

Mode, mit anderen Worten, beklaut sich selbst. Sie feiert alle Tage Kostümfest, schneidet hier und dort einen Zipfel Stoffs ab, um ihn gar nicht oder anderswo wieder anzuheften, schrumpft Formen und bläht anderes auf, streut Andeutungen um sich und behauptet mit eiserner Stirn zu jedem Wechsel, dies sei nun die Mode und also modern. Sie steht damit in einem ganz anderen Verhältnis zum Neuen als der Fortschritt es tut. Der Fortschritt schliesst sich gegen die Vergangenheit ab, erklärt sie unter mehr oder weniger grossen Sympathiekundgebungen gern für überwunden und erledigt insbesondere heiklere Abschnitte der Geschichte gern mit einer Stunde Null. Das Neue der Mode dagegen ist stets und immer durchdrungen vom Alten. Als stets sich erneuernde weiss sie um das Neue, das in allem Abgelegten aufgespeichert ist und hält sich deswegen die Vergangenheit verfügbar. Geht der Fortschritt von der Zeit als einem linearen, zielgerichteten Kontinuum aus, bleibt der Mode die Vergangenheit präsent. Wo der Fortschritt alles besser macht, macht die Mode alles anders.

 

Und weil sie also nicht der Fortschritt ist macht die Mode sicher nicht alles besser: Hochhackige Schuhe und Miniröcke sorgen zwar für ein neues Selbstbild des weiblichen Körpers und können unglaublich sexy sein, aber damit entspannt zu gehen und zu sitzen verlangt bei Beachtung der gesellschaftlichen Schicklichkeiten einiges an Körperbeherrschung. Krawatten wiederm sind für ungeübte Finger nicht leicht zu binden, und wärmen tun sie auch nicht, und schliesslich ist Mode zuweilen nicht nur für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Sweatshops gesundheitsschädlich, sondern auch für die, die sie tragen: Knallenge Jeans tun insbesondere den männlichen Geschlechtsorganen keinen oder einen immerhin zweifelhaften Gefallen. Zuweilen allerdings gibt es auch in der Mode solchen Fortschritt: Man mag von Mao halten was man will – dass zu seiner Zeit in China das Binden der Füsse von Mädchen zu dreieckigen Klumpen unterdrückt wurde hat eine folkloristische Tradition ausgelöscht und heranwachsenden Mädchen ermöglicht, auf ihren eigenen Füssen zu stehen.

 

Isoliert betrachtet mag der Widerspruch zwischen Mode und Fortschritt nicht so furchtbar wichtig erscheinen – was tut es, wenn sich die Mode im Kreis dreht, solange nur die Wirtschaft weiter wächst und Wohlstand für allerdings immer weniger Menschen produziert? Ihr Potential bezieht die Mode allerdings genau aus dieser Abweichung von der Zukunftsgläubigkeit, weil sie statt Versprechen von Verbesserungen den buchstäblichen Zugriff auf die eigene Zeit und die eigene Zukunft und die Veränderung beider gewährt. „Meistens macht man die Mode mit, nicht um modisch, sondern um richtig auszusehen.“, schreibt Anne Hollander, „'Modisch sein' ist eine sehr bewusst erreichte Art zu jeder beliebigen Zeit und an jedem Ort modisch – das heisst richtig – auszusehen. Die Wechselhaftigkeit des Urteils darüber, was richtig aussieht, ist nicht neu und war nie bewusst zu dem Zweck erzeugt, Frauen den männlichen Willen oder dem öffentlichen Geschmack den Willen der Designer aufzuzwingen. [...] Die Mode hat ihre eigene manifeste Tugend, die mit den Tugenden der individuellen Freiheit und der unzensierten Phantasie [zusammenhängen], die noch immer den demokratischen Idealen zugrunde liegen [...].“[6]

 

Wie diese Freiheiten und Phantasien umgesetzt werden, wohin sie führen ist freilich eine andere Frage: Wer seine dreads abschneidet und im Anzug zum Vorstellungsgespräch in der Bank geht, verbessert sicher seine Chancen auf Einstellung. Umgekehrt können alte ausgeleierte Pullover, bis zur farblichen Indifferenz ausgewaschene Hosen und ein Paar Schuhe fürs ganze Jahr eher auf Geldmangel, grämliche Konsumverweigerung, fehlenden Geschmack oder Selbstvernachlässigung hinweisen als auf einen unbeugsamen Widerstand gegen jede Anpassung an die Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Mode kann eine Ersatzbefriedigung bieten für vielleicht erwünschte Veränderungen: statt ein Haus zu besetzen oder endlich die Magisterarbeit zu schreiben kauft man sich ein Paar Socken und fühlt sich wie der neue Mensch. Und man kann Mode andererseits als Arsenal visueller Codes begreifen, als Möglichkeit wie die Mode auch die eigene Geschichte zu vergegenwärtigen und die eigene Gegenwart zu historisieren und damit die formalen Freiheiten der Mode als gesellschaftliche zu begreifen und zu behaupten.

 

 

4. Sommer

 

Kleidung setzt keine Patina an – sie kommt aus der Mode und ist dann nicht mehr richtig, und wenn sie nach einigen Jahren aus dem Kleiderschrank fliegt, wird sie in Sammelcontainer geworfen, auf dem Flohmarkt vertickt und landet vielleicht hier und da in einem Museum. Ihre textilen Gewebe sind meist ähnlich empfindlich wie die Gewebe der Körper, die sie bedecken – scharfes schneidet sie, Licht lässt sie altern, und ungepflegt und vernachlässigt bekommen sie Falten und beginnen schliesslich zu zerfallen. Zurück bleiben Knöpfe und Knochen.

 Die Dauerhaftigkeit der Mode haftet nicht ihren materialen Manifestationen, sondern paradoxerweise an deren Wechsel: Ihre stete Veränderung, ihre Flüchtigkeit ist die einzige Konstante. Und diese Flüchtigkeit sorgt gleichzeitig für Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen. Benjamin zitiert Rudolph von Jhering: „Die Mode ist die unausgesetzt von neuem aufgeführte, weil stets von neuem niedergerissene Schranke, durch welche sich die vornehme Welt von der mittleren Region der Gesellschaft abzusperren sucht, es ist eine Hetzjagd der Standeseitelkeit, bei der sich ein und dasselbe Phänomen unausgesetzt wiederholt: das Bestreben des einen Theils, einen wenn auch noch so kleinen Vorsprung zu gewinnen, der ihn von seinem Verfolger trennt, und das des anderen, durch sofortige Aufnahme der neuen Mode denselben sofort wieder auszugleichen. … Die Mode geht von oben nach unten, nicht von unten nach oben. … Ein Versuch der mittleren Klassen, eine neue Mode aufzubringen, würde … niemals gelingen, den höheren würde nichts erwünschter sein, als wenn jene ihre eigene Mode für sich hätten.“[7]

 

Mode ist dabei nicht nur ein Feld, auf dem sich diese Auseinandersetzungen abspielen, sie bildet sie gleichzeitig auch ab, oder anders: Sie vermittelt sie. Sie steht in engster Verbindung mit den je modernen Medien, den Bildmedien vor allem, dem Druck, der Fotografie, dem Film: Geweben hatte man mit Holzmodeln schon Muster aufgedruckt, bevor die ersten Holzschnitte auf Papier abgezogen wurden und Gutenberg seine epochale Erfindung machte. Die Fotografie erlaubte nicht nur zum ersten Mal in der Geschichte praktisch allen sozialen Schichten, ihr eigenes Abbild zu besitzen, sondern Mode abzulichten wurde eine der wichtigsten Spezialisierungen von Fotografen. MTV dürfte neben dem musikalischen auch den modischen Mainstream effektiv durchsetzen helfen, und im Abspann der Übertragungen wurde während der EM daran erinnert, dass das Modehaus Tlapa für die knittrigen und ausserordentlich unspektakulären Anzüge von Boris Jirka und Herbert Prohaska verantwortlich zeichnete.

 

Die saisonalen Revolutionen der Mode selbst halten Schritt mit der Geschwindigkeit der Medien, was einen stets sich selbst beschleunigenden Kreislauf generiert: „Der rasche Wechsel der Mode bewirkt, dass die Moden nicht mehr so kostspielig sein können, wie sie in früheren Zeiten waren. Ein eigentümlicher Zirkel entsteht hier: je rascher die Mode wechselt, desto billiger müssen die Dinge werden; und je billiger sie werden, zu desto rascherem Wechsel der Mode laden sie die Konsumenten ein und zwingen sie die Produzenten.“[8] Dieser rasche Wechsel ist es, unter dem die Mode vom statischen Symbol zum dynamischen Medium wird, das die Zeitläufe kommentierend begleitet und antizipiert. Eindeutigkeit darf man von der Sprache der Mode dabei allerdings so wenig erwarten wie von der jedes anderen Mediums. Ihre Verhältnisse zu dem, was sie wiedergibt sind vielfältig und sicher nicht notwendig abbildend: Mode kann mit Metaphern arbeiten und Analogien anbieten, kann parodieren und verfremden. Benjamin zitiert dazu einen Kommentar über die reaktionäre Mode und Politik in Deutschland um 1850: „Farbe bekennen gilt für lächerlich, straff sein für kindisch; wie soll da die Tracht nicht auch farblos, schlaff und eng zugleich werden?“[9]

 

Die Kommunikation durch Mode kann nicht vermieden werden; man kann sich ihr verweigern, aussteigen kann man nicht. Man kann sie nutzen, um Missverständnisse zu produzieren oder versuchen, unsichtbar zu werden. Man kann als fashion victim jeden Trend bis zum Limit der Kreditkarte mitmachen, und man kann sich des Lexikons, der Grammatiken, der Bilderalben der Mode bedienen, um kollektive oder individuelle Sprachen, Ästhetiken und Bedeutungsspiele auszuprobieren. Und nicht bloss als Geste des Dankes für die freundliche Einladung möchte ich deswegen und dafür über eine der Kreationen des Hauses gegenalltag einige abschliessende Bemerkungen machen.

 

Für die Hosenjacke werden – wie der Name schon andeutet – aus Herrenanzughosen Frauenjacken geschneidert. Aus den Hosenbeinen werden die Ärmel, der Schritt wird zum Kragen, und der Hosenbund zum unteren Saum der Jacke. Was zunächst als schlauer Materialwitz daherkommt, hat darüber hinaus einige weitgehende Implikationen. Zunächst einmal ist die Hosenjacke eine weitere Aneignung des Anzugs durch die Frauenmode, doch diese Aneignung zielt nicht auf das ganze Ensemble, sondern auf dessen Herzstück, eben die Hose: Denn für den Oberkörper gibt es zum Beispiel mit T-Shirts und Pullovern alternative Bekleidungsstücke – für Beine und Hintern hingegen kennt die Männermode nur die Hose. Mehr noch: Mit der Hosenjacke wird die Hose nicht nur ein weiteres Mal für die Frauenmode adaptiert, sondern sie wird entschieden verfremdet, ohne dass deswegen ihr Rohzustand unsichtbar werden würde: „Ich war eine Hose!“ – die Hosenjacke lässt das zu keinem Zeitpunkt im Unklaren. Sie bedeckt aber nicht nur den weiblichen statt des männlichen Körpers, sondern auch den Ober- statt den Unterkörper: Da, wo sonst das männliche Genital unter unansehnlich grauem oder schwarzen Stoff verborgen gehalten wird, erscheint der Kopf der Frau: Wenn Männer in Geschlechterfragen bekanntlich nur allzu gern ihren Schwanz denken lassen, können Frauen dafür einen brauchbareren Körperteil einsetzen. Und schliesslich ist die Hosenjacke auch ein Kommentar über Veränderbar- und Veränderlichkeit: Wenn die Männermode – und mit ihr die patriarchalen Strukturen – am immergleichen Konzept der Moderne festhält und immer die gleichen Details auf immer die gleiche Weise ändert, zeigt die Hosenjacke, welche Änderungen möglich sind, um die Verhältnisse der Geschlechter, der Gesellschaft und der Mode endlich auf den Kopf zu stellen.


Literatur:
Benjamin 1991: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk
Hollander 1997: Anne Hollander: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung. München (dtv) 1997



[1]Benjamin 1991, p. 112 [B1a, 1]

[2] http://www.vogue.de/vogue/2/1/content/02505/

[3]Hollander 1997, p. 19 f.

[4]Hollander 1997, p. 231

[5]Benjamin 1991, p. 122 [B4a, 5]

[6]Hollander 1997, p. 23 f.

[7]Benjamin 1991, p. 124 [B6]

[8]Benjamin 1991, p. 127 f. [B7a, 3]

[9]Benjamin 1991, [B2a, 7]