Georg Christoph Tholen

Zwischen den Medien. Hybride Horizonte.

(Textcollage, die sich einem geträumten Salongespräch in der letzten Nacht verdankt; tagträumend dann aus philologisch nur schwer nachzuweisenden Text-Fragmenten rekonstruiert)


Vorbemerkung:

Von Anfang an bewegt sich das Projekt 'Schreiben am Netz' in einem Dilemma, das sich in der meines Erachtens unreflektierten Übertragung von literarhistorisch konnotierbaren Bedeutungen wie etwa 'Salon' oder 'Collegium' auf unsere sog. Chat-Kommunikation. Diese Übertragung oder Metaphorisierung ist eine, die im Sinne der altbewährten Tradition der Metapherntheorie darin besteht, Begriffe als abgenutzte Metaphern zu verwenden, d.h. das Gemeinte oder Gesuchte (hier: Schreiben am Netz oder Schreiben im Netz) mit einem bildlichen Ausdruck zu veranschaulichen. Indem aber - wie in neueren, oft überspannten Erwartungen an das Neue der 'Neuen Medien' vielfach dokumentiert - diese Metaphern als geronnene Bedeutungen die Arbeit am Begriff (also der Analyse der Formen der Chat-Kommunikation oder auch der 'digitalen Poesie') ersetzen, gewinnen bestimmte gängige Metaphern wie etwa Salon, Hypertext, Cyberspace usw. den seltsamen Status einer beschworenen Eigentlichkeit, die man mit Adorno immer noch 'Jargon' nennen kann. So ist etwa – um an ein 'berühmtes' Beispiel aus den Anfängen der Hypertext-Debatte zu erinnern – der 'Link' nicht per se ein Beleg für die rhizomatische, die Macht und Funktion des Autors auflösende Poesie der Subversion. Eher sind der Hypertext und alle weiteren hypermedialen Darstellungsweisen zunächst nur technisch (d.h. hier instrumenetell) verknüpfte Text- und Bildsorten. Der Link ist an sich selbst noch keine neue Form der ästhetischen Einbildungskraft, sondern eher eine generaliserte Fussnote mit allen guten oder schlecht-unendlichen Möglichkeiten.

Natürlich kann man (Ernst W. B. Hess-Lüttich hat dies in seiner bemerkenswerten Studie 'Schrift und Rede. Chat-Kommunikation als Zwittermedium' exemplarisch durchgeführt) bei der Chat-Kommunikation von einem hybriden Zwitterwesen aus Schrift und Rede, Text und Gespräch, Schriftlichkeit und Mündlichkeit usw. sprechen. Dies erspart aber nicht eine nüchterne Analyse der Bedingungen der Möglichkeit, die das vom Projekt 'Schreiben am Netz' vor-gegebene Werkzeug, das MOO nämlich, 'einrahmen'. Liest man die im linearen Textdokument ausgedruckten Dialog-Fetzen, so gewärtigt man sehr schnell die Verwechslung von metaphorischer Bedeutung und realem Geschehen: Statt einer gleichsam wie von selbst sich einstellenden 'innovativen Kommunikationsform' (Beißwenger, vgl. dazu kritisch: Hess-Lüttich) entziffern wir (beinahe wie von selbst) das Dispositiv einer misslungen Übertragung des stets zwischenleiblichen Gespräches im klassischen Salon auf dieses karge MOO, dessen Rollenspiele (im Sinne Sherry Turkles) allenfalls Attitüden und Vorlieben der Gäste und Voyeure anklingen lässt. Oder man zappt in beiläufiger Zerstreuung zu interessanten Einfällen, Ideen, Thesen, wie die des universalphilologisch belesenen Martin Stingelin oder wissenschaftshistorisch ausgewiesenen Johannes Fehr, die aufgrund der unmöglichen Instaneität des Chattens innerhalb dieses Tools allenfalls komisch wirken: Herumspringen, Nicht-Antworten, Setzen, Überlesen, Behaupten und nochmals Behaupten, Montieren, Sampling von im Verlauf des Gesprächs kaum befragten und diskutierten Bruchstücken eines wie in den neuen Fernsehquiz-Sendungen auf abfragbare Reste des an die Buchkultur gebundenen (primär sozialisierten) Bildungswissens. Oder es waren quasi-propagandistische politische Statements zulesen –zwischen den Zeilen. Wie verhält sich etwa die von Fehr im NetzLabor formulierte These über experimentelle Räume, die er mit einem Zitat von H.-J. Rheinberger vorgestellt hat ('ein Experimentalsystem schaftt einen Repräsentationsraum für den Auftritt epistemischer Dinge… Ein Experimentalsystem schafft den Raum für Dinge, die sonst als Wissenschaftsobjekt nicht greifbar gemacht werden können') , zu ihrer Nichtaufnahme in den bisher dokumentierten 'Dialogen'.

Ich will hier – verallgemeinernd – hierzu eine erste These über die mit den historisch jeweils neuen Medien auftretende Ratlosigkeit und Hilflosigkeit im Umgang mit den Medien formulieren:

Ein medienhistorisch belegtes Faktum ist, dass sich mit das jeweils neue Medium zumeist und zunächst das ihm vorgängige durch blosses Zitieren unterwirft. Das Chatten – als vermeintliche Simulation eines literarischen oder politischen Clubs (von Rahel Varnhagen bis zum Club Voltaire in den 68er Jahren) ist ein solches Beispiel. Der Übergang vom Theater zum Film ist das berühmteste Beispiel für das Phänomen der Imitation, die die poetische und mimeischen Möglichkeiten des neuen Mediums unterbieten. Auch die Fotografie verblieb zunächst in der imitativen Beglaubigung befangen, als sie das Wesen der Malerei wiedergeben, portraitieren wollte, um so ihren Platz einnehmen zu können. Alle neuen Medien sind gleichsam in ihrem zunächst instrumentell orientierten Umgang mit der Technik mit einem Vakuum, einer orientierungslosen Leerstelle konfrontiert, die sie sogleich mit mehr oder weniger eingestandener Ratlosigkeit zu vermeiden oder auszufüllen trachten. Dieses, den Schock der Wahrnehmung überspringende Rückversichern geschieht, weil das neue Medium nicht in seiner Medialität 'angenommen' wurde, also in dem, was es als Spiel der Verstellung und Entstellung erscheinen und nicht-erscheinen läßt.

Die Metaphorik des Salons verweist uns auf die hybriden Horizonte der Neuen Medien bzw. des Umgangs mit Ihnen, der eine pragmatisch-instrumentelle Ebene und eine nicht-pragmatische, neue Spielräume der ästhetischen Einbildungskraft eröffnende Dimension hat. Beide Aspekte charakterisieren in den letzten 15 Jahren den Medienumbruch der Gegenwart, der auch einer der kategorialen Bestimmung der 'Medien' zwischen Begriff und Metapher selbst ist. Doch dazu später mehr. Hier die zweite, etwas ausführlichere These zur Interferenz von metaphorischer und instrumenteller Dimension im Umgang mit den neuen Medien:

Mit der digitalen Codierbarkeit lassen sich mit dem Computer, wie informationstheoretische, semiotische und technikhistorische Analysen ergeben haben, die Verfahren der Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Signalen und Daten, die wir als unterschiedliche Einzelmedien zu benutzen gewohnt waren, auf ein Medium übertragen. Diese Übertragbarkeit nun betrifft aber nicht allein die Simulation von Texten, Bildern oder Tönen, und nicht nur die als Benutzer-Oberfläche re-inszenierbare Darstellungsweise unterschiedlicher Medien; aber auch nicht nur ihre apparative Konstellation im multimedialen Verbund. Vielmehr ist es die mit dem digitalen Code möglich gewordene Beliebigkeit der Konfigurationen, die etwa in der neuerdings umworbenen 'Verschmelzung' von Fernsehen, Computer und globaler Telekommunikation einen derart ungewohnten, immateriellen Raum eröffnet hat, daß dessen telematische Maßlosigkeit mit quasi-religiösen Utopien einer globalen Gemeinschaft ebenso besetzt werden kann wie mit einem schlecht unendlichen Pragmatismus, der in der Mittelhaftigkeit der neuen Medien den Abschied von Geschichte und Zweckhaftigkeit überhaupt angekommen sieht.

Mit der in der Mitte der neunziger Jahre in der alltäglichen Anwendung mittlerweile vertraut gewordenen Informationstechnologie, oszzilliert die kulturwissenschaftliche Reflexion über den Status der 'neuen' Medien nicht mehr nur zwischen emphatischer Kulturkritik und nüchtener Analyse. Zu beobachten ist eher ein eher ökonomisch orientierter Diskurs, der die Zweckoffenheit der technischen Mittel und ihren Ausstellungswert betont und eine gewiße Ratlosigkeit angesichts der unabschätzbaren Nutzanwendungen. Anders hingegen begründet sich der im weiteren Sinne ästhetisch zu nennende Diskurs über die Medien. In diesem nämlich bildet sich mit dem den Theorien der Intertextualität und der unendlichen Semiosis entlehnten Begriff der Intermedialität eine Fragestellung heraus, welche Medialität als Übertragbarkeit, als ' Übergängigkeit zwischen den Medien' zu fassen versucht. Dieser keineswegs schlicht gegebene oder durchmeßbare Zwischenraum der Medien läßt sich freilich, wie die Diskursanalyse gezeigt hat, nicht ohne eine medienhistorische Rückbesinnung auf die Genese des technischen Horizonts eben jenes digitalen Mediums verorten, welches die Übertragbarkeit - d. h. die medienunspezifische Darstellbarkeit von medienspezifischen Darstellungsweisen - ermöglicht hat.

Doch die Frage nach informationstechnischen Dispositiven ersetzt nicht, wie die meisten Beiträge dieses Bandes zu zeigen versuchen, die nach der ästhetischen Disponibiltiät. Vielmehr werden mit der digitalen Exponierbarkeit von sich wechselseitig fragmentarisierenden 'Erzählweisen' der Photographie, des Films, des Theaters und der Videokunst diese selbst als Kon-Figurationen sichtbar. Die Interferenz zwischen alten und neuen Medien ist, wie ich am Begriff der Disponibilität skizzieren möchte, nicht nur in der Geschichte der medienhistorischen Konkurrenz zwischen Einzelmedien (Literatur und Photographie, Theater und Film usw.), wenn man darunter eine datierbare Abfolge von technischen Erfindungen versteht, wirksam, sondern auch als Überlagerung von medialen Weisen der Sichtbarkeit. Die Eigenart oder 'Eigensinnigkeit' medialer Repräsentation, nachdem sie im Alltagsbewußtsein wie in der Kulturwissenschaft über einen langen Zeitraum hin unterbelichtet geblieben war, gilt nunmehr als ein 'dichter' Sachverhalt. Und daß der gegenüber den vormaligen 'Einzelmedien' erhöhte Beschleunigungsgrad der Durchsetzung digitaler Medien dazu beitrug, die Frage nach der Medialität unserer Wahrnehmungsweisen, Erkenntnisformen und Kommunikationsstile zu stellen ist zur Prämisse medengeschichtlicher Untersuchungen geworden. Der gemeinsame Nenner in den bisherigen Definitionen der Medialität der Medien ist nun aber eine seltsam zwiespältige Disponibilität, die nicht aufzugehen scheint in instrumentellen Zweck-Mittel-Bestimmungen, wenngleich deren regional brauchbarer Geltungsanspruch auch im multimedialen Kontext gültig bleibt. Jedoch scheint der pragmatische Horizont der Verwendbarkeiten selbst diffuser zu werden und die Selbstbezüglichkeit der medialen Mittel erkennbarer. Noch irritierender freilich ist der von sich selbst als einem lokalisierbaren Raum loslösbare Spielraum der Medien: Es ist gerade seine 'unsichtliche' Vor-Gegebenheit, die zum Fokus der Aufmerksamkeit. Unser - nicht auf die Technik reduzierbares - Verständnis des medialen Charakters von Welt-Repräsentationen wird disponibler, will sagen: offener für nicht-essentialistische Relationen. Bereits die der Nachrichtentechnik entlehnte Definition der Medialität als sinn-indiferrente Übertragung von Botschaften zeigte, daß der 'Sinn' der Medien in ihrem 'Sinnvorbehalt' liegt.

Die Disponibilität der Medien geht, wie Heidegger in seiner Analyse der Axiomatik der naturwissenschaftlich- technischen, 'bestellbaren' Sprache der Informationstechnologie vorgreifend bemerkt hat, in anthropologischen oder instrumentellen Definitionen keineswegs auf. Ich möchte zunächst zwei Aspekte dieser im zeitgenössischen Mediendiskurs virulent gewordenen Disponibiliät beschreiben, die sich unauflöslich überschneiden: die pragmatische und die metaphorische Dimension. Hieran anschließend möchte ich den Grundzug der Medialität als Metaphorizität und Mitteilbarkeit näher bestimmen. Unleugbar steigert sich mit dem Übergang von den 'alten' zu den 'neuen' Medien die pragmatische Vielfalt multimedialer Verwendungen, auch wenn diese weder von der Medienindustrie noch von den Nutzern vorentschieden sind oder mit der Idee einer 'interaktiven Gemeinschaft' übereinstimmen, die in vollständiger Transparenz mit sich selbst zusammenfallen würde. Den zwischen Werbung, Mythos und Analyse schwankenden Trendanalysen zum globalen Internet als einer utopischen Weltgemeinschaft korrespondieren auf der selben spekulativen Ebene negative Utopien der totalen Transparenz ('körperlose' Simulierbarkeit): der vermeintlich 'reale Raum' der Welt würde im Zeitalter digitaler Manipulierbarkeit ersetzt durch den 'virtuellen' Raum. Die melancholische Verlustrhetorik solcher Kulturkritik ist, für sich genommen, kein neues Phänomen: in ihr wiederholt sich die um 1900 schon verbreitete lebensphilosophische Zwiespältigkeit gegenüber technischen Neuerungen, die den Spielraum der Medien beheimaten möchte in einem gegebenen und deshalb vertrauensstiftenden Horizont. Das Zukünftige - es gleichsam vorweg-nehmend - wird in die statuarischen Bilder einer verfügungsstolzen Gegenwart eingefroren.

So ist das zumal in der Literatur zum Cyberspace populariserte Szenario einer vollständigen Medienevolution unschwer als ein quasi-theologisches Versprechen zu entziffern, in dem sich die Frage nach der Dazwischenkunft des Medialen in die beschworene Gewißheit einer vollendeten Ankunft des Abschieds selbst (vom Buch, von der Literatur, vom Menschen oder seiner natürlichen Wahrnehmung, von der Geschichte überhaupt) übersetzt. Daß in solchen Trendsetter - Modellen die unverfügbare Zäsur des Vergangenen wie Zukünftigen in einer verabsolutierten Gegenwart auflösbar scheint, gelingt nur in einer fast schon halluzinatorisch zu nennenden Symbiose von Mensch und Medium. Ein Beispiel mag hier das Muster dieser gegenwartsaufspreizung veranschaulichen: 'Und seit das Zentralnervensystem technisch implementiert ist, können wir Leben als Informationsfluß verstehen.' (Bolz 1993, S. 35). Ein solcher Anthropomorphismus bedarf natürlich, um sich zu vergewissern, einer quasi-biologischen, also geschichtsunabhängig sich begründenden Metaphorik: 'Alle neuen Medien sind Extensionen des Menschen, die ihn so lange narkotisieren, bis er zum Servomechanismus seiner gadgets geworden ist. [...] Unter Bedingungen der neuen Medien ist der Mensch nicht mehr Benutzer von Werkzeugen und Apparaten, sondern Moment im Medienverbund. Er tritt in organische Konstruktionen ein.' (Bolz 1992, S. 134)

Doch das pragmatische Moment der Disponibilität zeigt sich unmittelbarer in der maß-losen Vielfalt multimedialer Kombinationen der Speicherbarkeit und Übertragbarkeit von Daten im digitalen Verbundsystem. Eine prostitutiv erscheinende Nachgiebigkeit gegenüber der Herkunft und Form der Daten (Töne, Bilder, Texte, Zeichen usw.) gilt nunmehr für den Umbau der 'Medienlandschaften' insgesamt: So stehen derzeit, um nur ein Beispiel zu erwähnen, in der halb-öffentlich geführten Debatte über die Digitaliserung des Rundfunks und des Fernsehens sowohl Programmformen wie Übertragungswege zur Disposition: Aufgrund der Fortschritte der Netztechnologie ist die Schnittstelle zwischen privaten und öffentlichen Anbietern zu einem politischen und ökonomischen Vakuum geworden: die elektronische Programmführung erlaubt eine 'interaktive' bzw. 'hybride' Programmzusammenstellung, eine Mischung aus Bestandteilen unterschiedlicher ' Mediensysteme (Fernsehen, Rundfunk, Internet-Informationsdienste usw.). Doch das Verbreitunsspektrum dieser multimedialen Kombinatorik wird natürlich nicht in seiner Vorläufigkeit so belassen, sondern politisch wie marktstrategisch neu 'besetzt', d. h. neu aufgeteilt. Und doch zeigt sich in der diese Umgestaltung begleitenden Ratlosigkeit über den 'wirklichen' Nutzen neuer Programmformen ein Spielraum der Medialität, der angestammte Programm- und Genre-Definitionen nicht unberührt lässt.

Um überhaupt eine gehaltvolle Theorie des 'Schreibens' am Netz begründen zu können, bedarf es meines Erachtens einer Netzwissenschaft (siehe u.a. auch die besten Texte in www.netzwissenschaft.de und in www.zaesuren.de ), die von der Kritik der traditionellen Metaphorisierung neuer Sachverhalte (wie der Internet-Kommunikation) ausgeht (siehe These 1 und These 2), und den subtilen Begriff der Schrift oder Spur (Dekonstruktion) aufnimmt und mit dem zwischen Begriff und Metapher oszillierenden neuen Konzept der metonymisch- metaphorischen Platzverweis-These (Metapsychologie Lacans) verbindet. So könnte vielleicht eine Phänomenologie des Netz-Schreibens beginnen (heuristische Phase), die in einer systematischen Metaphorologie der Medien einmünden könnte. Ich biete hierzu nun eine dritte These an, die sich einer Reflexion der Bisherigen Theorien über Netz-Identitäten, Agenten und sonstiger Metaphoriken verdankt. Ich würde mich freuen, wenn sie von meienn Salon-Gästengegengelesen würde für die Selbst- und Fremdbeobachtung der zeitgenössischen Netzkultur und Netzpolitik (Villö Huszai), der digitalen Poesie (Roberto Simanoswki) und der Frage der bidenden bzw. bildentstellenden Kunst der neuen Medienkunst (Peter Weibel). Ich ende mit Fragen und Thesen aus dem Interview mit Peter Weibel in den Zäsuren 1 (www.zaesuren.de ). Zunächst mein medientheoretischer Vorschlag:

Die Vielfalt der auf die Medien übertragenen Bilder und Begriffe verdankt sich nicht nur theoretischen oder methodologischen Vorlieben, die - je nach Perspektive - das Medium als Mittel der (selbstreferentiellen) Kommunikation, als Instrument der Informationsverarbeitung oder als Botschaft seiner selbst situieren. Die Variabilität der Metaphorik beschränkt sich nicht auf den jeweiligen edeutungsumfang. Unentscheidbar ist vielmehr, ob die dem Medium zugeeignete Bedeutung, nämlich Mittel, Instrument oder Botschaft, das 'Eigentliche' des Mediums bezeichnet, also im aristotelischen Sinne die Geltung einer klaren, 'einfachen' Vorstellung beanspruchen darf, oder ob diese Wörter nur vorläufige metaphorische Ausdrücke darstellen. Ist ihr Als-Ob-Status nur die innovative, aber abnutzbare Übertragung einer Bedeutung, deren 'ursprüngliche' Herkunft in anderen semantischen Feldern (etwa in der Sphäre mechanischer Werkzeuge) beheimatet ist und auf technische Prozesse nur der Anschaulichkeit halber entlehnt wurde. Erst eine begriffsgeschichtlich orientierte Metaphorologie (H. Blumenberg 1998) des Mediums wird die epistemologischen Felder unterscheiden können, die in den zeitgenössischen Medientheorien virulent sind. Zugleich aber gibt es genügend Anzeichen dafür, dass die Frage nach dem Ort der Medien auch die nach dem Verhältnis von Begriff und Metapher verändert. Eine in diesem Sinne dekonstruktive Metaphorologie der Medien soll hier nun skizziert werden.

Unübersehbar ist zunächst, dass mit der Digitalisierung des sogenannten Medienverbunds metaphorische Als-Ob-Bestimmungen zu wuchern beginnen. Doch diese Wucherung korreliert mit einer seltsamen Unschärfe, die den ontologischen Status der Medien 'selbst' betrifft: Will man nämlich die augenscheinliche Eigenart der Medien gerade im Kontext ihrer digitalen Reproduzierbarkeit und 'Auflösbarkeit' genauer beschreiben, d.h. die Disponibilität, die je eigenen Gebrauchsweisen in ungewohnte inter-mediale Verflechtungen 'übertragen' und aus vorgegebenen Zweck-Mittel-Beziehungen herauslösen zu können, so begegnet man in dieser scheinbar haltlosen Unruhe von Als-Ob-Optionen einer Erschütterung, welche die Unterscheidung von Begriff und Metapher selbst betrifft. Doch dazu später mehr.

Zunächst nämlich möchte ich noch weitere, scheinbar weniger medienimmanente Aspekte benennen, die die epistemischen Grenzen dessen, was die Medialität der Medien ausmacht, porös werden lässt: Die mit der digitalen Codierbarkeit technisch möglich gewordene Übersetzung je singulärer Weisen der Speicherung, Übertragung und Verbreitung, die beispielsweise der Fotographie, dem Film und dem Fernsehen zugeschrieben wurden, lässt sich gewiss- in wie immer vorläufiger raumzeitlicher Metaphorik – als ein 'lokales' Übertragungsgeschehen zwischen den Einzelmedien (und ihren angestammten ästhetischen Formbildungen) beschreiben. Mit der 'globalen' Beschleunigung der digital vernetzen Kommunikationswege verliert diese sozio-geographische Metaphorik des Lokalen ihre Plausibilität. Die in der Theorie der Massenmedien gängige Verortung von 'Ein-Weg-Medien' und 'Zwei-Weg-Medien' etwa, die dem Kommunikationsparadigma der Theorie der Massenmedien zugrunde lag, wird nicht nur wegen der tele-technischen Ausdehnung des Internets und World Wide Webs in soziologischer Hinsicht fragwürdig. Die Ent-Fernung oder Auflösung der vermeintlichen Körpernähe, die vom Telephon bis zum Internet sich steigert, offenbart vielmehr die dem Kommunikationsparadigma immer schon innewohnende Aporie, nämlich die Vorstellung der un-mittelbaren, distanzlosen Gemeinschaftlichkeit, die das Bild der Face-to-Face-Kommunikation suggerierte. Der Begriff der Kommunikation selbst nämlich - normativ verstanden als dialogische Über-Ein-Stimmung oder gar als ungeteilte Verschmelzung zwischen Sender und Empfänger, zwischen Ich und Du - überspringt in der Unterstellung des Gemeinsamen den stets schon medialen Zwischenraum zwischen Sender und Empfänger. Doch eben dieser Zwischenraum der medialen Einrahmung der Kommunikation tritt mit der Diffusion räumlicher Beziehungen von Nähe und Ferne im Internet deutlicher hervor.

Diese heterotope Ortlosigkeit zwischen realen und virtuellen Räumen, von der etliche Medienanalysen sprechen, die sich der theatralen Performanz interaktiver Foren und Marktplätze, virtueller Gemeinschaften und digitaler Städte widmen und hierbei nach der Welthaltigkeit künstlicher Agenten und 'personae' fragen (S. Turkle 1998, E. Esposito 1998, S. Zizek 1999, V. Burgin 1999), zeigt zweifellos, dass die an das vermeintliche Hier und Jetzt körperlicher Anwesenheit gebundenen Identitätsvorstellungen unzureichend sind. Übersetzt man diese im virtuellen Rollenspiel ausagierte Oszillation zwischen Anwesenheit und Abwesenheit in den kategorialen Rahmen der metapsychologischen Theorie, so zeigt sich ernüchternd, dass Intersubjektivität immer schon sprachlich mediatisiert ist und die Unterstellung eines monadologischen Ichs, das sich - face-to-face - im anderen spiegelt, dem imaginären Sog des Kommunikationsparadigmas zugrunde liegt. Das sprechende Subjekt imaginiert im virtuellen Maskenspiel die Verschmelzung oder zumindest Annäherung von Selbstbild und Vorbild, die ihm als sprechendes, d.h. auf den anderen angewiesenes Subjekt verwehrt bleibt. Das Subjekt ist in seiner Subjektivität immer schon ortlos, nie leibunmittelbar, nie mit sich identisch oder mit seinem Selbst konform.

Doch dieser Befund scheint nun – wie Sherry Turkle betont hat - auch augenscheinlicher werden zu können, wenn das zwischenleibliche Sprechen als Übertragungsgeschehen innerhalb telematischer Räume die 'zwischenleibliche Divergenz' (B. Waldenfels 1998: 213f) imaginärer Gestalten oder Gestaltungen vermehrt. In diesem Sinne belegen gerade die multiplen Selbst-Konzepte im Cyberspace, die Turkle in den Maskenspielen der MUDs und MOOs beschrieben hat, die nicht-unitäre Partialität, die den rollenspielenden Identifikationsmustern zukommt. Neu an ihnen ist nur, dass ihre operative Emergenz in der asynchronen und körperlosen Fernkommunikation des Internet statt 'falscher realer Objekte' nunmehr 'wahre virtuelle Objekte' (E. Esposito 1998: 270) generiert und diese untereinander kommunizieren lassen kann. Der nicht zugängliche Ort des Abwesenden oder Anderen freilich, der den fiktionalen Raum imaginärer Einheitlichkeit, Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit ebenso freisetzt wie unterbricht, ist nicht 'real' überführbar in einen fiktiven Raum, in der die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz 'realiter' aufgehoben wäre: 'Der Raum, in dem der Cyberspace installiert wird, ist so wenig ein Cyberspace, wie das Bett, in dem der Träumende ruht, ein geträumtes Bett ist.' (B. Waldenfels 1998: 239)

Alle drei bisher genannten Momente - die Durchlässigkeit des digitalen Mediums, die Fernanwesenheit telematischer Räume und die Rollendiffusion im Cyberspace - haben es mit der noch nicht näher bestimmten permissiven Sphäre des 'Als-Ob' zu tun. Dieser Durchlässigkeit verdankt sich, wie jeder Streifzug durch die zeitgenössischen Medientheorien belegt, das Wechselspiel metaphorischer und begrifflicher Distinktionen in der Definition der Medialität der Medien. Ich wähle einige exemplarischeDefinitionen von Turkle, um zu zeigen, dass der Umweg einer Metaphorologie der Medien sich lohnen könnte.

Es ist der umfangreichen Studie Sherry Turkles über virtuelle Rollenspiele und das phantasmatische 'Leben im Netz' (S. Turkle 1998) zuzustimmen, dass die Vorgabe der 'Netheads', nämlich das zu sein, was sie zu sein vorgeben, also 'viele' Persönlichkeiten, Ausgangspunkt einer Metaphorologie von Selbstbildern und Vorbildern innerhalb der telematischen Kommunikation sein könnte: 'Jede Epoche konstruiert ihre eigenen Metaphern psychischen Wohlbefindens.' (S. Turkle 1998: 415). Sherry Turkle analysiert kenntnisreich die Bedeutungsverschiebung, die das so genannte MUDDING als ein soziales Phänomen in der textbasierten Virtuellen Realität erhalten hat. In ihrer Untersuchung zur Entwicklung der Multi User Dimensions (MUD), die in den Labors u.a. von Xerox PARC und vom Media Lab am MIT entworfen und programmiert wurden, vermag sie sehr anschaulich die wenig beachtete Geschichte der imaginären bzw. metaphorischen Übertragung von jugendlichen Adventure Games und Rollenspielen der sogenannten Commodore- oder C64-Generation auf die Desktop- und Objekt-Metaphern der erst später realisierten Computerprogramme für 'Erwachsene' zu erzählen. Dies berührt die hier nicht zu beantwortende Frage nach dem Verhältnis von Einbildungskraft und technischer Erfindungslust im Bereich pubertärer Identifikationsräume. Die Verschiebung der Wortbedeutung von MUD, die Turkle nachgewiesen hat, soll hier aber zumindest als Anhaltspunkt ausführlich zitiert werden: 'Anfang der siebziger Jahre trat das Spiel Dungeons and Dragons (Kerker und Drachen), das auf einem realen Rollenspiel beruht, seinen Siegeszug an. Dabei erschafft der Dungeon Master, der Kerkermeister, eine Welt, in der die Mitspieler fiktive Rollen übernehmen und vertrackte Abenteuer erleben. Das Spiel ist eine regelgeleitete Welt, die von Charismapunkten, magischen Ebenen und Würfeln bestimmt wird. Viele Mitglieder der gerade entstehenden Computerkultur erlagen der Faszination des Dungeon-and-Dragon-Universums mit seinen Monstern und Magien, wo die Welt ein Labyrinth war, dessen Geheimnisse es zu lösen galt. Im Adventurespiel, einer Gattung der Computerspiele, fand eine ganz ähnliche Ästhetik Anwendung. Dort mussten die Spieler durch ein Labyrinth von Räumen hindurchfinden, die ihnen durch Textbeschreibungen auf einem Computerschirm präsentiert wurden. So kam es, dass das Wort 'Dungeon' Eingang in die High-Tech-Kultur fand und dort einen virtuellen Ort bezeichnete. Wenn man also virtuelle Räume schuf, in denen sich viele Computerbenutzer tummeln und zusammenarbeiten konnten, dann waren das Multi-User Dungeons oder MUDs, eine neue Form sozialer virtueller Realität. Zwar sind manche Spiele aufgrund der Software, die sie benutzen, strenggenommen MUSHes oder MOOs, doch bezeichnet man heute mit dem Substantiv MUD und dem Verb MUDden alle Mulit-User-Welten. Da sie im Laufe der Zeit von immer mehr Spielern bevölkert wurden, die Dungeons and Dragons nicht mehr kannten, wird MUD heute manchmal auch mit Multi-User-Domäne oder Multi-User-Dimension übersetzt.' (ebenda: 290-291).

Ob freilich mit der - negativ wie positiv bewertbaren – Aufspaltung in eine multiple Persönlichkeit , die das rollenspielende Mudding des Simulationszeitalters vervielfältigt, eine neue Epoche anbricht, ist eine wohl voreilige These, zumal sie die Metapher des 'Selbst' selbst unberührt lässt. Gewiss kann durch Fremderfahrung, dank derer ja jedes imaginär antizipierende Rollenspiel nur möglich ist und eine Erweiterung der zwischenleiblichen Selbsterfahrung gewinnen kann, die Fragwürdigkeit des 'unitären Selbst' (ebenda: 421) sichtbarer geworden. Ob aber mit den 'parallelen Entwürfen' der Netzkommunikation gleich ein 'gesundes, nichtunitäres Selbst' (ebenda: 425) geboren sei und mit ihm die 'Vision einer multiplen, aber integrierten Identität [...], deren Flexibilität, Elastizität und Genussfähigkeit aus dem freien Zugang zu unseren vielen Selbsten (H.v.m) herrührt.' (ebenda: 438), ist fraglich. Die 'gesunde' Metapher von der flexiblen, freien Wahl gleicht er derjenigen der Werbung und – so der Gestus Turkles – scheint ihre metaphorische Bedeutung für bare Münze zu nehmen: So wird, um nur ein Beispiel zu nehmen, die 'verknüpfungsoffene' Homepage, weil metaphorisch konstruiert, zur 'postmodernen Wohnung des Selbst' (ebenda: 421) stilisiert. 'Metaphern' – so Turkle – 'verstärken die Fähigkeit des Internet, landläufige Identitätskonzepte zu verändern [...] Auf diese Weise werden wir darin bestärkt, uns als wandlungsfähige, emergente, dezentrierte, multiple und flexible Subjekte in einem ständigen Prozess des Werdens zu betrachten.' (ebenda: 430). Dass Metaphernbildung für die Selbstkonstitution des Subjekts grundlegend ist, ist eine These von Sherry Turkle, die sie der Theorie Lacans entnommen hat. Doch diese situiert die Metapher nicht auf der semantischen Oberfläche des Bildes oder der Analogie. Man bliebe nämlich so auf der Ebene der Selbstbilder und mithin der unendlichen Quadratur von imaginären Ich-Prüfungen, die sich im Kreise drehen (Metapher der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit etwa als postmoderne Norm).

Die Metapher, die das Subjekt trägt, ist als radikal heterogene Scheidelinie zwischen Signifikant und Signifikat vielmehr 'der Effekt, in dem ein Signifikant einem anderen in der Kette [der Signifikanten] substituiert wird, ohne durch irgend etwas Natürliches für diese Funktion als Phora prädestiniert zu sein [...]' (J. Lacan 1975: 57). Dass und wie das Begehren als Quelle der Metaphernbildung zu situieren ist, zeigt das amüsante Beispiel, das Lacan in dem zitierten Text Freuds Fallanalyse zum 'Rattenmann' entnimmt. Ein metaphernreicher Vorwurf oder Anwurf fällt dem Subjekt gerade dann ein, wenn es glaubt, der andere hätte ihm ein fundamentales Unrecht zugefügt. Dann dichtet das eine Subjekt dem anderen beliebige Eigenschaften an: 'Die radikale Metapher erscheint in dem Wutanfall, den Freud von dem Kind berichtet, das, noch unbewaffnet in seiner Patzigkeit, wie sein Rattenmann es war, bevor er dann zwangsneurotisch wird, seinen Vater, der sich ihm widersetzt, anschrie: 'Du Lampe, du Handtuch, du Teller', wobei der Vater nicht sicher ist, ob er in dem Gesagten ein Verbrechen oder das Genie erkennen soll.' (ebenda: 58). Der Nicht-Sinn dieser Metaphorik, der die 'Metonymie des Begehrens' unterhält und (wieder-) aufrichtet, ist als solcher eine 'Falschheit, unbegreifbar-unangreifbar, unergründlich, Woge und Tal eines apeiros des Imaginären, in dem jegliches Gefäß versinkt, das aus ihm schöpfen wollte.' (ebenda: 57)

Dezentrierung und Dekonstruktion werden also in den Bildern des Selbst, die Sherry Turkle Revue passieren lässt, neopragmatisch übersetzt und damit fast schon zu einer abrufbaren Handlungsanweisung operationalisiert, ohne deren jeweilige Einrahmung denken oder verändern zu können. Die Kluft zwischen Dezentrierung und Opportunismus wird unscharf, Dekonstruktion beinahe zu einem erlernbaren Rollenspiel, zu einem habitualisierbaren Gleichnis bzw. zu einer bewohnbaren Metapher.

Nun die abschliessende These über die Metaphorizität der Medien:

Die Entgegensetzung zwischen figürlicher und eigentlicher Bedeutung steht zur Disposition. Und mit ihr die hierarchische Wertigkeit von Begriff und Metapher. Dekonstruiert man diese in zeitgenössischen Medientheorien durchaus virulente Metaphorik des Leiblichen und Instrumentellen nicht, werden - unter positivem wie negativem Vorzeichen - nach dem anthropologischen Schema der Ähnlichkeit metaphorische oder imaginäre Ersetzungen vorgenommen und diese als das eigentliche Wesen des Menschen oder der Technik apostrophiert. Wenn beispielsweise die Turingmaschine als vollständiger Ersatz des transzendentalen Subjekts und das elektronische Netz als Verkörperung des 'Gehirns' bezeichnet wird, so sind dies modellierende Metaphern, die die ihr vorgängige Metaphorisierbarkeit d.h. den Spielraum der Ersetzbarkeit selbst - immer schon übersprungen haben. Erst die Bestimmung der Metapher als unvordenkliche Übertragbarkeit (Derrida 1988) konturiert einen Selbstentzug des Metaphorischen, der uns erlaubt, die Medialität der Medien dem anthropologischen wie instrumentellem Technikverständnis zu entziehen. Wie kann nun gerade am technischen Vorbehalt des digitalen Mediums gegenüber den ihm zugeeigneten metaphorischen Wendungen bzw. Verwendungen gezeigt werden, dass der Vorbehalt des Mediums gegenüber dem, was es überträgt, einen Vorbehalt oder 'Vorenthalt' umschreibt, der dem Medium zukommt, insofern es seine Definition als einem bloßen Mittel übersteigt?

Die 'uneigentliche' Metaphorizität des Medialen bekundet sich schon im informationstechnischen Diskurs über den Computer als Medium. Die hybride Maßlosigkeit, Unreinheit und Uneigentlichkeit zeigt sich ja nicht nur im massenmedialen Umbruch des digitalen Medienverbunds, in der irritierenden Fusion oder Verschmelzung heterogener Einzelmedien wie Fernsehen, Internet und Telekommunikation, die in jüngster Zeit in den Programmen und Visionen der Politiker, Designer, Nutzer und IT-Unternehmen bilderflutend umworben wird. Maßlos(er) an sich selbst wird mit der digitalen Codierbarkeit der Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Signalen und Daten auch der Umfang und die Gestaltung des zu Übertragenden selbst. Übertragbarkeit bezieht sich also vielleicht unmittelbarer als in früheren mediengeschichtlich relevanten Einschnitten nicht mehr nur auf die Konkurrenz angestammter medialer Darstellungsweisen. Die Ausdifferenzierung etwa der Ästhetik des Theaters und des Kinos (die natürlich keine endgültige – im Sinne eines historisch fixierbaren Datums - ist) ist – zumindest für ihre Geschichtsschreibung - überschaubarer als der immaterielle Raum des digitalen Mediums, in dem dank der beliebigen Zitierbarkeit oder Exponierbarkeit nunmehr Erzählweisen und Darstellungsformen der Photographie, des Films, des Theaters und der Videokunst (um nur einige prominente Beispiele zu erwähnen) in ihrer Konfigurierbarkeit offener, beliebiger, manipulierbarer werden.

Die Interferenz zwischen alten und neuen Medien, genauer: die zunächst technisch mögliche, ästhetisch keineswegs ausgelotete Überlagerung von heterogenen Weisen der Sichtbarkeit, Hörbarkeit usw. (L. Wiesing 1997) zerstreut nicht nur den referentiellen Horizont des je pragmatischen Mediengebrauchs, sondern den Spielraum des Medialen selbst. Die Struktur der digitalen Metaphorik, nämlich sinn-indifferent wie das arbiträre Zeichen nicht nur Inhalte (Botschaften) sondern unterschiedliche Weisen der Übertragung übertragen zu können, macht den medial eingerahmten Charakter von Welt-Repräsentationen, kulturellen Normen und pragmatischen Gebrauchsvorschriften deutlicher. Doch diese Vor-Gegebenheit des digitalen Signifikanten weist ihrerseits keine unmittelbare Evidenz auf. Sie artikuliert sich vielmehr als Unterbrechung und Aufschub medialer Metaphorisierungen, deren Vielfalt dem übertragenden, binären Code 'selbst' gleich gültig und gleichgültig sind.

Man kann hier von einer Selbstdekonstruktion des instrumentellen Begriffs des Mediums als Mittel für vorgegebene Zwecke sprechen. Denn gerade die allgemeinste, immer noch werkzeughaft gewendete Definition des Computers als eines universellen Mediums der symbolischen Verarbeitung von Zeichen und symbolischen 'Maschinen' verweist auf eine im traditionellen Begriff der Metapher nicht aufgehende Metaphorik. In dieser Bestimmung des Computers als Medium ist nicht nur die Vielfalt seiner Verwendungsmöglichkeiten aufbewahrt. Vielmehr ist in dem 'als' die Metaphorizität des Metaphorischen zutage getreten: Der Computer als Rechenmaschine weist keine andere Eigentlichkeit auf als seine Verwendung als Schreibmaschine oder Kommunikationsmedium. Anders gesagt: der an sich selbst uneigentliche Spielraum von Als-Ob-Bestimmungen ist dem digitalen Medium weder inhärent noch äußerlich. Vielmehr markiert die Indifferenz rein stellenwertiger Optionen die Zunahme intermedialer Re-Präsentationen. Die gestaltwechselnde Offenheit der Digitalität supplementiert jedwede 'ontologische' Identität des Computers als Rechner, d.h. sie schiebt sie auf. Man kann diese zweckindifferente Nähe der Wendbarkeit des digitalen Mediums mit der interesselosen Technik der Kunst in Beziehung setzen. Doch die Loslösbarkeit von instrumentellen Bezügen, die gemeinhin dem Ästhetischen als Ort des 'interesselosen Wohlgefallens' zugeschrieben wurde, ist keine unmittelbar gegebene. Unter digitalem Vorzeichen lässt sie sich aber anders gewichten als im ästhetischen Diskurs des Genies, des Schöpfers oder Autors. Zum Fokus des Ästhetischen wird nämlich der differentielle Spielraum des Verschwindens und Erscheinens selber. Das Fragmentarische durchkreuzt gleichsam nun seine Bestimmung, bloß als unvollständig zu gelten (Derrida 1994, Nancy 1994). Diese Oszillation zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, die sich mittels moderner Multimedien in jedem Wortsinne 'augenscheinlicher' inszenieren lässt, könnte das Verhältnis von Technik und Ästhetik reformulieren helfen: Die Indifferenz des digitalen Mediums gegenüber Zeichen, Tönen, Bildern, Poetiken usw. verweist auf ein In-Differenz-Sein der Technik selbst, auf ihren un-eigentlichen Zwischenraum, den die Ästhetik stets neu kon-figuriert.

Für den Salon am Montag, den 8.4., 19-21.00 Uhr möchte ich vorschlagen, dass wir an die folgenden Aüsserungen von Peter Weibel im Zäsuren.- Interview unmittelbar anknüpfen. Statt fixierte Fragen allerdings würde ich als Moderator, um produktiv zu scheitern, so vorgehen: wir treffen im Salon ein und beginnen so 'spontan', wie es in alten Club Voltaires oder Caféhäusern zuging und fragen uns, was dort anders war als in und mit diesem von Walter Grond und Johannes Fehr und dem Collegium Helveticum vorgegebenen MOO.

W: Gewiß. Das Visuelle dehnt sich enorm aus, weit über das hinaus, was bisher als Bild gegolten hat - nämlich als Kunst. Bei der Malerei war immer klar, daß ein Bild ein Kunstwerk war, denn Künstler hatten es gemacht. Die Künstler waren Experten. Sie hatten ein Monopol auf die Bilder, und was immer sie machten, war Kunst. Gewiß konnte man darüber streiten, ob es gute oder schlechte Kunst war. Aber es hat keine anderen Bilder gegeben außer diesen. Mit dem Auftauchen der Fotografie veränderte sich das bereits. Nicht zu jedem Bild, das aus der Maschine kam, konnte man sagen, es sei Kunst. Nicht umsonst gab es diesen langen Streit über die Fotografie als Kunst oder Nicht-Kunst. Das kennen wir, und nach 150 Jahren ist dieser relativ harmlose Streit vorbei. Heute sagen wir nämlich, ein kleiner Teil der Fotografie sei Kunst, der Rest sei nicht Kunst. Aber das geht heute noch viel weiter. Denn heute haben wir es außerdem mit Film, Video, Computerbildern und anderem zu tun. Das Universum der technischen Bilder explodiert enorm. Und der Teil dessen, was wir Kunst nennen, wird immer geringer. Also kann man voraussehen, daß die Kunst immer marginaler wird und sich die Kunsttheorie nur noch mit dem winzigen Teil der Bilder beschäftigt, die als Kunst gelten und im übrigen immer weniger Menschen interessieren. Die Alternative besteht deshalb darin, eine Bildtheorie im Rahmen einer visuellen Kultur zu schaffen, die auch diese gewaltigen Bereiche der Bildproduktion umfassen kann. Erst so könnte auch den Künstlern die Möglichkeit gegeben werden, sich vom eingefahrenen Kanon dessen, was "kunstfähig" sei, zu trennen. Man kann übrigens, wenn man genau hinschaut, längst sehen, daß Künstler auf versteckte Weise versuchen, in andere Gebiete zu gehen. Ich denke beispielsweise an Jürgen Klauke. Wenn sich Klauke am Flughafen hinlegt und die Bilder, die dabei entstehen, aufbläst, wenn Polke bestimmte Materialprozeduren der Alchemie oder der Fotografie in seine Malerei hineinbringt - dann sind das bereits Versuche, aus diesem Kanon auszubrechen und in den Freiraum technischer Bilder einzutreten.

L: Das Visuelle würde das Bild also übersteigen oder überborden. Und dies ist ein Vorgang, der unmittelbar mit medial-technologischen Schüben zu tun hat, deshalb aber auch traditionelle Kunstbegriffe zerreißt. Ich denke, diese Zerrissenheit ist Signum der Situation...

W: Abstrakt kann man zwei Dinge sagen. Die Mehrzahl der Bilder ist heute per se nicht mehr Kunst. Und die Mehrzahl der Bilder wird auch nicht mehr von Künstlern gemacht. Der Künstler ist, ohne dies bemerkt zu haben, einem unerhörten Wettbewerb ausgesetzt. Der Mediziner macht Bilder, besonders seit den 70er Jahren, der Astronaut macht Bilder, der Astronom macht Bilder, der Physiker macht Bilder. Die gesamte Naturwissenschaft erlebt eine Rückkehr des Bildes von enormem Ausmaß. Ein Beispiel: Lagrange, einer der größten Mathematiker des 19. Jahrhundert, konnte in einem Vorwort noch schreiben: "Dies ist ein mathematisches Buch, deshalb finden Sie hier keine Zeichnungen oder Bilder." Das war der Höhepunkt der Verbannung des Bildes aus der Wissenschaft. Bilder galten als minderwertig, waren etwas für Dummköpfe. Aber schließlich hat Heinrich Hertz - übrigens hier in Karlsruhe - versucht, das Wesen der Elektrizität durch Zeichnungen festzustellen. Er hat monatelang gezeichnet, um sich ein Bild davon machen zu können, wie eine dieser Funkenentladungen aussieht. Tatsächlich hat die Physik immer mit Bildern gearbeitet. Aber der mathematische Kanon stand unter einem Bilderverbot. Die berühmten Fraktale, die jeder kennt, sind ja auch keine Kunst. Aber was sie zeigen, ist die Rückkehr des Bildes in die Naturwissenschaft.

T: Das würde allerdings auch bedeuten, daß die Beziehungen zwischen dem Bild und dem Visuellen mit dem Computer eine neue Stufe der Virulenz bekommen.

W: Natürlich. Bis zur Einführung des Computers hat die NASA nur Bücher gehabt, in denen Ziffern standen. Niemand konnte sich von diesen komplexen Datenmengen ein Bild machen. Aber der Computer war imstande, diese Bücher voller Ziffern, die nur wenige Ziffernkundige verstehen konnten, zu visualisieren. Plötzlich waren Bilder wieder eine Größe in Naturwissenschaft und Technik. Und das ist das einzige Verdienst der Fraktale. Das 19. Jahrhundert hatte abgedankt. Der Computer hat es durch die "scientific visualisation" ermöglicht, nicht etwa Beziehungen zu Objekten, sehr wohl aber abstrakte Datenmengen darzustellen und damit Beziehungen zwischen den Daten sichtbar zu machen. Das verstärkt sich in allen Bereichen, in der Medizin ebenso wie in der Mathematik, seit etwa zwanzig Jahren in einem ungeheueren Ausmaß. Es handelt sich um eine große Rückkehr des Bildes in die Naturwissenschaften. Aber damit entsteht für den Künstler auch eine völlig neue Konkurrenz, denn auch der Naturwissenschaftler macht wieder Bilder. Und ich würde sagen, die naturwissenschaftlichen Bilder sind viel notwendiger als die künstlerischen. Der Freiheit der künstlerischen Bilder steht die Notwendigkeit der naturwissenschaftlichen gegenüber. Wenn ich die Lunge oder das Herz durchleuchte oder das Modell eines Hirntumors entwickeln muß, dann brauche ich diese Bilder unbedingt. Dagegen brauche ich die Kunstbilder, die ich mir über das Sofa hänge, weniger. Diese Tatsache, daß sich auch die Naturwissenschaften der Bilder bemächtigt haben, führt natürlich zu einem neuen Streit. Das gehört zu den Hintergründen des "science war". Das Universum der Bilder hat sich ausgedehnt, und die Kunst hat sich mit diesem Prozeß - leider! - nur zu einem kleinen Teil beschäftigt. Also steht ein Museum oder ein Zentrum wie das unsere vor der Aufgabe, eine Bildtheorie zu entwerfen, die nicht nur für diesen kleinen Teil der kunstfähigen Bilder zuständig ist, sondern für den gesamten Bereich des Visuellen gilt.

T: Ich würde hier gern die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Medien anschließen oder die nach dem Verhältnis von aisthesis und Medialität. Momentan verändern sich durch das digitale Medium oder im Zwischenraum zwischen analogem und digitalem Medium die Formsprachen der Kunst. Das reicht von der Tanzchoreografie von Pina Bausch bis zu Forsythe und über die Installationskunst bis hin zum postdramatischen Theater. Was wird dort gemacht? Meines Erachtens ist sehr spannend, daß man malerische, fotografische, filmische Darstellungs- und Erzählweisen durch die multimediale oder intermediale Verwendung von Konstellationen ironisch, fast karnevalesk ausstellt und neue Erzählweisen im künstlerischen Sinn entwickelt. Ist damit nicht auch ein Blickverhältnis gesetzt, das den ikonischen und kunsthistorischen Bildbegriff kritisieren könnte? Im Augenblick redet man etwas verkehrt, wie ich finde, davon, daß es nach dem "linguistic turn" nunmehr einen "iconic turn" gibt. Liegt dort nicht ein Mißverständnis vor? Ich habe nur den Theaterbereich erwähnt. Verschiebt sich aber das textuelle Gefüge nicht auch in den anderen Bereichen? So, daß neue experimentelle Performanzen entstehen? Wie sehen Sie das im weitesten Sinn experimenteller Kunstformen? Müßte man sich nicht vom monozentristischen Subjekt-Begriff des Auges als Sehpunkt entfernen, wie er in der Renaissance aufgetaucht war? Lacan, der hier mein Gewährsmann ist, sagt: ein Blick ist ein unsichtbarer Rand, mit dem sich Hörbarkeits- und Sichtbarkeitsverhältnisse verschieben...

W: Ich denke auch, daß die Intermedialität ein zentraler Begriff gegenwärtiger Praktiken ist. Die Inter-Kontextualität spielt eine ganz extreme Rolle. Eine Tanz-Performance bezieht sich ja nicht mehr allein auf den Blick aus dem Zuschauerraum, der ja immer mit einer Guckkastenperspektive zusammenfällt. Vielmehr bezieht sich Forsythe auf reale oder imaginäre Video-Kameras oder auch auf reale oder imaginäre Gegenstände. Da geht es also um multiple Perspektiven und nicht mehr nur um die eine des Zuschauerraums. Oder es geht um gespeicherte Informationen - etwa um den Film, wenn auf der Bühne Bewegungen auftauchen, die man aus dem Kino oder aus anderen Medien kennt. Während sich also selbst die Performance oder das postdramatische Theater noch auf ein gewisses Sein des realen Körpers bezogen haben, selbst bei Handke übrigens, gibt es jetzt einen gewaltigen Sprung. In den 60er Jahren wurden die verschiedenen Medien eigentlich nur additiv aufeinander bezogen. Beispielsweise wurde ein Stück geschrieben, dann kam Musik dazu oder irgendein anderes Medium. Das nenne ich additiv. Heute ist entscheidend, daß jeder weiß: der Tanz ist ein Medium, die Musik ist auch ein Medium - und sie beziehen sich aufeinander. Das neue also ist, daß sich diese Formen nicht mehr auf die Realität, sondern daß sich die Medien aufeinander beziehen. Ich nenne das gern das "mapping" der Medien. Die Medien bilden sich gleichsam wechselseitig ab und haben sich von der Realität beispielsweise des Bühnenraums oder des Körpers weit entfernt. Und dort beginnt dann das neue Spiel der Inter-Medialität oder Inter-Kontextualität. Was für uns natürlich von besonderem Reiz ist.