Claudia Spinelli

Selbstbewusst und radikal – die Bildhauerin mit der Kamera

Über Hannah Villiger

Hannah Villiger, 1997 im Alter von erst 46 Jahren viel zu früh verstorben, hat sich längst als Klassikerin in der jüngeren Schweizer Kunstgeschichte etabliert. Tatsächlich haben ihre Körperbilder bis zum heutigen Tag nichts an Aktualität eingebüsst. Obwohl Hannah Villiger ihr künstlerisches Grundvokabular bereits vor mehr als 25 Jahren entwickelt hat, vermittelt sich in ihren Fotografien ein in seiner Bedingungslosigkeit zeitloser Wahrheitsanspruch. Dieser vermag auch der Wirklichkeitserfahrung in einer massenmedial geprägten Welt standzuhalten, für die es jenseits der Oberfläche keinerlei Wahrheit mehr gibt.

Zentrum der Arbeit Hannah Villigers war ihr eigener Körper. Er war beides zugleich, Arbeitsmaterial und den bildlichen Horizont bestimmender Orientierungspunkt. Ihr eigentliches Arbeitsinstrument war die Polaroidkamera, die sie mal aus unmittelbarer Nähe, mal bis aus Armeslänge auf ihren eigenen Körper richtete. Sie fügte Füsse und Arme, Schulter, Bein und Brust zu neuen Identitäten, drehte und wendete diese so lange, bis das Bild ihrer Vorstellung entsprach. In der Einsamkeit ihres Ateliers schoss sie Tausende von Bildern, die sie sorgfältig sortierte, um sie, einzeln oder zu mehrteiligen Blöcken gruppiert, auf ein überlebensgrosses Format zu bringen und in die Architektur des Ausstellungsraumes zu integrieren.
Für gängige Schönheitsideale hat sich Hannah Villiger nie interessiert: die Distanz- und Schonungslosigkeit, mit der die Körperfragmente ins Bild gebracht werden, ist auch heute noch irritierend und bisweilen schwer auszuhalten. Die Unmittelbarkeit des Zeigens verflacht den referenziellen Charakter der Fotografien, verleiht ihnen eine unergründliche, geheimnisvolle Aura. In dieser Spannung zwischen Reduktion und enigmatischer Aufladung liegt denn auch die anhaltende Faszination, ja, die eigentliche Schönheit der Arbeiten von Hannah Villiger begründet.

Mit der Konzentration auf ihren eigenen Körper scheint Hannah Villiger zunächst innerhalb einer künstlerischen Tradtion der Selbstbeobachtung und Selbstinszenierung zu stehen, wie sie bis heute unter immer wieder anderen Vorzeichen in den verschiedensten Gattungen betrieben wird. Die Liste ist lang, sie führt, um nur einige wenige Namen zu nennen, von Urs Lüthi über Jürgen Klauke zu Cindy Sherman, von John Coplans über Elke Krystufek bis zu Orlan. Bei all diesen Künstlerinnen und Künstlern bildet der eigene Körper einen wichtigen Orientierungspunkt, der indessen immer wieder anders ins Spiel gebracht, immer wieder anders inszeniert und thematisiert wird.
Die Insistenz, mit der die jahrzehntelange Arbeit mit und am eigenen Körper betrieben wird, bringt Hannah Villiger auch in die Nähe der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, deren gesamtes Schaffen um die eigene Person kreist. Wenn der wohl berühmteste Roman der Französin, L’Amant, mit dem Motiv des eigenen Gesichts beginnt, dann geht es dort um einen Versuch, die Veränderung des Äusseren über eine innere Entwicklung zu begründen. Oder anders herum formuliert: mit der abrupten Veränderung von einem reinen zu einem verwüsteten Gesicht wird das Äussere bei Marguerite Duras zur Metapher für eine innere Entwicklung. Ganz anders Hannah Villiger: Die Art und Weise, wie sie ihren Körper ins Bild setzt, kommt der Konzentration auf eine Oberfläche gleich, die, mit der Bildhaut verschmolzen, zunächst vollkommen selbstreferentiell verstanden werden muss. Es sind nicht die Verweise auf ein Inneres, die Hannah Villigers Körperbildern Sinn verleihen würden. Sinn ergibt sich aus der Unmittelbarkeit, in der das Publikum mit Körperlichkeit konfrontiert wird. Während sich Marguerite Duras an der eigenen Geschichte orientiert und ihr Äusseres über einen Rückgriff auf fiktive und tatsächliche Begebenheiten zu entschlüsseln sucht, ist Hannah Villigers Arbeit von einem Impuls getragen, der in die genau entgegengesetzte Richtung weist. Die eigene Geschichte wird aus dem Bild zurückgedrängt. Narration wird vermieden, das Bild so weit wie nur möglich entfiktionalisiert. Wenn Marguerite Duras schreibt, dass das einzige Bild, das ihr gefalle, ihr junges, spurenloses Gesicht zeige, dann könnte man sagen, dass das einzige Bild, an dem Hannah Villiger Gefallen findet, ein von aller Schwerkraft, konkreter Biografie und gesellschaftlicher Vereinnahmung befreites Bild ihres Körpers ist. Darin unterscheidet sie sich denn auch weitgehend von den oben erwähnten Künstlerinnen und Künstlern: Während John Coplans die Vergänglichkeit seines eigenen Körpers thematisiert, könnte man die theatralischen Selbstinszenierungen von Jürgen Klauke oder Urs Lüthi unter dem Aspekt des Rollenspiels subsumieren. Cindy Sherman untersucht die mediale Konstruktion von Identität, während sich Elke Krystufek zu einer sexualisierten Kultfigur stilisiert und Orlan mediale Schönheitsideale am eigenen Körper blutig durchexerziert. Im Gegensatz zu diesen Positionen, die den Körper unter die Perspektive seiner gesellschaftlichen Vereinnahmung stellen, kulturelle Wertigkeiten und Hierarchisierungen fokussieren, erzeugt Hannah Villigers an Grundsätzlichem orientierte Konzeption immer wieder neue Reibungsflächen. Ihr Werk wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die Gesellschaftliches und Mediales ebenso tangieren, wie sie das menschliche Dasein in seiner ganzen Grundsätzlichkeit umkreisen.

Der Umgang, den die Bildhauerin Hannah Villiger – als die sie sich zeitlebens bezeichnete – mit der Kamera pflegte, unterscheidet sich ganz wesentlich von einer herkömmlichen Fotografie: Tatsächlich richtete sie ihren Fotoapparat nicht auf die Aussenwelt, um sich diese in ihren Bildern anzueignen, sondern sie benutzte die Kamera als ein Instrument, um mit und an ihrem eigenen Körper zu arbeiten, immer wieder neue Bilder aus ihm herauszumeisseln. "Tun wir so, als bestünden wir aus zwei Personen", umschrieb Hannah Villiger zwar das Verhältnis zu ihrer Kamera, mit der sie jedoch eine Vertrautheit pflegte, in der sich die Unterscheidbarkeit zwischen eigenem und fremdem, subjektivem und objektivem Blick in ebenso vielschichtigen wie gegenläufigen Konstellationen verwischt.
Der eigentliche künstlerische Akt vollzieht sich in der Intimität ihres Ateliers, definiert sich durch einen dezidierten Ausschluss des Sozialen. Wenn auch die Künstlerin die Kamera von aussen gegen ihren Körper richtet, so bleibt die Distanz zwischen Objektiv und Haut doch auf einen intimen Raum beschränkt, wie er sich aus der Reichweite ihres Armes, also aus der Körperhaltung der Künstlerin ergibt. Die Kamera als Verkörperung einer ominösen zweiten Person ist demnach eine prothetische Verlängerung, eine mechanische Erweiterung des eigenen Blicks. Und dieser Blick ist, ganz im Sinne einer Bilhauerin, ein kontrollierender, beherrschender Blick. So direkt die Konfrontation ist, so ungeschönt Haut und Glieder gezeigt werden, durch die dezidierte Trennung zwischen dem performativen Akt des Fotografierens und der öffentlichen Ausstellungssituation bleibt die eigentliche Privatsphäre der Künstlerin unangetastet, wird die Zurschaustellung einer konkret bestimmbaren Identität doch durch die nachträgliche Auswahlarbeit bewusst vermieden.

Mit dieser Konzeption unterscheidet sich Hannah Villiger denn auch ganz wesentlich von feministischen oder gesellschaftskritischen Positionen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, wie Marina Abramovic, Carolee Schneemann, Ulrike Rosenbach oder Valie Export. Letztere zum Beispiel stellte ihren Körper in den Brennpunkt von Aktionen und Performances, die darauf ausgerichtet waren, den Körper als einen Ort ins Bewusstsein zu bringen, wo sich gesellschaftliche Machtverhältnisse mit grösster Deutlichkeit abzeichnen. Das "Tapp- und Tastkino", bei dem männliche Passanten den hinter einem Vorhang verborgenen Busen der Künstlerin betatschen durften oder auch die "Genital-Panik Hose", welche die Scham den sonst bekleideten Künstlerin freilegte, und natürlich auch der Spaziergang, bei dem Export ihren Partner Peter Weibel als Hund an der Leine mit sich führte, waren alle darauf ausgerichtet, die herrschenden Normen durch öffentliche Provokation in Frage zu stellen. Gegenüber dem von Patriarchatskritik geprägten Vokabular dieser Künstlerinnen bewegt sich Hannah Villiger in einem Feld, das man in seiner an Grundsätzlichem orientierten Konzeption als vorsprachlich bezeichnen könnte.

Dies ist umso bemerkenswerter, als Hannah Villiger ja ihren nackten Körper fotografierte, also in einem Bereich ansetzte, der kunsthistorisch und medial gemeinhin von einem einseitigen Machtgefälle zwischen Betrachter und weiblichem Bildobjekt geprägt ist. Durch den Ausschluss des Sozialen, und dadurch, dass Hannah Villiger beide Positionen, die des betrachteten Objektes wie auch des betrachtenden Subjektes nicht nur für sich beanspruchte, sondern vorallem auch im Ergebnis kontrollierte, gelang es ihr, sich einen von jeder gesellschaftlichen Vereinnamung befreiten Raum zu erschaffen. Mit dieser auf Loslösung ausgerichteten Vorstellung von Körperlichkeit nimmt Hannah Villiger innerhalb des Gros der Body-Art eine vollkommen eigenständige, wenn nicht sogar einsame Position ein. Ohne diesen zu negieren, rückte Hannah Villiger ihren eigenen Körper in den Fokus einer grundsätzlichen, gewissermassen protoindividuellen Körperlichkeit. Ihre bildnerische Auffassung führte zu offenen Bildsystemen, die, als im wesentlichen selbstreferentielle Bildobjekte, ihren Ort erst innerhalb der Architektur des Ausstellungsraumes finden und in der Konfrontation mit dem Publikum ein ebenso intensives wie vielfältiges Eigenleben entwickeln.

Diese strukturale Offenheit bringt Hannah Villigers Arbeit in die Nähe von Frank Stella, dessen in Streifen gegliederte Leinwände einem Verständnis folgen, das Bild als reine, selbstreferentielle Oberfläche zu begreifen, bildlichen Illusionismus also zugunsten eines Prinzips von Bedeutsamkeit zu verdrängen, das erst im Erleben durch die Betrachtenden zum Tragen kommt. Nun malte Hannah Villiger aber keine Streifen, sondern fotografierte ihren Körper und brachte sich als exemplarisches Selbst ins Spiel. Das Bild wird damit, wie bereits bei Jackson Pollocks gestischer Malerei, zu einem Träger lebendiger Körperlichkeit. Geht es bei diesem aber um eine dynamische Bewegung, die sich als Ergebnis einer heftigen Entladung auf der Leinwand abbildet, geben sich Hannah Villigers Bilder von Körperausschnitten gleichsam verhalten. Aus dieser Perspektive wird ihre Konzeption – so erstaunlich dies zunächst klingen mag – mit der Malerei eines Helmut Federle vergleichbar. Die einfachen, rechtwinklig gesetzten Balken, mit denen Federle seine Leinwände während Jahren strukturierte, können tatsächlich mit seinen Initialen in Verbindung gebracht werden, was einem Versuch entspricht, sich selber ins Bild zu bringen, ohne eindeutig "Ich" zu sagen. Dahingehend herrscht bei beiden, Federle und Villiger, eine weitgehende Übereinstimmung. Wenn sich die grössflächigen Bilder des Malers zwischen Symbolik und Formalismus bewegen, dann besetzen sie jedoch ein Feld, das weitgehend von abstrakten, konzeptuellen Überlegungen bestimmt ist. Ganz anders Hannah Villiger, wo körperliche Wirklichkeit als Ausgangspunkt bildbestimmend bleibt.
Tatsächlich implizieren Körperteile einen anderen Bedeutungskontext als aus der Form des Bildträgers hergeleitete Streifen, auf Leinwand geschüttete Farbe oder symbolistische Formstrukturen. Körperlichkeit bedeutet Lebensnähe, Authentizität und Vergänglichkeit. Am ehesten noch vergleichbar ist Hannah Villigers Konzeption mit den frühen Videoarbeiten von Vito Acconci oder Bruce Naumann, wo der Körper als exemplarisches Selbst ins Bild gebracht wird. Wenn Bruce Naumann Aktionen filmte, bei denen er sein eigenes Gesicht oder seine Hoden mit Farbe bestrich, oder Vito Acconci seinem eigenen Körper Bisse zufügte, dann geht es bei beiden darum, das eigene, selbstbezogene Tun unter den Horizont der spezifischen Frage nach der Rolle als Künstler zu stellen. Hannah Villigers Perspektive ist umfassender. In ihren Arbeiten entspricht die Konzentration auf den eigenen Körper dem Anspruch, sich immer und immer wieder der eigenen Existenz zu vergewissern, und diese Gewissheit als Ausdruck eines grundsätzlichen Verständnisses menschlichen Daseins ins Bild zu bringen.

Zweifelsohne kommt Hannah Villiger im Zusammenhang mit einem weiblichen Selbstverständnis in der Kunst eine zentrale Rolle zu. Dies vor allem deshalb, weil sie sich nicht an einer Geschlechterproblematik orientierte, sondern sich schlichtweg darüber hinwegsetzte und mit ihrer Kunst eine umfassende physische und psychische Autonomie in Anspruch nahm. Der Vereinnahmung des weiblichen Körpers, wie sie unserer Kultur implizit ist und tagtäglich in den Medien bekräftigt wird, hat sie sich auf souveräne Art entzogen.
Im Gegensatz zu den feministischen Positionen der siebziger Jahre mit ihrer eindeutigen Opfer-Täter Optik, geriet die Frage der Geschlechterordnung in den neunziger Jahren unter einer veränderten Perspektive abermals in den Fokus der Kunst. Unter dem Motto eines spielerischen Umgangs mit den als überkommen empfundenen Kodierungen begingen nicht nur weibliche sondern auch männliche Künstler – nun mit raffinierten technischen Hilfsmitteln ausgestattet – virtuelle Geschlechtsumwandlungen und imaginären Rollentausch. Matthew Barney schuf zum Beispiel eine von erotischen Zwitterwesen bevölkerte Kunstwelt, während sich Yasumasa Morimuras als männliche Olympia fotografieren liess. Sarah Lucas, die mit Gurken, Spiegeleiern und Fischen hantierte, pervertierte Rollenklischees in brachialer Überzeichnung. Obwohl bezüglich Radikalität und Selbstbewusstsein mit einigen Künstlerinnen und Künstlern dieser jüngeren Generation vergleichbar, schlägt Hannah Villigers an der Wahrheit ihres Körpers orientierte Konzeption eine andere Richtung ein. Statt die Zwangshaftigkeit geschlechtlicher Kodes mit Ironie zu durchbrechen, formulierte Hannah Villiger bereits Jahre früher ihre Forderung nach einem vollkommen selbstbestimmten Raum ohne jeden Umweg, schamlos und direkt.
In diesem Zusammenhang ganz wesentlich ist Block VI, eine zwangzigteilige Arbeit, in der riesenhaft vergrössert die stimulierte Klitoris der Künstlerin zu sehen ist. Nicht nur der autoerotische Aspekt, der allen Bildern Hannah Villigers zumindest als Subtext implizit ist, sondern vorallem auch das Motiv der "machine célibataire", welches die masturbierende Künstlerin heraufbeschwört, ist im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis Hannah Villigers von zentraler Bedeutung. Dass eine weibliche Künstlerin ein maskulin geprägtes Privileg für sich beansprucht, einen autoerotischen Akt andeutet, der nicht auf Verführung ausgerichtet ist, sondern sich vollkommen selbstreferentiell erfüllt, entspricht der mutigen Geste einer ganz und gar selbstbestimmten Frau. In diesem unbedingten Wahrheitsanspruch unterscheidet sie sich denn auch ganz wesentlich von einer jüngeren Künstlergeneration, die vorzugsweise eine durch die Allgegenwart der Medien gebrochene Wirklichkeitserfahrung artikuliert. Während die oben erwähnten Künstlerinnen und Künstler, aber auch Pipilotti Rist, Ugo Rondinone, Vanessa Beecroft oder Jeff Koons Selbstkonzeptionen formulieren, die unter der Perspektive der Glücksversprechungen der Werbung schillernd geworden sind, verbindet Hannah Villiger ihren bedingungslosen Freiheitsanspruch glaubwürdig mit der Authentizität ihres Körpers und der Einmaligkeit ihrer Person.
Wenn man Hannah Villigers Arbeiten unter der Perspektive der Vereinnahmung der Wirklichkeitserfahrung durch die Medien betrachtet, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass es ihr gelang, deren Allmacht mit ihren eigenen Mitteln zu brechen. Ihre besten Arbeiten verfügen über Einprägsamkeit und Intensität, also über genau jenes ikonische Potential, das die Werbung für ihre kommerziellen Anliegen instrumentalisiert. Intimität wird durchaus suggestiv ins Spiel gebracht, sodass sich eine Atmosphäre aufbaut, die der Labilität einer Wirklichkeitserfahrung standhält, für welche es jenseits der Oberfläche keine Wahrheit mehr gibt. Indem Hannah Villiger diese Oberfläche mit ihrer eigenen Körperlichkeit gleichsetzt, gelingt es ihr – gewissermassen ein letztes Mal – Authentizität und damit auch eine Wahrheit zu beanspruchen, die bis heute unantastbar geblieben ist.

Erschienen in: NZZ, 1. 9. 2001