Claudia Spinelli

"Global Village" Davos

Heute abend wird der "Preis für Junge Schweizer Kunst" der Zürcher Kunstgesellschaft an Thomas Hirschhorn übergeben. Aus diesem Anlass okkupiert der 1957 geborene Künstler einen bereits mit Kunst bestückten Museumssal: eine Hochsicherheitszone vor neoexpressionistischer Kulisse.

Fünf Tage vor Eröffnung seiner Ausstellung arbeiten Thomas Hirschhorn und seine Assistenten fieberhaft. Im Entstehen begriffen ist ein ausuferndes Modell aus Styropor, Karton, Alufolie, Klebeband und Stacheldraht, das die Davoser Tallandschaft im Belagerungszustand zeigt. Wie eine Heuschreckenplage besetzen Spielzeugsoldaten, Miniaturhelikopter und Plastikpanzer den auf einer Plattform errichteten Ort. "Wirtschaftslandschaft Davos", so der Titel der Installation, fokussiert die jüngsten Ereignisse während des Weltwirtschaftsforums (WEF), meint aber Exemplarisches. Thomas Hirschhorn zur Hochsicherheitszone umfunktioniertes "Global Village" Davos ist eine Metapher für den aktuellen Zustand der Welt.
Eine Einzäunung aus blauem Plastik verdeckt die Bilder von Georg Baselitz bis knapp unter den oberen Rand. Die Malerei, nur noch im Ausschnitt identifiziertbar, reduziert sich zum Code. Die Frage, ob die verdeckten Bilder als Provokation zu verstehen seien, verneint Thomas Hirschhorn mit Nachdruck. Er gehe ihm nicht darum, kunsthistorische Positionen zu demontieren, sondern um das Aufzeigen von direkten und indirekten Zusammenhängen. In diesem Fall liefe die Linie vom Deutschen Neoexpressionisten Baselitz als assoziative Rückkoppelung zu den Expressionisten Paul Scherrer und Ernst Ludwig Kirchner, für die Davos eine konkrete biografische Bedeutung habe. Ihre Bilder würden, auf einem Podest ausgelegt, zu einem integrativen Bestandteil seiner Installation. Eine weitere Verbindung zwischen Deutschland und Davos ergebe sich aus dem Umstand, dass der Leiter des WEF zufälligerweise auch ein Deutscher sei. Davos sei immer schon ein Ort der Invasion gewesen, Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Welt. Diese weitläufigen Zusammenhänge und assoziativen Kongruenzen sind charakteristisch für Thomas Hirschhorns Kunst, welche die unterschiedlichsten Elemente mit gleichmacherischem Gestus und obsessiver Materialintensität nebeneinanderstellt. Da wo jetzt noch leere Flächen klaffen, werden am Tag der Eröffnung, Seite an Seite mit den expressionistischen Bildern aus dem Museumsdepot, Zeitungsauschnitte aushängen, Informationsmaterial über Davos, seine Geschichte, das WEF und alles, was damit zusammenhängt.

Diese Fülle an Informationen und Zeichen, gekoppelt an einfachste Materialien und eine anachronistische Bastlerhaltung sind das Markenzeichen Thomas Hirschhorns. In Davos aufgewachsen und an der Zürcher Schule für Gestaltung ursprünglich zum Grafiker ausgebildet, verliess er die Schweiz 1984 in Richtung Paris. Nachdem er sich zunächst einem politisch engagierten Grafikerkollektiv angeschlossen hatte, liess er die gute Form nach zwei Jahren hinter sich und fand in einer auf "arme Materialien" setzenden Kunst ein für seine sozialen und ästhetischen Anliegen adäquates Ausdrucksmittel. Heute ist Thomas Hirschhorn fest in der Kunstwelt etabliert, wird von bedeutenden Galerien vertreten und stellt rund um den Globus aus. Mit seiner "Ästhetik der Randständigkeit", dem bewussten Gebrauch von Codes der Hilflosigkeit und Ohnmacht, eckt er immer wieder an – auch und gerade in Zürich. Wie z.B. vor drei Jahren mit einem Kunst-am-Bau-Projekt, das für die Eingangshalle der Uni Irchel eine Reihe von temporär installierten Kunst-Kiosken vorsah. Die jeweils einer Künstler- oder Schriftstellerpersönlichkeit wie Robert Walser, Ingeborg Bachmann oder Otto Freundlich gewidmeten Installationen stiessen bei der Universitätsleitung und einem Teil der Professorenschaft auf Unverständnis und Empörung. Auch der Altar für Ingeborg Bachmann, den Thomas Hirschhorn 1998 anlässlich der Ausstellung "Freie Sicht aufs Mittelmeer" vor dem Kunsthaus errichtete, irritierte. Die nach Art der Gedenkstätten für Strassenverkehrsopfer konzipierte Auslage wurde von manchen Leuten als respektlos empfunden, respektlos gegenüber der verehrten Schriftstellerin und respektlos gegenüber den getäuschten Passanten. Auf diese Kritikpunkte angesprochen, ereifert sich Thomas Hirschhorn heftig. Es gehe ihm darum, eine ästhetische Form zu verwenden, die nicht einschüchtere und ansprechend sei. Thomas Hirschhorns Enthusiasmus entwaffnet. Wenn er eine intellektuelle Ikone wie Ingeborg Bachmann mit einer ästhetischen Form zusammenbringt, die dem anonymen Raum der Strasse entstammt, dann geht es um die Aufhebung von gesellschaftlichen Hierarchien, nicht im Sinn einer Demontage, sondern im Sinn von Wertfreiheit und breiter Zugänglichkeit. Als "Bastler-Künstler" betreibt er einen Zeitaufwand, den man auch als Aufwertung verstehen kann, als einen Einsatz von Energie, die sich dem Publikum mitteilt, nicht als formale Perfektion, sondern als ernsthaftes Engagement.
Die Sorgfalt und eine obsessive Arbeitshektik erscheinen bei Thomas Hirschhorn als strategische Mittel um den Wettlauf gegen die Beliebigkeit in Gang zu halten. Eventuelle Missverständnisse oder Doppelbödigkeiten erweisen sich dabei als der Schmierstoff, der einen definitiven Ausgang des Rennens und damit das Ende eines spannungsgeladenen Spiels verhindert. Ein ambivalentes Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht, die Unmöglichkeit einer tatsächlichen moralischen Überlegenheit, das sind die Voraussetungen, die Thomas Hirschorns denkwürdige Kunst überhaupt erst möglich machen.

Kunsthaus Zürich, bis 2. Dezember

Erschienen in: NZZ, 28. 8. 2001