Claudia Spinelli

Berichte aus der Kampfzone

Über Fabrice Gygi

Polizeihelme und Schutzschilder aus dickem Plexiglas hängen griffbereit im Gestell, Barrikaden stehen dicht an dicht. Die Wasserwerfer sind installiert. Nur, wo bleibt der Feind? Aus welcher Richtung stürmt er an? Die musealen Inszenierungen von Fabrice Gygi nehmen den Vorbereitungen auf den Ernstfall nichts von ihrer Agressivität. Im stillen und zivilisierten White Cube entwickelt die Gewaltbereitschaft des paramilitärischen Settings eine Unberechenbarkeit, die irritiert. Der Schweizer Künstler Fabrice Gygi macht das Museum zur Kampfzone und uns zu Mitspielern in einem undurchsichtigen Spiel, in dem Schutz und Bedrohung nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Seit den Terroranschlägen auf Washington und New York sind aus Filmen bekannte Schreckensszenarien mit einem Mal bedrohliche Wirklichkeit, Terror und Gewalt zu realen, unser Denken bestimmenden Faktoren geworden. Die grauenvollen Ereignisse haben uns vor Augen geführt, auf welch dünnem Eis wir uns bewegen, wie trügerisch die Sicherheit ist, in der wir uns wiegen. Wir vermuteten Gewalt anderswo und müssen uns nun mit Schrecken der Frage stellen, ob der Dissens nicht schon lange in unserer Mitte schwelte. Tatsächlich gibt es verschiedene Formen der Gewalt, verschiedene Formen des Ungleichgewichts und der Unterdrückung; und wenn wir uns jetzt fragen, welche Werte, welche Errungenschaften wir eigentlich zu verteidigen haben, dann gilt es ein Sensorium gerade auch für diejenigen Mechanismen zu entwickeln, die das Zusammenleben in unserer eigenen demokratischen Gesellschaft prägen.

Fabrice Gygi ist ein Künstler, der schon früh eine besondere Sensibilität für die Mechanismen des Autoritären, für das Zusammenspiel von Freiheit und Kontrolle, Schutz und Bedrohung entwickelte. Fabrice Gygi ist ein Anarchist, der nach Jahren der Auflehnung und Revolte seinen Kampf von der Strasse in den Kontext der Kunst verlegte, um ihn dort mit der subtilen Präzision eines nunmehr Beteiligten fortzuführen. Seine Interventionen formulieren ein grundlegendes Misstrauen gegenüber jeglicher Form der Endgültigkeit und entwickeln ihre Inhaltlichkeit im Austausch mit den spezifischen örtlichen und gedanklichen Kontexten, in die sie gesetzt sind.

Zweckmässig aus Metall, Sperrholz und Plastikplanen konstruierte Tribünen, Zelte, Schutzpolster aus Schaumgummi und luftgefüllte, überdimensioniert grosse Airbags, Signalfarben und Blinklichter – die einzelnen, aus industriell gefertigten Materialien hergestellten Elemente vermitteln eine Funktionalität, wie man sie aus Trekkingshops oder aus Zivilschutzkellern kennt. Das klare, an minimalistische Setzungen erinnernde Design erzählt von Ordnung und diskreter Autorität.
Das Aussehen der Teile ist typisch schweizerisch. Im Werk Fabrice Gygis kommt dem Schweizerischen eine exemplarische Bedeutung zu, die weit über lokale Eigenheiten hinausweist. Mit dem Begriff der Schweiz verbindet sich das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärt und gerecht hält. So gesehen funktioniert die Schweiz als Synonym für den aufgeklärten Staat, als Synonym für eine zivilisierte, am demokratischen Konsens orientierte Gesellschaft, die das ihr inhärente Gewaltsmoment im Verborgenen abhandelt. Statt über konkrete physische Züchtigung reguliert sie im Subtext.

Vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels, der unsere Wahrnehmung seit dem 11. September erfasste, hat der Umgang mit der strukturierten Ordnung und der diskreten Autorität, die den Arbeiten Gygis anhaftet, eine drastische Zuspitzung erfahren. Sie dringt als Bild für eine eigentliches Diktatur des Konsens ins Bewusstsein, als Metapher für ein ebenso sanftes wie nachdrückliches Regime, das seine grösste Wirksamkeit gerade da entfaltet, wo es die Möglichkeit des Konfliktes ausblendet und den Dissens verdrängt. Unter den neuen Vorzeichen verstärkt sich die latente Gewalttätigkeit, die allen Arbeiten Gygis implizit ist, zur Gewissheit, dass sich Gewalt und Bedrohung vorzugsweise da am stärksten entfalten, wo man sie am wenigsten vermutet.

Fabrice Gygis Settings erinnern an paramilitärische Übungscamps und hochtechnisierte Nomadendörfer. Aus schwarzen Sandsäcken aufgetürmte Schutzwälle und militärische Zelte erzählen von Abschottung und Selbstbehauptung, während sich Tribünen und mit Lautsprechen versehene Unterstände an Infrastrukturen öffentlicher Veranstaltungen orientieren, wie man sie von Raves, Openair Festivals oder Dorffesten kennt. Im menschenleeren White Cube wird ihr zweckmässiges Aussehen zum gedanklichen Stolperstein und lässt Unbehagen statt Festtimmmung aufkommen. Zu deutlich sind die Podeste abgesetzt, die Bereiche hierarchisch voneinander separiert. Wer möchte sich schon in einer solchen Situation exponieren? Wer möchte dabei ertappt werden, wie er seine Hände an dem glänzenden Chromstahltrog sauber wäscht? So unschuldig und diskret Fabrice Gygis skulpturale Teile zunächst wirken, sie sind eigentliche Infrastrukturen des Autoritären, die – gerade weil von konkreten politischen Inhalten abgesehen wird, gerade wegen ihrem unterkühlten und distanzierten Erscheinungsbild – einen Ordnungsbegriff zum Ausdruck bringen, der inhaltsleer zum Selbstzweck mutiert, eine kafkaeske Dimension entwickelt.

Die Anfänge Fabrice Gygis liegen in der Performance. Die Orientierung am menschlichen Körper ist auch für seine Skulpturen und Installationen, die für einen institutionellen Kontext entstehen, massgebend geblieben. Die Zelte, die er ab 1993 in Museumsräume stellte, vermitteln die Vorstellung einer nomadischen Identität. Man könnte sie durchaus mit der Person des Künstlers in Verbindung bringen, der aus einem persönlichen Erfahrungshorizont schöpfend ein geschärftes Bewusstsein und eine ausgeklügelte Strategie im Umgang mit Mechanismen der Macht und Autorität entwickelt hat. Gygis Erlebnisse in der Hausbesetzerszene liegen schon einige Zeit zurück. Geblieben ist eine Haltung, die bewusst das Abseits sucht und es gleichzeitig versteht, die eigene Ohnmacht strategisch einzusetzen, vorübergehend in Macht zu verkehren. Schmucklos, zweckmässig und mit verschliessbaren Luken versehen, assoziiert man die Zelte mit Guerillakampf, mit schnellen, beweglichen Einheiten, mit militärischen Blitzaktionen. Die provisorischen Behausungen erzählen nicht nur von einem Schutzbedürfnis, sondern auch vom Ansinnen, Raum einzunehmen und sich gleichzeitig nicht ohne Hinterlist jeglicher Vereinnahmung zu entziehen. Von den Zelten geht eine latente Bedrohlichkeit aus.

Die ambivalente, doppelbödige Haltung, die Art, wie sich die Unterscheidbarkeit zwischen Unterdrückung und Subversion, Schutz und Aggression in der Anonymität verwischt, bringt eine ebenfalls 1993 entstandene Fotografie, die den Künstler in einem afghanischen Tschador zeigt, pointiert zum Ausdruck: "Der Tschador ist eine Maske und provoziert eine gewisse Ratlosigkeit. Was am meisten irritiert, ist die absolute Anonymität. Interessanterweise impliziert das Motiv des Tschadors neben der Vorstellung von Unterordnung auch einen subversiven Aspekt: in Afghanistan benutzt man dieses traditionelle Kleidungsstück auch, um Waffen zu transportieren". Die Bilder, die Fabrice Gygi mit scharfen Strichen skizziert, verweisen auf eine Gesellschaft, die – nicht anders als er selber – ihre Unschuld verloren hat. Sie entsprechen einer Situation, in der die Unterscheidbarkeit zwischen Opfern und Tätern diffus geworden, die Kluft, die Freunde und Feinde voneinander trennt, nicht mehr identifizierbar ist. Fabrice Gygi umkreist eine hochaktuelle Problematik, die tatsächlich bereits seit langem schwelt.

Ein grundsätzlicher Dualismus zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen Auslieferung und Schutz, zieht sich wie ein roter Faden durch Fabrice Gygis gesamtes Schaffen. Die Ambivalenz seiner Arbeiten erzeugt eine unauflösbare Spannung. Sie wirkt überall, im Öffentlichen ebenso wie im Privaten. Die sauberen Riemen, die immer wieder in Gygis Arbeiten auftauchen, erinnern an Skiausrüstungen und die orangen Matten an kollektive Ertüchtigungen, wie sie in Fitnesszentren und Sportclubs gepflegt wird. Umso mehr irritiert, wenn man diese Elemente rund um eine erhöhte Kanzel ausgelegt und von arabischer Musik begleitet findet. In seiner Installation "Minn Eïnaya" (1998) schob Gygi das Eigene und das Fremde übereinander, ersetzte die protoindustrielle Archaik traditioneller islamischer Kultur durch industrielle Perfektion westlicher Provenienz. Die Situation beinhaltet eine Vielzahl von Assoziationen und rückt diffus schwelende Ängste ins Zentrum. "Für dich könnte ich mir die Augen ausreissen", so die Übersetzung des Titels dieser ebenso hybriden und in ihrer Unduchsichtigkeit irritierenden Situation.

In ihrer Entleertheit beunruhigend sind auch Fabrice Gygis an rechtsstaatlichen Funktionen orientierte Infrastrukturen, wie das in einem grauen Militärzelt aufgebaute Gericht ("Tribunal", 1999) und das transportable Wahlbüro ("Bureau de Vote", 2001). Mit Wahlurne, Wahlkabine und Tafeln für Propagandaplakate umfasst es alles, was dazu gehört. Nur macht die Infrastruktur demokratischer Gerechtigkeit ohne inhaltlichen Diskurs, ohne politische Auseinandersetzung wenig Sinn. Sie wird zum Zeichen einer hohlen, im Selbstzweck erstarrten Bürokratie, deren einzige Funktion darin liegt, die besorgte Weltöffentlichkeit mit einem mediengerechten Bild zu beruhigen. Ein Bild, das in der tatsächlichen Wirklichkeit gar nicht greift – Kulissen, schnell hingestellt und ebenso schnell wieder entfernt. Der Verdacht, dass die Konflikte in Realität woanders und mit weit brachialeren Mitteln ausgetragen werden, liegt auf der Hand. Gerichtssaal und Wahlbüro machen sich als leeres Inventar einer Gesellschaft verständlich, die sich der Täuschung nur allzu gerne hingibt. Da helfen auch die "Airbags" – Gygi hat davon eine ganze Serie produziert – nichts. In der Werbung als Synonym für Sicherheit instrumentalisiert, sind sie, da erst nach dem Aufprall in Aktion, in Wahrheit ein Indiz dafür, dass der Unfall bereits stattgefunden hat. Die "Airbags" stehen paradigmatisch für eine Gesellschaft, die sich in Sicherheit wiegt und sich, ob ihrem Bedürfnis nach Konsens, nur allzu gern den Suggestionen hingibt, die man ihr vorsetzt.

Das Bild, das Fabrice Gygi von unserer Kultur entwirft, ist illusionslos, aber ohne Pessimismus. Er ortet die Kampfzone in unsere Mitte und macht die subtilen Zusammenhänge zwischen Ordnung und Kontrolle, zwischen Autorität und Unterdrückung fassbar. Das Nachdenken über die Arbeiten Fabrice Gygis entspricht einer Möglichkeit, von Selbsttäuschung und falschen Illusionen wegzukommen. Es ist ein Angebot, sich von der lähmenden Ratlosigkeit, die unsere von Gewalt und Terror geprägte Gegenwart erzeugt, zu befreien.

Geschrieben: Anfang Oktober 2001, erscheint in: Parkett 63