Giaco Schiesser

Video killed the radio star


Musikvideos - Kunst der Gehirnwäsche oder Schule der Ästhetik? (1996)

Musikvideoclips, das heisst in der Regel: Ein Stück Popmusik von drei bis vier Minuten Länge; singende, tanzende, ausgelassene, verträumte oder coole junge Menschen, die sich in bizarren, virtuellen oder 08/15-Landschaften, Inneräumen oder beidem finden, in erotisch-rotes, kühl-blaues oder aufgestellt-buntes Licht getaucht; Grossaufnahmen der Sängerin oder des Sängers wechseln ab mit aufsteigenden Rauchsäulen, zerspringenden Spiegeln, über gestylte Oberflächen zuckenden Lichtblitze; Schweissperlen schimmern auf nackter Haut, Bekleidungen, Bewegungen und Gesten geben erotische Versprechen, eine Gitarre wirbelt vorbei, Jungsiegfried trotzt den Gefahren der Welt, Eva verführt, verliert, findet wieder und verliert erneut ihren Adam. Verarbeitet wird in Viedeoclips alles, was an Text, Bild und Ton irgenwie und irgendwo greifbar ist (also zunehmend alles). Und alles wird vorgetragen in einem wahnwitzigen Tempo: alle drei Sekunden ein Schnitt, oft noch öfter.

Ist das, was wir heute angesichts der rund um die Uhr ausgestrahlten Musikvideoclips erleben, der aktuelle Beitrag einer allgegenwärtigen Verdummungsindustrie, oder sind es Lehrjahre für eine neue Wahrnehmung, wie sie im digitalen Zeitalter dereinst für alle von uns überlebensnotwendig werden?

Von Theodor W. Adorno ist hinlänglich bekannt, dass er mit Jazzmusik auf Kriegsfuss stand und die zeitgenössische Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft als alles kolonisierende Bewusstseinsindustrie interpretierte. Und Hanns Eisler wandte sich bereits 1961 mit Grausen von einem Grossteil der massenmedial ausgestrahlten Musik ab. "Sie brauchen nur Ihr Radio aufzudrehen, zu einer xbeliebigen Tagesstunde und Sie werden eine Fülle von Dummheit hören, die Sie, auch wenn sie kein Musikkenner sind, als Dummheit erkennen werden". Was die beiden zur Musik aus dem House-, Tekkno-, Rave- oder Grunge-Genre und zu den Musikfernsehstationen VIVA I & II oder MTV sagen würden, muss offenbleiben, freundlich würde es mit Sicherheit nicht ausfallen. Sicher ist, dass heute die über 4Ojährigen mit Eislers und Adornos Ansichten den Musikvideoclips begegnen. Der Augenschein scheint ihnen recht zu geben: Zur Zeit werden pro Jahr aus Kommerzgründen rund 2000 Videoclips produziert. Der Sender Music Television z. B. sendet täglich 24 Stunden Videoclips, 12 bis 15 pro Stunde, bis zu 360 Clips pro Tag (die meisten davon mehrmals). Allerdings, wir wissen es seit Karl Marx Analyse des Kapitals vor 100 Jahren, spätestens aber seit Tschernobyl, gibt der Augenschein die Wirklichkeit nicht mehr her. Längst ist die Realität nicht nur in die Funktionale (Brecht), sondern in die Multimediale gerutscht. Schauen wir deshalb zu, was dort passiert.

MTV - Weltfernsehen Nummer Eins

Video killed the radio star heisst ein Videoclip der Pop-Gruppe The Buggles von 1979. Am 1. August 1981 startete Music Televesion (MTV), ein us-amerikanischer Fernsehsender, mit diesem Song sein Programm. Nachdem 1979 in den USA die Schallplattenverkäufe drastisch zurückgegangen waren - in den USA spricht man noch heute von der "great depression of 1979" - suchten die grossen Plattenfirmen verzweifelt nach den Gründen. Analysen ergaben, dass dieser jähe Einbruch einerseits eine Folge der visuellen Dynamik des Fernsehens war, mit dem die jugendlichen HörerInnen in den USA inzwischen ganz selbstverständlich aufgewachsen waren, und andererseits ein Effekt der konservativen Rock'n'Roll-Programm-Gestaltung der Radiostationen. Im Grunde wäre also der Titel Television killed the radio star der passende gewesen. Aber die MTV-Macher waren ausgefuchste Leute, auch wenn William Roedy, heutiger Leiter der internationalen Abteilung von MTV Networks, ein ehemaliger, an der Elite-Militärakademie Westpoint ausgebildeter Vietnamkämpfer, und in den siebziger Jahren Befehlshaber dreier Nato-Nuklear-Stützpunkte, noch nicht dabei war. Was nicht war, konnte ja noch werden. Und der Erfolg gab den MTV-MacherInnen schnell recht. Überall in den USA, wo nach und nach MTV empfangen werden konnte, stiegen die LP-Verkäufe wieder rapide an.Was MTV mit dem Buggle-Song als Tatsache hinstellte, schaffte es in den nächsten Jahren: MTV killed the radio star engültig - und liess ihn zugleich, als audio-visuellen Star, wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstehen.

Es ist hier nicht die Zeit und der Raum, den unaufhaltsamen Aufstieg des MTV zu skizzieren. Ein paar Daten sind dennoch unverzichtbar, denn ohne MTV gäbe es heute keine weltumspannende Musikvideo-Clip-Kultur. Mit ihrem feinen Gespür für Stil, Lebensweisen und Ironie eröffnete MTV am 1. August 1987, also auf den Tag genau sechs Jahre nach seiner Geburt, die erste ausseramerikanische Niederlassung: MTV Europa. Der erste ausgestrahlte Song von MTV-Europa war Money for nothing und stammte von der Gruppe Dire Straits. In diesem Fall lieferte MTV nicht hoffnungsfrohes Wunschdenken, sondern einen ironischen Hinweis auf harte Tatsachen: Da MTV keine eigenen Clips produzierte und keine Gebühren für deren Ausstrahlung bezahlte, hatte er tatsächlich money aus fast nothing gemacht. So wies MTV-USA bereits 2 1/1 Jahre nach seinem Start für das erste halbe Jahr 1984 einen operativen Gewinn von 8 Mio. Dollar aus.

Heute ist MTV unbestritten das Weltfernsehen Nummer 1. MTV ist in Nigeria, Kenia und Südafrika ebenso zuhause wie Europa, in allen asiatischen Ländern wie in den USA, in Lateinamerika wie bald auch in Peking. Mit seinen Kabelstationen und zwölf Satelliten erreicht MTV damit fast dreihundert Millionen Haushalte auf allen fünf Kontinenten, also praktisch alle Regionen der Welt. Die dreihundert Millionen Haushalte machen weltweit mehr als einen Viertel der Familien mit Fernsehen aus. War MTV anfangs ein reines Kommerzunternehmen, um der darniederliegenden Plattenindustrie wieder auf die Beine zu helfen, so ist MTV heute eine Synthese aus aufmüpfigem Geist des Rock'n'Roll, hedonistischem Konsumverhalten und angepasstem liberalem Denken. Den dosiert eingesetzten sozialen Botschaften etwa zur Aids-Prävention, ökologischer Rettung der Erde, Aufrufen, sich an den Wahlen zu beteiligen oder den Sendungen mit Kunstvideos von höchster Qualität werden andere Programme entgegengesetzt, die physische Kraft, Sinnlichkeit und sorglose Vergnügungsjagd als höchste Werte zelebrieren.

MTV ist damit längst, und nicht nur in den USA, zum Symbol uralter Konflikte geworden, wie sie seit jeher die Einführung eines neuen Mediums nach sich gezogen hat. Für die PuritanerInnen unterschiedlichster Couleur ist MTV ein dämonisches Unterfangen, das die Jugend dazu animiert, sich der Unzucht hinzugeben und das alle möglichen und unmöglichen Sünden und Gewalttaten verherrlicht. Für linke und liberale Intellektuelle ist MTV der Gipfel an Oberflächlichkeit und Gehirnwäsche, eine strikt kommerzielles Unternehmen, das sich ein libertäres Mäntelchen umgehängt hat, für viele FeminstInnen ein Ausbund an Rassismus und Frauenfeindlichkeit. Für VideomacherInnen und KunstkritikerInnen dagegen gilt MTV nicht nur als potentieller Arbeitgeber, sondern als ultimative Kunstform einer Kunst, die sich auf der Höher unserer Zeit, der sogenannten Postmoderne, bewegt. Für seine jugendlichen Anhänger schliesslich - MTV formuliert als Zielpublikum die 12- bis 34jährigen, mit der Kerngruppe der 12- bis 24jährigen - ist MTV der einzige Fernsehsender, in dem sie sich erkennen: unkalkulierbar, rebellisch, unverschämt, cool.

Die Postmoderne des High-Tech-Kapitalismus

Was ist gemeint, wenn die AnhängerInnen der MTV-Kultur davon reden, dass Musikvideoclips die, ja sogar die endgültige Kunstform der Postmoderne darstellen?

Was auch immer unter dem etwas seltsamen Begriff Postmoderne verstanden wird, es lassen sich bei aller Unterschiedlichkeit der Definitionen hinter dem Begriff doch einige beunruhigende Eigentümlichkeiten unserer Epoche ausmachen. Stark vereinfacht lässt sich die Postmoderne folgendermassen beschreiben.

In der Postmoderne geht es ganz allgemein: 1. um das Verhältnis von Wirklichkeit - Repräsentation - Referenz; 2. um eine Infragestellung von Identität (Stichwort plurale Identitäten); 3. um eine Infragestellung des Subjektes (Stichwort Fragmentierung des Subjektes); 4. um ein Schwinden der kritischen Distanz, und 5. um die Entstehung von Hyperräumen (immer wieder genanntes Beispiel: das Bonaventure Hotel in Los Angeles). In ästhetischer Hinsicht geht es vor allem um das Niederreisen der Differenz von hoher und trivialer Kunst und, damit eng verbunden, um eine neue Bewertung des Zusammenhangs von Kunst und Kommerz. Im einzelnen Kunstwerk schliesslich geht es in der Postmoderne insbesondere um eine gewisse Oberflächenhaftigkeit (was nicht zwangsläufig Oberflächlichkeit bedeutet) und um die Verwendung von Parodie und Pastiche als ästhetische Verfahren. Wobei Parodie "die ironische Darstellung einer Darstellung" und Pastiche die "ausdruckslose Parodie, eine Kunst der Imitate, denen das Original abhanden gekommen ist" (Fredric Jameson), meint.

Bilder ohne Referenz, Identitäten ohne Identität

Ich will im folgend exemplarisch zeigen, was es mit der postmodernen Befindlichkeit und mit postmodernen Anforderungen auf sich hat, die in den Musikvideos manchmal unbewusst, meist aber bewusst verdichtet dargestellt werden. Ich werde mich auf drei Aspekte beschränken: auf das Infragestellen der Repräsentation und der Identität und auf das Moment der Oberflächenhaftigkeit.

Cry (19xx) von Kevin Godley und Lol Creme ist ein Video, das gerade wegen seiner Schlichtheit das Thema der Repräsentation auf eine sehr klare Weise darzustellen weiss. Während des vier Minuten dauernden Videos sieht man nur Nahaufnahmen von einzelnen Gesichtern in Schwarzweiss, die direkt in die Kamera blicken und die langsam ineinander übergehen. Das Ganze ist eine fliessende Sequenz von singenden, sehr unterschiedlichen Gesichtern, die alle mit derselben Stimme dasselbe Lied singen. Der Zuschauer, die Zuschauerin ist sich bewusst, dass die Stimme, die er/sie hört und auch "sieht", weil die Gesichter ihre Lippen synchron zum gesungenen Text bewegen, nicht zu den Menschen gehören,die ihnen zusingen. Was hier auf eindrückliche Weise demonstriert wird, ist die in den Musikvideos erworbene und später weiter ausgebaute Autonomie von Bild und Ton. Obwohl hier Bild und Ton noch nicht völlig auseinanderlaufen, steht Cry dennoch quer zu den gang und gäben Formen audiovisueller Kommunikation: Mit Bild und Ton wird nicht mehr wie in den Fernseh- und Kinofilmen eine Verbindung angestrebt - die eine Synchronizität oder aber auch ein scharfer Kontrast sein kann -, sondern eine vollständige Autonomie.

Eine zweite Besonderheit von Cry liegt darin, dass die Repräsentation nirgends eine feste Form bekommt. Godley und Creme lassen die Bilder langsam so ineinander übergehen, dass manchmal für einen kurzen Moment eine seltsames Gemenge von zwei total verschiedenen Gesichtern zu sehen ist. Zum Beispiel die schwer geschminkten Augen und das blonde Haar einer Frau, verbunden mit der bärtigen unteren Hälfte des Antlitzes eines schwarzen Mannes. Während die Bilder in Cry jedesmal noch einen kurzen Moment lang Ausdruck eines hybriden Gesichtes sind, so wird einige Jahr später im Musikvideo Black or White von Michael Jackson die Repräsentation völlig demontiert.

In Black or white (1992) leistet der stets androgyn auftretende Michael Jackson innerhalb des kommerziellen Videoclip-Rahmens seinen Beitrag gegen jegliche Form von Rassismus (Refrain: it doesn't matter if you are black or white). Black or white unterscheidet sich von den üblichen Clips schon durch seine Länge und seine Aufteilung. Der 11minütige Clip ist als Triptychon angelegt. Er beginnt (und endet) mit einer Rahmengeschichte, die die heutige Eltern- und Jugendlichen-Generation und ihr differierendes Lebensgefühl ins Spiel bringt (this is garbage, sagt der Vater zum Sohn, der ihn darauf hin ins Pfefferland wünscht, wohin der Vater auch umgehend befördert wird), einem Mittelteil, auf den ich im besonderen eingehen will und einem dritten Teil, der als Alptraum kommender Rassenunruhen gesehen werden kann, falls die Gleichstellung von Black and White nicht wirklich erfolgt (ein Alptraum der noch im gleichen Jahr in den sogenannten Rassen-Unruhen von Los Angeles Wirklichkeit wurde). Der Clip ist gespickt mit Elementen, auf die ich hier nicht eingehen kann, die in vielen der besseren Videos aber immer wieder thematisiert werden: Kritik am Starkult, Generationenkonflikt und das comichafte, durch die Medien geprägte Verhalten der Beteiligten, Hip-Hop-Musik als Kulturen verbindend Musik (der weisse Junge, der mit der Stimme eines dreissigjährigen schwarzen Rapers singt), Kritik am Macho-Gehabe (durch den oft wiederholten Griff Jacksons an sein Geschlechtsteil) und andere. Formal wird vor allem die Inszenierung, die Gemachtheit des Clips herausgestellt, es wird ganz offensichtlich gemacht, dass es in dem Clip keine Authentizität mehr gibt, alles ist Konstruktion. Worum es mir hier geht, ist die mittlere Sequenz des Triptychons, in dem man wie in Cry von Godley und Creme Gesichter ineinander verfliessen sieht: Übergänge von in Halbtotale festgehaltener Menschen weisser, gelber, roter und schwarzer Hautfarbe, die sich rhythmisch in immer neue Gesichter verwandeln. Wie in Cry liefern alle Beteiligten ihren lippensynchronen Beitrag zum Lied, die Stimme stammt von Michael Jackson, den man in diesem Teil als ZuschauerIn nicht zu Gesicht bekommt. Im Gegensatz zu den Transformationen von Cry sind die Übergänge in Black and White von einem Gesicht zum nächsten vollkommen unsichtbar. Mittels avanciertester Computergraphik werden die Gesichter nahtlos ineinander übergeführt. Kaum hat die eine Figur feste Formen angenommen, verwandelt sie sich schon weiter in eine völlig neue Erscheinung: Eben noch sang vor unseren Augen ein weisser Mann fröhlich den Text von Michael Jackson, schon verwandelt er sich unmerklich in eine negroide Frau, die in Jacksons Stimme fröhlich weitersingt. So manifestieren sich hier die Bilder als ein willkürliches Zeichen: sie haben sich von der Pflicht, wahrnehmbare Wirklichkeit auszudrücken (nicht von der Wirklichkeit selbst) befreit. Und: Die Brüchigkeit des Individuums ist manifest geworden, ich bin zugleich viele und viele sind zugleich Teil von mir.

Kein Ende

Wie aber steht es mit der überwältigenden Menge der Mainstream-Musikvideos, die unseren Blick mit Erotik, Glamour und Gewalt verführen, die mit glänzenden Bildern den menschlichen, vor allem den weiblichen, aber auch den Maschinen-Körper feiern wollen? Die Politur, der Karrosserieglanz der neunziger Jahre gewissermassen, der hier zur Schau gestellt wird, bannt unseren Blick an der Oberfläche, an der Äusserlichkeit des Bildes fest. Nirgends wird man eingeladen, auf die Suche nach dem wirkklichen Menschen zu gehen. Mehr noch: eine solche Suche läuft immer von neuem ins Leere, bleibt an einer Fassade, an der glänzenden Aussenseite (etwa eines Models, eines Interieurs, einer Landschaft) hängen, an Bilder, die keine dahinterliegende Bedeutung mehr kennen: Hinter der Oberfläche gibt es nichts, auch kein Mysterium der Leere. Auch hier also eine Zusammenbruch der Referenz, eine Aushöhlung der Bilder bis auf ihre Hülle. Man braucht die These von der völligen Beliebigkeit der Postmoderne nicht zu teilen, um zu sehen, dass solche Zusammenbrüche der Bedeutungen und Aushöhlungen der Bilder nicht nur in der Kunst sondern in allen Lebensbereichen ein alltägliches Phänomen geworden sind (in der Politik etwa die Aushöhlung des Bildes und der Idee der Schweiz durch Fichenskandal, Geldwäschaffären, Ausweisungspraxis im zweiten Weltkrieg), auf die neue Wahrnehmungs-, Interpretations- und Umgangsweisen unsererseits gefordert sind.

Worin das alles - vorläufig - enden kann, darüber gibt insbesondere das innovative, House-Genre Aufschluss. Aus dessen Tradition stammt ein Clip der Gruppe Humanoid mit dem tiefstapelnden Titel Stakker Communication (19xx), zu deutsch etwa "sich immer schneller stapelnde Kommunikation". Der Clip dauert genau 3 Minuten 39 Sekunden. Es lohnt sich, selber zur Kenntnis zu nehmen, was man in dieser Zeit alles an Bildern und Tönen unterbringen kann und zu testen, wie lange man das gebotene Augen- und Gehörbombardement auszuhalten vermag. Die von einem Computer synthetisch erzeugte Musik ist nur Rhythmus, die Bilder jagen mit kolossaler Geschwindigkeit vor unseren Augen vorbei. Hier gibt es weder Kontinuität noch die Darstellung einer Wirklichkeit in 24 Bildern pro Sekunde (wie im Film) zu entdecken. In Stakker Communication ist fast jedes der 24 und mehr Bilder pro Sekunde ein anderes. Der Effekt ist eine rasende Menge von Eindrücken, die auf die ZuschauerInnen einstürzen; was genau in den Bildern ausgedrückt wird, ist kaum noch zu unterscheiden. Bild und Ton sind zudem digital erzeugt und verformt, produziert von Softwareprogrammen. Das bedeutet auch: was hier ausgedrückt wird, hat zuvor nirgends existiert. Für Stakker Communication gab es keine realen Modelle, die vorher und ausserhalb ihrer "Realisation" existiert haben, die den Bildern einen herkömmlichen Wirklichkeitsgehalt hätten verschaffen können. Dieses Musikvideo verweist endgültig nicht auf etwa anderes, auf ein "anderswo", es ist nur eine Oberfläche aus Rhythmus und Form - mit einer Ausnahme. Es gibt einen allerletzten Anhaltspunkt einer vorgängien Realität, eine tanzende, digital bearbeitete Frauenfigur, die sich allerdings zunehmend, Pixel für Pixel, auflöst. Konsequent lassen Humanoid auch sie schliesslich noch weg. Der 25-minütige Clip Eurotechno (19xx) ist nur noch ein Effekt von Formen, Farben und Rhythmus, es gibt nicht die Spur eines,realistischen' Anhaltspunktes mehr, an den sich das Auge der ZuschauerInnen hilfesuchend anklammern könnte. Will er/sie sich zu Eurotechno in ein Verhältnis setzen, muss er/sie ein bisher unbekanntes, eigenes Koordinatensystem, eine neue Kartographie, entwickeln, mit dem er/sie diesem neuartigen Rhythmus-, Formen- und Farbenraum ,lesen' und sich in ihm bewegen kann.

Nüchternheit, Witz, Pfiffigkeit und tiefere Bedeutung

Nun wäre das alles sicherlich äusserst bedenklich, wenn das Zielpublikum solcher Clips, die Jugendlichen zwischen 12 und 34, das täten, was man ihrer Elterngeneration bereits vor dreissig Jahren bei der Heraufkunft des Fernsehens unterstellt hat: nichts als fernzusehen. Dass die damalige Thesen - die Kinder sehen nur noch fern, Fernsehen macht dumm - sich sehr schnell blamierten, sollte zumindest zur Vorsicht in der Beurteilung der Auswirkungen von Musikvideoclips mahnen. Alle Untersuchungen zur Rezeption von Musikvideoclips (wie auch von Computern) bei Jugendlichen machen zwei Dinge immer wieder deutlich. Erstens, der eremitische, zum Autismus und zur Gewalt neigende Videoclip-Zuschauer ist eine Schimäre. Zweitens, der mal verzückt gelobte, mal kulturpessimistisch kritisierte Hedonismus der Jungen in unserer "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze) ist stark zu relativieren. Alle Jugendlichen bewegen sich in verschiedenen, in sich widersprüchlichen Welten mit ihren je eigenen Gesetzen (etwa zuhause, in öffentlichen Räumen, in der Schule, in der Freizeit) - und sie wissen sehr genau und nüchtern zwischen diesen Welten zu vergleichen, zu unterscheiden und sich entsprechend unterschiedlich darin zu bewegen. So steigt der ravende Bankangestellte am Freitag in seine phantastische Techno-Disco-Kluft, begibt sich auf seine Raves und After-hours bis Montag früh um 7 Uhr, ehe er eine Stunde später wieder zum Angestellten in Anzug und Krawatte am Bankschalter mutiert.Vor diesem Hintergrund sind die Musikvideoclips - die aneinandergereihten schnellen Schnitte, die Reduzierung oder völlig Auflösung ganzer Geschichten auf drei Minuten, die Mixtur aus Tricks und Animation mit realen Landschaften und Menschen, die Infragestellung von Wirklichkeit, das Ausleben pluraler und fragmentierter Identitäten in einer chaotischen Welt und nicht zuletzt der Witz, die Ironie, die Pfiffigkeit und deren tiefere Bedeutung, die nicht nur die besten, sondern eine ganze Anzahl kommerzieller Musikvideoclips auszeichenen - tatsächlich "Trainingsprogramme" (Bazon Brock) für ein Leben, manchmal nur ein Überleben, in unserer Zeit; eine Schule der Ästhetik (Ästhetik im buchstäblichen Sinne als "Wahrnehmung") für ein Leben im digitalen High-Tech-Kapitalismus.


Literatur

Michael Altrogge, Rolf Amann: Videoclips - die geheimen Verführer der Jugend? Berlin 1991.
Veruschka Body, Peter Weibel (Hrsg.): Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo. Köln 1987.
Jürgen Grimm (Hrsg.): "Das attraktive Chaos und die Chance zur Reflexivität." Ein Gespräch über Videoclips zwischen Bazon Brock, Jürgen Grimm und Roland Schmitt. Siegen 1989.
Fredric Jameson: Postmoderne - zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: A. Huyssen / K. R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986, 21993.
Sound & Vision - Musikvideo und Filmkunst. Hrsg. vom Deutschen Filmmuseum. Frankfurt am Main 1993.
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt am Main, New York 1992.