Giaco Schiesser

Konnektivität, Heterogenität und Verzerrungen – künstlerische Produktivkräfte für unsere Zeit

Das Projekt <xxxxx connective force attack: open way to public> von
Knowbotic Research +cf (KRcF)


Erschienen in: AUSSENDIENST - Kunstprojekte in öffentlichen Räumen Hamburgs. Deutsch / Englisch.
Hrsg. von Achim Könneke und Stephan Schmidt-Wulffen im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg.
Freiburg: Modo 2002, S. 233-237.



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                   Es ist von entscheidender Bedeutung, dass man sich für die Schwächen von Schnittstellen und die potentiellen Kräfte, die sie enthalten, sensibilisiert. Eines der Ziele besteht darin, sie zu erkennen und sie in tendenzielle Kräfte zu verwandeln, die früher oder später wirksam werden können.
Knowbotic Research, 1998




"So hacken Sie mit", klärte und forderte die Zeitschrift PC Online in der Ausgabe 10/2000 ihre Leser auf, und dann folgte die genaue Anleitung, was für die gross aufgemachte "Leseraktion" zu tun ist: "Auf unserer Heft-CD finden Sie die Software Screen-hacker, mit der Sie sich an der Aktion beteiligen können. Nach erfolgreicher Installation wählen Sie sich ins Internet ein und gelangen automatisch auf den Hamburger Server. Sobald Sie sich dort angemeldet haben, können Sie am Hacker-Spektakel teilnehmen." Was sich hinter der journalistisch als Hacker-Spektakel verkauften Aktion verbirgt, ist das bisher letzte Projekt xxxxx connective force attack: open way to public (http://io.khm.de) der Künstlergruppe Knowbotic Research +cf (KRcF), die in den letzten Jahren für ihre eigenwilligen und ambitionierten Projekten, die beharrlich am und mit dem Eigensinn des Mediums elektronische Netzwerke arbeiten, mehrfach ausgezeichnet wurden (ZKM-Medienkunstpreis 2000, Wilhelm-August-Seelig-Preis des Lehmbruck Museums 1997, Goldene Nica der Ars Electronica 1998 und 1993).

Wie die Arbeit IO_dencies (bisher vier Projekte, 1997-1999) ist auch xxxxx connective force attack: open way to public – ein Projekt, das KRcF in Verbindung mit dem Hamburger Kunstverein und der Hamburger Hochbahn AG (HHA) realisierte – eine urbane Handlungsanlage zum Durcharbeiten verschiedener Bedingungen und Potentiale einer mediatisierten Öffentlichkeit. Im Falle von xxxxx connective force attack: open way to public – xxxxx steht für die Visualisierung, die die Eingabe von Passwörtern üblicherweise auf der Bedieneroberfläche erzeugt – geht es um den zur Zeit politisch, kulturell und in der breiten Öffentlichkeit heftig diskutierten Themenkomplex Unsicherheit von Datennetzen / Hackerparanoia / Privatheit / elektronische Identitäten. Systemsicherheit, elektronische Identität und Hackerparanoia haben dabei KRcF noch vor der Realisierung von xxxxx connective force attack: open way to public eingeholt. Geplant war folgendes Projekt: Internetbenutzer werden über eine massenhaft und frei verteilte Software animiert, sich in konzentrierten Aktionen mit anderen Internet-Teilnehmern mittels einer Crack-Software (Brute force attack) Zugang zu einem Hamburger Internetserver und in der Verlängerung zum Hamburger Stadtinformationssystem Infoscreen zu verschaffen. Die nach dem Crack von den Teilnehmern eingeschleusten Informationen sollten dreimal täglich über Funk und ISDN-Netzwerke unzensuriert auf die rund tausend Infoscreens in allen Hamburger U-Bahn-Zügen eingespeist werden. Damit wären das Hacking und die Diskussionen und Kämpfe um Privatheit, Öffentlichkeit und Sicherheit rund 800'000 Leuten pro Woche metaphorisch und buchstäblich nah auf den Leib gerückt worden. Schliesslich bekam die Betreiberin des Hamburger Stadtinformationssystems, die Firma Infoscreen, mitten in der Planungsphase kalte Füsse. Sie fürchtete, dass das System von Neonazis gehackt und missbraucht würde. KRcF und die HHA einigten sich daraufhin auf folgendes, schliesslich realisiertes Projekt: Mittels brute force attacks – diesen liegen algorithmische Strategien zum Entschlüsseln von Daten zugrunde – gilt es, sich Zugang zu einem Internetserver zu verschaffen. Die Teilnehmer können sich spielerisch mittels der Software in einer chat-Umgebung organisieren und so die Attacken effektiver zu gestalten. Ziel der Attacken ist es, in ein Informationsmedium einzudringen, den eigens für diesen Zweck eingerichteten, passwort-geschützten Intranetraum mit einem neuen Passwort zur versehen und mit eigenen Inhalten zu besetzen – bis das neue Passwort wiederum von anderen Gruppen geknackt, mit einem neuen Passwort versehen und die bisherigen Inhalte kommentiert, gelöscht oder überschrieben würden. Ob, wie und wann die Dechiffrierungen gelingen, ist eine Frage der quantitativen Verfügbarkeit von Zeit und Rechenleistung. Das heisst, die Erfolgschancen einer bruce force attack ist direkt abhängig von der konnektiven Wirksamkeit, das heisst, von der Anzahl der Leute, die ihre PCs zu einer verteilten, gemeinsamen Aktionseinheit via Internet kanalisieren und zusammenschliessen. Die jeweils generierten Inhalte werden gleichzeitig an einem öffentlichen Punkt im Stadtraum Hamburgs, auf dem Grossbildschirm in der U-Bahnstation Jungfernstieg, 24 Stunden am Tag unzensiert sichtbar gemacht.

Konnektive Schnittstellen: Kraftwerke für kollaboratives Handeln

Seit dem Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit 1991 experimentieren die heute am Studienbereich Neue Medien der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich lehrenden und forschenden Knowbotic Research exemplarisch mit komplexen Schnittstellen, die durch die digitalen Technologien und elektronischen Netzwerke erst ermöglicht wurden. KrcF "konstruieren Handlungsmodelle in translokalen Netzwerkumgebungen, entwerfen konnektive Schnittstellen und erproben deren Wirksamkeit in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen." (Broeckmann 2000b, S. 55) Seit IO_dencies fokussieren KRcF ihre künstlerische Medienpraxis auf die Suche nach neuen möglichen, veränderten Formen gesellschaftlichen und politischen Handelns und auf die Produktion der dazu notwendigen Plattformen: sozial wirksamen Schnittstellen für kollaboratives Handeln. Solche konnektive Schnittstellen erweisen sich in der entstehenden "Informationsgesellschaft" zunehmend als entscheidender strategischer Ort der Generierung einer neuen "lebendigen Öffentlichkeit" (Alexander Kluge). Das Projekt xxxxx connective force attack: open way to public steht nicht nur konzeptionell, sondern auch thematisch in der Tradition der Arbeiten von KrcF, die sich seit Beginn ihrer Tätigkeit – teilweise bewusst, teilweise intuitiv – zentrale, strategischen Felder des "digitalen Kapitalismus" (Peter Glotz) wie konnektives Handeln, Öffentlichkeit, immaterielle Arbeit erarbeiten. (1)

Konnektivität, konnektive Schnittstellen und konnektives Handeln sind für elektronische Netzwerke zentral. Elektronische Netzwerke sind Kommunikationsmaschinen, die geprägt sind durch die Möglichkeit, Einzel- und Gruppensubjekte translokal und transzeitlich miteinander zu verknüpfen. Elektronische Netzwerke können verstanden werden als "ein soziales Kräftefeld, in dem Äusserungen, Handlungen und strategische Bewegungen zu einer ständigen Transformation der Vektoren, Konzentrationen und Verstreuungen führen. Technische Apparate und sozio-politische Strukturen sind in diesem Dispositiv gleichermassen eingeschrieben." (Broeckmann 2000a, S. 215) KRcF haben deshalb konnektives Handeln (2) von Anfang ihrer künstlerischen Tätigkeit an als Handeln in translokalen maschinischen Umgebungen untersucht und nutzbar gemacht. Das Handeln von Einzelnen und Gruppen mit und durch Netzwerke ist durch den Eigensinn der maschinischen Netzwerke strukturell mitbestimmt. Es wird dadurch offener, heterogener und instabiler, zugleich aber auch flexibler, überraschender und situativ präziser, und damit heute letztlich wirkungsmächtiger, als herkömmliches individuelles oder kollektives Handeln, wie wir es etwa aus kulturellen oder politischen Zusammenhängen kennen.
Das wie schon in den IO-dencies-Projekten auch in xxxxx connective force attack: open way to public durch die Eckpunkte Stadt, Öffentlichkeit und elektronische Netzwerke aufgespannte Territorium soll dabei kollaborative Erfahrungen der Teilnehmer ermöglichen, bei der die Aktionen und Handlungen der Teilnehmer zwar wechselseitig und – anders als in IO_dencies – für ein breiteres Publikum über die U-Bahn-Bildschirme sichtbar werden, im Vordergrund steht aber, dass es zu Handlungen von Teilgruppen kommt und wie sich die Effekte ihrer Handlungen auf die Handlungen anderer Teilgruppen unmittelbar auswirken. Ins Blickfeld kommt damit der neueste "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Jürgen Habermas), der einen neuartigen Typ von lebendiger Öffentlichkeit in den und durch die elektronischen Netze ermöglichen könnte (3) – der gegen die "kommerzialisierte" und "manipulierte", "vermachtete" (Jürgen Habermas) und "bürokratisierte Öffentlichkeit" (Alexander Kluge) steht. Die von KRcF in Anschlag gebrachten konnektiven Schnittstellen sind "Reibungsflächen, Bruchlinien und Spielraum für konnektives Handeln", in dem "die individuellen [oder Gruppen-, GS] Konstruktionen kontinuierlich von anderen Teilnehmern weiterbearbeitet und re-animiert werden" (Broeckmann 2000a, S. 60). Sie sind für die Benutzer temporale "Identitätszonen, Zonen starker Beziehungen und Spannungen"(Broeckmann 2000a, S. 58), die dort auftretenden permanenten "Verzerrungen" (KRcF 2000, S. 71) verhindern ein behagliches Sich-Einrichten der Teilnehmer und treiben die Entwicklung ihrer Aktivitäten über Konflikte, Brüche, Trennungen voran. Die Teilgruppen funktionieren als fluide, bald sich verdichtende bald sich abstossende, bald sich trennende Kräfte von Einzelhandlungen. Bedeutsam ist, dass KRcF in xxxxx connective force attack: open way to public die in den IO_dencies für ExpertInnen bzw. geschlossene Kreise von Teilnehmern entwickelten experimentellen Schnittstellen erstmals auf eine erweiterte, nicht fachspezifisch begrenzte RezipientenInnengruppe hin öffnet. xxxxx connective force attack: open way to public zielt auf ein Publikum von Netsurfern, wie sie etwa in Werbeagenturen zu finden sind und gerade nicht auf die Gruppe der Hardcore-Hacker (4). Entsprechend konsequent erscheint die hier erstmals verwendetet Strategie, die Crack-Software auf einer CD-Rom der Zeitschrift PC Online (Auflage: 60'000) beizulegen und rund 10'000 Exemplare per Dispenser, die in zwanzig Informationszentren der Hamburger U-Bahnaufgestellten wurden, gratis anzubieten.

Immaterielle Arbeit und Eigensinnigkeit der Subjeke

Der Begriff der "immateriellen Arbeit" stammt aus dem Umfeld der italienischen Postoperaisten (Maurizio Lazzerato, Toni Negri u.a.) (5). Die Autoren versuchen damit einen neuen Typ von Arbeit in ökonomischer und kultureller Hinsicht zu fassen, der typisch für das heutige, postfordistische Akkumulationsregime ist. Im Zentrum stehen dabei die Frage nach der Neuzusammensetzung der Arbeit, für die die "informationelle Seite" entscheidend wird, sowie die Frage nach der Konstruktion, Mentalität und Selbstverortung postfordistischer Subjekte. Der digitale Kapitalismus erfordert heute in der Mehrzahl Arbeitssubjekte, die "reich an Wissen" und als agile, "aktive Subjekte" in einem hohen Masse in der Lage sind, "produktive Kooperationen in Gang zu setzen oder auch anzuleiten". (Lazzarato 1998, S.42ff.) Die bereits in den 1980er Jahren von Frederic Jameson und anderen Kulturwissenschaftlern beobachtete "Kommodifizerung" – das Zur-Ware-werden vieler Bereiche, die zuvor nicht kapitalisiert waren -, erstreckt sich heute auch auf die gesamte Subjektivität der Arbeitenden, auf alle seine kreativen Fähigkeiten und auf alles Wissen, das sich die Individuen in ihrem Leben auch ausserhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses angeeignet haben. Während die Postoperaisten zwar eine erhellende Analyse der umfassenden Anforderungen an die neuen Arbeitssubjekte im Postfordismus leisten, bisher aber keine Handlungsperspektive zu formulieren vermögen, versuchen KRcF seit einiger Zeit, an diesem aktuell ablaufenden Prozess des Umbaus der Subjekte anzusetzen und daraus ein Handlungsplattform für produktive Kooperation in der Perspektive selbstbestimmter, nicht-lokaler, digital vermittelter konnektiver Umgebungen zu gewinnen (6). In der gegenwärtigen politischen Konjunktur geht es KRcF darum, mittels "Konstruktion kleiner Maschinen für die Beschäftigung mit kleinen Gebieten" (KRcF 2000, S. 77) Teilöffentlichkeiten Handlungsanlagen zur wechselseitigen Verschaltung in Mikro-Ökonomien zur Verfügung zu stellen, situativ und temporal beschränkte Schnittstellen zu schaffen, die ein maschinisches, konjunktural definiertes und lustvolles Zusammenhandeln von Individuen und Gruppen in jeweils spezifischen und stets wechselnden Zusammensetzungen ermöglicht (7). In Umrissen wird hier eine aus immaterieller Arbeit, konnektivem Handeln und individuellem Begehren nach pluraler Identität verschaltete neue, lebendige Öffentlichkeit sichtbar, die erst dank, durch und mit elektronischen Schnittstellen möglich wird, da deren entscheidende Qualität ist, " die Spannung zwischen eine bewussten zielorientierte Handlung und zufälligen, richtungslosen Kraftfeldern und so neue Formen der Gruppensubjektivierung und Heterogenisierung hervorbringen" zu können. "Ziel wäre", formulieren KRcF ihr Arbeitsprogramm, "eine offene Schnittstelle, die einen grossen Handlungsspielraum zwischen öffentlichem Zugang, exzessiven Manifestationen, konnektiven Konfrontationen (und) taktische Rückzügen ermöglichen würde." (KRcF 2000, S. 78) (8)

Für eine Medienkunst auf der Höhe ihrer Zeit

Nun finden Konstruktion, Erprobung und weiterführende Nutzung solcher Spiel- Handlungs-, Darstellungs- und Partizipationsräume in einer herrschaftsgesättigten Gesellschaft statt, wie die Geschichte des Projektes xxxxx connective force attack: open way to public deutlich gemacht hat. Betrachten wir deshalb zum Abschluss die Erfahrungen, die mit dem Hamburger Projekt gemacht wurden.
Über die einfach zu bedienende Software, über die massenhafte Streuung der Gratis-CD-Rom über eine bekannten PC-Zeitschrift und mittels Dispensern in den Hamburger U-Bahnhöfen, über eine unmittelbare Visualisierung der Code-Ebene auf den Stadtplakaten, der Busplakatierung und des CD-Rom-Booklets, ist es KRcF zweifellos gelungen, das im Vergleich zu den IO-dencies-Projekten angestrebte, breitere Publikum tatsächlich zu erreichen. Allerdings wurde der Infoserver bereits zwei Tage vor der Auslieferung der CD-Rom, die das sechs Wochen dauernde Projekt (15.9.-28.10.2000) einleitete, gehackt durch Hardcore-Hacker, die alle das Protokoll "absnifften", es optimierten und auf parallel laufenden Servern anboten, während sie ihren eigenen Source-Code – so wollte es ihr Ehrenkodex – nicht öffentlich zugänglich machten. Das lässt sich lesen als Verdacht, dass avancierte Handlungsanlagen, wie sie KRcF bereitstellen, in der Praxis allemal nur von versierten Cracks genutzt werden, oder aber als Hinweis darauf, dass vernetzte Teilöffentlichkeiten, bestehen sie erst einmal, taktisch schnell, geschickt und überraschend handeln können. Erst nach der kurzen, intensiven Hackernutzung setzten dann – quantitativ und zeitlich eher beschränkt – die Hackaktivitäten und die Inbesitznahme des Intranets durch die angestrebten nicht-professionellen "Hacker" ein.
Diese Erfahrung spricht allerdings nicht gegen den Einsatz und das Potential von konnektiven Schnittstellen für breitere Publika. Ganz im Gegenteil. Sie zeigt, wie gross der Schritt für eine Vielzahl von Leuten ist, aus der passiven Zugehörigkeit zu einer Vielzahl von "Massenmenschen", von Gruppen, "denen man gleichzeitig angehört" (Gramsci 1967, S. 130) zu situativen, temporalen und konjunkturalen aktiven Mitspielern oder Mitautoren zu werden. Die Hoffnungen, die Brecht und Benjamin in seiner Gründerphase in das Medium Radio und Enzensberger vierzig Jahre später in das Medium Fernsehen als Zweiwegmedium hegten, weil es, technisch gesehen, die RezipientInnen als Mitautoren und damit eine vibrierende Öffentlichkeit ermöglichte, hat sich rückblickend als trügerisch erwiesen. Allein über die Technologie der elektronischen Netzwerke dürfte eine Haltung und Öffentlichkeiten des konnektiven Handelns auf absehbare Zeit nur jeweils kurzfristig und nur für begrenzte Gruppen von Experten, Fachleuten oder gezielt ausgewählten Teilnehmer zu erreichen sein. Wie schwer alleine schon das zu erreichen ist, zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen IO-dencies-Projekten. Als Haltung ist kollaboratives Zusammenarbeiten gesellschaftlich noch wenig verankert. Möglicherweise und für viele an neuen Formen von Öffentlichkeiten Interessierten beunruhigend produziert gerade der Postfordismus massenhaft diese Subjekte erst mit, die das Bedürfnis und das Potential konnektiver Schnittstellen und kollaborativen Handelns für sich selbst, für ihre eigen-sinnigen Lebensbedürfnisse erkennen. Umgekehrt gilt aber auch: ohne experimentelle künstlerische Handlungsmodelle, die konnektives Handeln probeweise in unterschiedlichen Mikro-Ökonomien für unterschiedliche Teilöffentlichkeiten erarbeiten und zur Verfügung stellen, wird es produktives, eigen-sinniges Tun der Menschen (9) in der neuesten aller Gesellschaftsformationen, dem "digitalen Kapitalismus" (Peter Glotz), nicht geben. Für eine Medienkunst, die auf der Höhe ihrer Zeit ist – eine Medienkunst, die die Herausforderung des Mediums "elektronische Netzwerke" und der "grössten aller Künste, der Lebenskunst" (Brecht) ernstnimmt –, gilt: Hic Rhodos, hic salta.




Bibliographie
Argument, Das, 2000: Immaterielle Arbeit. Nr. 235.
Broeckmann, Andreas, 2000a: Wirksamkeit und konnektives Handeln. Zu den translokalen Konstruktionen von Knowbotic Research +cF. In: Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion. Hrsg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Ostfildern: Cantz.
Broeckmann, Andreas, 2000b: Wirksamkeit und konnektives Handeln. Zu den translokalen Konstruktionen von Knowbotic Research +cF. In: \\internationaler\medien\kunstpreis 2000. (Gekürzte Fassung von: Broeckmann 2000a).
Butler, Judith / Laclau, Ernesto / Zizek, Slavoj, (Hrsg.), 2000: Contingency, Hegemony und Universality: Contemporary Dialogues on the left. London, New York: Verso.
Deuber-Mankowsky, Astrid / Schiesser, Giaco, 2000: In der Echtzeit der Gefühle. Gespräch mit Alexander Kluge. In: Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien.
Hrsg. v. Chr. Schulte. Osnabrück: Rasch.
Fassler, Manfred / Halbach, Wulf R., (Hrsg.), 1994: Cyberspace. Gemeinschaften, virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. München.
Gramsci, Antonio, 1967: Philosophie der Praxis. Hrsg. v. Chr. Riechers. Frankfurt: Fischer.
Haraway, Donna, 1995: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaften. Berlin: Argument 1995.
\\internationaler\medien\kunstpreis, 2000. Hrsg. v. ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Karlsruhe. Karlsruhe: ZKM.
Knowbotic Research / Prantner, Wilfried, 2000: Urbanes Handlungspotential – Schnittstellen entflammbar machen: öffentlicher Zugang, exzessive Manifestationen, konnektive Konfrontationen und taktische Rückzüge. In: \\internationaler\medien\kunstpreis 2000.
Laclau, Ernesto, 1990: New Reflections on the Revolution auf our Time. London: Verso.
Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantale, 1991: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen. (engl. 1985)
Lazzarato, Maurizio, 1998: Immaterielle Arbeit. In: Toni Negri et al.: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Hrsg. v. Th. Atzert. Berlin: ID.
Leont'ev, Aleksej N., 1977: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Stuttgart: Klett.
Maresch, Rudolf, 1996: Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. o.O.: Boer.
Schiesser, Giaco, 1992: Für eine Hegemonie ohne Hegemon. Anmerkungen zu «Hegemonie und radikale Demokra-tie» von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In: Widerspruch, Nr. 24.




Anmerkungen
1) Als einführende Lektüre in die Arbeit von KRcF sei der Artikel <Wirksamkeit und konnektives Handeln. Zu den translokalen Konstruktionen von Knowbotic Research +cF> von Andreas Broeckmann (2000a) empfohlen. Der Text beschreibt konzis die künstlerischen Arbeiten von KRcF, ihre Entwicklung, sowie die Konzepte und das theoretische Framework auf denen sie basieren.
2) Der in den Netzwerkdebatten verwendete Handlungsbegriff geht auf die Arbeiten des Sprachwissenschaftlers L. S. Wigotsky und des Psychologen A. N. Leont'ev in den 1930er Jahren zurück. Allerdings verengt der über die englischsprachige Rezeption ins Deutsche rückimportierte Begriff der Handlung den bei Leont'ev verwendeten Begriff der "Tätigkeit" um eine entscheidende Dimension. Im Blickfeld der Handlungstheorie liegt insbesondere der zielgerichtete Output der Handlung, während die umfassende Veränderung des tätigen, handelnden Subjektes selbst, die den Psychologen Leont'ev vorrangig interessierte, weitgehend aus dem Blickfeld verschwindet. (Vgl. Leont'ev 1977) Die Ausführungen zum umfassenderen Modell der "konnektiven Tätigkeit", die das Modell des "konnektiven Handelns" ersetzt, müssen einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben.
3) Erste, umfassendere Bestandesaufnahme dazu liefern Maresch 1996 und Fassler / Halbach1994.
4) Mündliche Mitteilung von Christian Hübler an den Verf.
5) Negri selbst, der den Begriff stets propagiert hat, hat ihn zugleich auch als Unwort kritisiert: "Natürlich ist es Unsinn, wenn von einer 'immateriellen Arbeit' die Rede ist. Die Arbeit ist immer materiell!" (Zit. n. Argument 2000, S. 15) Ein differenzierende Kritik des Modells der "immateriellen Arbeit" und eine Darstellung der politischen Erfahrung aus der heraus das Modell entwickelt wurde, findet sich in: Argument 2000.
6) Erstmals explizit in IO_Lavoro Immateriale. Eine detaillierte Beschreibung dieses Projektes findet sich in Broeckmann 2000a, S. 228ff.
7) Bereits Anfang der 1990er Jahren, noch vor dem gesellschaftlichen Durchbruch elektronischer Netzwerke, hatte Donna Haraway aus feministischer Erfahrung die Zukunft politischen Handelns darin gesehen, Beziehungen und Bündnisse zu entwickeln, die nicht auf Gleichheit im Sinne von Identisch-Sein der Akteure und Akteurinnen mit sich und mit anderen setzt, sondern auf das Schaffen von Vernetzungen von "bewusster Koalition, Affinitäten und politischen Verwandtschaften" (Haraway 1995), die inhaltlich und zeitlich begrenzte kollektive Handlungsfähigkeit, "situiertes Wissen" für "exzentrische Subjekte" (1995, S. 48 und 135) erzeugen.
8) Dem Dilemma, dass damit auch – contre coeur –der Subjektkonstitution und -konditionierung postfordistischer Arbeitsubjekte zugearbeitet wird, ist nicht zu entkommen. Michel Foucault und andere haben diesen widersprüchlichen Prozess, der zugleich befreiende Aktivität und individuelle Aneignung von Kompetenzen, die für neue Akkumulationsregimes benötigt werden, ineins ist, bereits für die 1968er-Bewegung gezeigt.
9) An dieser Stelle wären die konnektiven Handlungsmodelle von KRcF mit Alexander Kluges und Ernesto Laclaus / Chantal Mouffes Arbeiten produktiv kurzzuschliessen.
Kluges Auseinandersetzung mit und sein Beharren auf "Geschichte und Eigensinn", "Unheimlichkeit der Zeit", und "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" arbeitet – bei vielen Unterschieden, die ebenfalls auszumachen sind – mit dem unterschiedlichen Eigensinn des Mediums Fernsehen an demselben Produktionszusammenhang von Öffentlichkeit wie KRcF, in dem der Rezipient, die Rezipientin zum Produzenten wird, dem "eine Geistesanspannung und eine Anspannung der Phantasietätigkeit" (Kluge, zit. n. Deuber-Mankowky / Schiesser 2000, S. 362) eignet und der am Herstellen immer neuer Zusammenhänge in einem nach vorne offenen, unabschliessbaren Prozess individueller und gesellschaftlicher Veränderung existentiell interessiert ist.
Auszuführende produktive Anschlüsse hieran bieten Laclaus / Mouffes diskursive "Theorie des Politischen", ihre Überlegungen zu der grundsätzlichen "Intrasparenz der Gesellschaft", zur "Hegemonie" und den damit verbundenen Konzeptionen der "Unmöglichkeit der Gesellschaft" und der "radikalen Demokratie" (grundlegend dazu: Laclau 1991, Laclau 1990, Schiesser 1992, Butler/Laclau/Zizek 2000).