Interview mit Giaco Schiesser
in: "Israelitisches Wochenblatt" 1999
"Es braucht eine öffentliche Debatte über die Kategorien der Ausschliessung"
Giaco Schiesser hat sich als Kulturwissenschaftler im Rahmen der Subjekttheorie
in verschiedenen Publikationen intensiv mit Rassismus beschäftigt.
Das IW unterhielt sich mit ihm über Rassismus und Antisemitismus sowie
über rassistische Tendenzen im Judentum. - Interview: Daniela Kuhn.
Israelitisches Wochenblatt: Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der
Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg war in den letzten Monaten oft
von einem wiederaufkommenden Antisemitismus die Rede. Betrachten Sie Antisemitismus
als "gewöhnlichen" Rassismus oder wird man damit dem Phänomen
Antisemitismus nicht gerecht?
Giaco Schiesser: "Dazu gibt es zwei Positionen. Die eine sagt, dass
die beiden Ismen nicht verglichen werden dürfen, da Antisemitismus
und Rassismus sich in vielem sehr unterscheiden. Die andere Position analysiert
Antisemitismus als eine Form von Rassismus. Ich bin ein Vertreter der zweiten
Gruppe."
Weshalb?
"Um das Spezifische des Antisemitismus verstehen zu können, muss
er mit anderen Formen von Ausschliessung verglichen werden.Erst dadurch
lässt sich seine Spezifik kenntlich machen. Innerhalb der Menschheitsgeschichte,
gab es immer wieder Ein- und Ausschliessungen von sozialen Gruppen, die
dann homogenisiert worden sind. Daher ist es sinnvoll, das Phänomen
Antisemitismus zunächst auf einer allgemeinen Ebene zu analysieren.
So können auch die unterschiedlichen Formen bestimmt werden. Erst dann
können allenfalls Formen des Antisemitismus gefunden werden, die qualitativ
so anderes sind als alles andere, dass man eine begriffliche Unterscheidung
zum Rassismus machen muss."
Was sagen Sie zum Einwand jüdischer Vertreter, die befürchten,
dass mit der Definition des Antisemitismus als Form von Rassismus, die Einmaligkeit
der nationalsozialistischen Verbrechen verharmlost werden, ja sich gar ein
revisionistisches Geschichtsbild dahinterversteckt?
"Angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts finde ich diese Haltung
moralisch-politisch verständlich. Wissenschaftlich gesehen ist es aber
eine defensive Position. Ich würde sehr viel offensiver argumentieren:
Einmaligkeit lässt sich nur feststellen, indem ich vergleiche. Für
mich ist Antisemitsmus zunächst eine Form von Ausschliessungsverhältnis.
Dann stellt sich natürlich immer die Frage: wie wird Rassismus definiert?
Auch dazu gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, die sich zum Teil
geradezu widersprechen. Gemäss den einen ist Antisemitismus Rassismus,
gemäss den anderen nicht."
Und welche ist Ihre Definition?
"Es gelten im Prinzip zwei Kriterien: das Ausschliessen einer Gruppe
und das Homogenisieren dieser Gruppen."
Sie unterschieden in Ihrem Vortrag "Das sich fesselnde Subjekt -
Lust auf Leben" an der Volkshochschule Zürich zwischen biologischem
und kulturellem Rassismus, wobei letzterer nicht mehr auf die Biologie,
sondern auf unterschiedliche Kultueren rekurriert. Welchem Rassismus gehört
der Antisemitismus an?
"Er ist eine Kombination von beiden Formen. Die heutige Debatte der
Neuen Rechten in Frankreich und Deutschland argumentiert nicht mit einer
überlegenen Rasse, sondern stellt eine Unvereinbarkeit der Kulturen
fest. Es gibt allerdings Forscher, die der Ansicht sind, dass dieser sogenannte
kulturelle Rassismus den biologischen beinhaltet, ihn bloss nicht ausspricht."
Sie stiessen im Rahmen Ihrer Arbeit auch auf Rassismus bei Minderheiten
und anitrassistischen Gruppierungen. Gemäss Ihrer Rassismus-Definition
ist auch das Judentum von Rassismus nicht frei, zumal es sich selbst ­p;
und somit andere ­p; als Gruppe ausschliesst. Was hat es mit dem Tabu
Rassismus im Judentum auf sich?
"Ich habe meine Erfahrungen in Deutschland gemacht, wo diese Frage
besonders prägnant und besonders tabuisiert ist. In der Schweiz ist
es wohl einfacher darüber zu sprechen. Schon vor zehn Jahren hat ein
Knesset-Mitglied, das selbst im KZ war, Israel als faschistischen Staat
bezeichnet. Es ist eindeutig so, dass Ausschliessungsmechanismen festgestellt
werden können. Ich will mir nicht anmassen zu beurteilen, ob sich die
Ultraorthodoxen auch als bessere Menschenrasse vorkommen. Es entbehrt aber
nicht der Ironie, Ironie in einem tragischen Sinn, dass ein Teil der Opfer
des Holocaust in Israel zum Teil Formen des Umgangs mit ihren Gegnern übernommen
haben, die stark an Nazi-Deutschland erinnern. Der Feind bleibt einem nicht
äusserlich, hat Brecht dieses Problem einmal sinngemäss formuliert.
Es braucht unbedingt eine Debatte und vor allem eine Anerkennung in Israel
selber darüber, dass es in vielerleid Hinsicht eine Gesellschaft wie
jede andere ist, nämlich durchzogen von ethnischen, kulturellen und
religiösen Gegensätzen, also alles andere als eine homogene Gesellschaft.
Ich halte die Position, die die heutige israelische Regierung einnimmt,
für perspektivenlos, vor allem auch für die eigene Bevölkerung.
So wird es nicht funktionieren."
Sie sprechen nicht vom Judentum sondern vom Staat Israel. Zurück
zur vorherigen Frage. Können Sie einen im Judentum inhärenten
Rassismus erkennen?
"Ich würde nicht sagen, dass das Judentum rassistisch ist."
Hat der der Begriff des "auserwählten Volkes" nichts Ausschliessendes?
" Was ist 'das, Judentum'? Das Judentum ist selber eine Fiktion. Sind
das Leute wie Walter Benjamin, der zwar jüdischen Glaubens war, aber
deutscher Staatsbürger und sich schliessliche vehemt von einem möglichen
Staat Israel distanziert hat?"
Ich meine ganz einfach das Judentum als Religion und nicht als Herkunft
einiger Intellektuellen, die sich davon emanzipiert haben.
"Das Judentum als Religion beinhaltet Elemente der Erhebung über
andere und Ausschliessungsmechanismen. Aber die Frage ist, wie das tatsächlich
gelebt wird. Und: nicht jeder Ausschluss ist Rassismus."
Wie würden Sie die Wechselwirkung zwischen Ausschliessen und Ausgeschlossensein
in der jüdischen Geschichte auseinanderhalten?
"Für die Menschen ist die eigene Erfahrung der entscheidende Punkt.
Die Erfahrung der Juden in der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, war
während Jahrhunderten real erlebter Alltag. Ausschliessung kann ihrerseits
eine Bunkermentalität, ein Sich-selbst-Ausschliessen zur Folge haben.
Das Element des 'auserwählten Volkes' wird heute in der politischen
Debatte praktisch nicht mehr vorgebracht"
Weshalb?
"Teilweise aus falscher Scham. Man stellt sich, wegen historischen
Versäumnissen, der eigenen Geschichte in Europa noch immer in einer
sehr verqueren Form. Das Beschweigen des Holocausts findet eben nicht nur
auf jüdischer, sondern auch auf politischer Seite in allen europäischen
Ländern statt. Niemand masst sich an, Israel in diesem Punkt zu kritisieren.
Im Sinne von: das steht uns nicht an. Ich finde das eine falsche Position."
Das abgelehnte Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Gelegenheit, sich
heute mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Wird sie Ihrer Meinung nach
genutzt?
"Leider hat sich diese Diskussion so unsäglich entwickelt, dass
man von einer vertaner Chance sprechen muss. Die Frage, ob ein Mahnmahl
eine Form von Beschweigen ist, die eine kontinuierliche Bearbeitung geradezu
verhindert, könnte sich zu einer sehr interessanten Debatte entwickeln.
Sie wurde und wird vertan. Ich halter eine solche Debatte im Moment in der
Politik nicht für möglich, in der Geschichtswissenschaft hat sie
in Deutschland begonnen. Dazu müsste aber auch Israel seine Archive
aus der Gründungszeit öffnen. Obwohl auch eine neue Historikergeneration
in Israel mit der historischen Aufarbeitung angefangen haben, wird es vermutlich
noch eine Generation gehen, bis eine andere Debatte stattfinden wird."
Gibt es eine Gesellschaft , die frei von jeglichem Rassismus ist?
"Das gibt es. Den Begriff Rassismus gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert.
Die Produktion von bestimmten Formen von Ausgrenzung gehören strukturell
zu dem was man Kapitalismus oder bürgerliche Gesellschaft nennt. Es
gab selbstverständlich immer schon Ausschliessungsmechanismen, die
jedoch nicht rassistisch begründet sein mussten. Ein gutes Beispiel
dafür sind die griechischen Stadtstaaten. Alle Bürger versammelten
sich auf der Agora um über die gemeinschaftlichen Bedürfnisse
zu debattieren und abzustimmen (so zumindest der Mythos). Sämtliche
Bürger bedeutete sämtliche Männer ab 20. Frauen und Sklaven
waren nicht dabei, Sklaven, weil sie für die Griechen keine Menschen
waren."
Keine Frauen, keine Sklaven - ist das nun nicht rassistisch?
"Von einem modernen Verständnis aus betrachtet sind das klare
Ausschliessungen (wenn auch nicht rassistische, siehe oben). Aus dem Weltbild
der Griechen heraus war das nicht so, weil die Grenze der Definition des
Menschen anders gezogen haben. Was die Frauen anbelangt, war es selbst im
damaligen Weltbild ein Ausschliessungsmechanismus, der jedoch andere Folgen
und andere Konsequenzen hatte als ein biologisch-rassistisch begründeter.
Letztere haben immer etwas mit der behaupteten und gelebten Ueberlegenheit
der einen Rasse über die andere zu tun, was natürlich immer mit
Unterjochungsverhältnissen zu tun hat. Bei den Griechen kann man nun
nicht sagen dass die Nicht-Beteiligung der Frauen zu einer gelebten Überlegenheit
über die Frauen geführt hat. Der Typus der Ausschliessungsmechanismen
ist für diejenigen, die ausgeschlossen sind, ausserordentlich bedeutsam.
Manche sehen das fatalistisch und sagen: es gab und wird immer geben Mord
und Todschlag. Die Alternative dazu ist eine öffentliche Debatte über
die Kategorien und Formen der Ausschliessung."
Können Sie ein Beispiel einer geglückten Geschichtsaufarbeitung
im Zusammenhang mit Rassismus nennen?
"Südafrika hat mit seiner Wahrheitskommission eine bemerkenswerte
Form gewählt. Natürlich ist sehr schmerzlich, im Nachhinein alle
Greuel zu benennen, zu reflektieren, öffentlich zu machen. Ob die Gesellschaft
tatsächlich auf eine nauartige Weise zusammenfinden wird, wird sich
zeigen. Das Äusserste, was vielleicht erreichbar und sicher notwendig
ist: Eine Wunde die als Narbe sichtbar und spürbarl bleibt."
Zur Person
Giaco Schiesser
Geb 1954 in Glarus. 1976-1981 Germanistik- und Philosophiestudium in Berlin,
Schwerpunkte Aesthetik und Erkenntnistherorie sowie Gegenwartsliteratur
und Literaturtheorie. Im Rahmen des Studims Forschungsprojekte zu Mentalitätsfragen,
kulturelle Verhaltensweisen und Subjektheorie in verschiedenen Bereichen.
Nach dem Studium Assistenz am germanistischen Seminar an der Universität
Basel. Subjektionstheoretische Arbeiten, unter anderem zum Alltagsrassismus.
Mitbegründer des Institutes für Migration und Rassismusforschung
in Hamburg und Mitarbeiter an Forschungsprojekten (u.a. im Auftrag der E.U.)
während sieben Jahren. 1983-1993 Mitherausgeber der Zeitschrift für
Sozialistische Politik und Kultur "Widerspurch". 1992 längerer
Aufenthalt in Berkeley. Seit 1994 Beschäftigung mit Neuen Medien unter
dem Aspekt der Subjektkonstruktion (wie verändern die neuen Medien
die Identität?). Verschiedene Veröffentlichungen zu diesem Thema.
Seit 1997 leitet Schiesser den Studienbereich Neue Medien (SNM) an der Hochschule
für Gestaltung und Kunst Zürich (HGKZ). Giaco Schiesser lebt in
Zürich.