Giaco Schiesser

Souveränität neuen Typs. Den gerissenen Faden wieder aufnehmen.

Einige Anmerkungen zur Souveränität anlässlich der Ausstellungen von Naked Bandit, I-IV (2004 – 2005) der Gruppe Knowbotic Research

Es sind die Zeiten grosser gesellschaftlicher Einschnitte oder Krisen, in denen die Dispositive herrschender Souveränität frag-würdig werden - politisch, rechtlich und philosophisch. Zeiten, in den das Bestehende porös wird und das Neue noch geplant werden will. So auch heute, wo angesichts der postfordistischen Globalisierung für manche die Nationalstaaten - mit Ausnahme der USA - ihre historische Rolle ausgespielt haben.

Aus allen Staatsämtern in Unehren entlassen begründet der in die Einsamkeit seines Landgütchens verwiesene Republikaner avant la lettre, Nicolas Macchiavelli, inmitten der Krise der Republik Florenz zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit seinen beiden Schriften „Il principe“ und „Discorsi“ das politische Denken der Neuzeit. Seine Vorschläge zum Verhältnis von Herrscher, Staat und Volk, von Politik und Moral sind, aufs heftigste umstritten und äusserst kontrovers rezipiert, bis heute aktuell geblieben.
400 Jahre später, in den 1930er Jahren, will der Philosoph und ehemalige Vorsitzende er kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, eingekerkert in ein faschistisches Gefängnis und wissend, dass er dieses nicht überleben, etwas „für ewig“ schaffen, wie er ein Wort Goethes zitierend in deutsch festhält. Sein philosphisch-politisches Projekt, das an Macchiavellis Fürst anknüpft und von nur kurzer aber nachwirkender Rezeption begleitet ist, fokussiert sich auf die Frage nach dem Scheitern des Souveränitätsmodells der damaligen europäischen kommunistischen Parteien und der damit aufs engste verknüpfte Frage nach der tiefen Verankerung bürgerlicher Wertvorstellungen in den „Köpfen und Herzen“ der Menschen. Heute ist nicht sein „moderner Fürst“, die Partei, von Interesse sondern der reichhaltige begriffliche Werkzeugkasten, den er für die Analyse der „bürgerlichen Gesellschaft“ zur Verfügung gestellt hat: Hegemonie, historischer Block, Graben- und Stellungskrieg, Alltagsphilosophie, seine Aufwertung des „kulturellen Kampfes“. Allerdings ist heute der Faden zu Gramscis nur fragmentarisch ausgearbeiteten, aber viele Stränge verfolgenden Anstrengungen gerissen. Eine Re-Lektüre seiner „Gefängnishefte“ wäre dringlich. Insbesondere sein Verständnis des Staates als das hegemoniale Zusammenwirken von società civile und società politica stellt einen Erkenntnisstand dar, der für eine wirksame Analyse des zeitgenössischen Souveräns dringlich gebraucht wird.

Heute, nach dem 9.11.2001, in Zeiten der von den USA machtvoll angestrebten „souveränen Unilateralität, dieser ungeteilten Souveränität“ (Jacques Derrida) sollte eine Analyse nicht hinter die von Gramsci gewonnen Einsichten über Verfasstheit bürgerlicher Gesellschaft und die rhizomatisch mit ihm verbundenen Überlegungen von Althusser, Foucault, Derrida und anderen zur Souveränität nicht zurückfallen.

So hat Gramsci gezeigt, dass die Vorstellung eines homogenen Staates nicht zu halten ist. Die einfache Komplexität des Fürsten-Staates mittelalterlicher Prägung ist der komplexen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und ihres Souveränitäts-Dispositivs gewichen. Stets ist hier der Staat, der Kern der modernen Souveränität, eine Kompromissbildung, ein konjunkturell und temporal bestimmter Zustand als Ergebnis von Kämpfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte. Eine Fixierung, die mal länger, mal kürzer andauert, aber nie stabil istg, sondern strukturell stets labil bleibt, weil sie stets umkämpft ist. Souveränität mit anderen Worten ist stets heterogen, nie homogen. Das gilt selbst für den Fall rigider Militärdiktaturen oder des Nationalsozialismus, wie wir heute auch aus der Geschichtsforschung wissen. Das gilt umsomehr für Demokratien, wie sie im Gefolge der amerikanischen und französischen Revolution entstanden sind. Souveränitäts-Modelle der modernen, westlichen Gesellschaften tragen allerdings seit ihrem Gründungsakt einen unauflösbaren Widerspruch in sich. Den Widerspruch, dass der oberste Souverän das Volk ist (das sich in einem nicht weiter abgeleiteten Akt als Souverän setzt. „We hold these truths to be self-evident …“ heisst es zu Beginn der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung); dass das Volk aber zugleich seine Macht an Repräsentanten delegiert, wenn auch immer wieder nur auf Zeit. „Supreme Power (…) is a delegated Power from the people “, formulierte schon John Locke. Und in der Proklamation von Massachusettes von 1776 heisst es: „It is a maxim that, in every Government, there must exist, somewhere, a supreme, sovereign, absolute, and uncontrollable power; but this power resides always in the body of the people.”

Zweitens gilt es, die mit der Komplexität moderner Staaten sich ausdifferenzierende Souveränität - die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Juridikative - ernstzunehemen, sie also weder zu unter- noch zu überschätzen. Legislative, Exekutive und Juridikative sind über eine „trusteeship“ miteinander verbunden, sind also nicht für sich souverän, üben aber souverän, weil einseitig verbindliche Staatsgewalt aus. So funktioniert auf der einen Seite die Gewaltenteilung – wie im aktuellen Falle etwa die Zulassung von Klagen von Guantanamo-Häftling durch den obersten us-amerikanischen Gerichtshof gegen das vorgängige Handeln und die Interessen der Exekutive belegt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Gewaltenteilung unterlaufen wird, wie die gegenwärtige Situation in den USA ebenfalls zeigt, wo eine Reihe oberster us-amerikanischer Richter von der Legislative ausschliesslich aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit berufen werden.

Was wäre vor dem Hintergrund der Erkenntnisse von Gramsci, Foucault, Derrrida und anderen zur Souveränität daraus zu lernen?
Es ist Abschied zu nehmen von den letzten Residuen verschwörungstheoretischen und manipulationstheoretischen Denkens, das bei manchen, insbesondere us-amerikanischen, Intellektuellen nach dem 9.11.2001 wieder verstärkt auszumachen ist. So, wie sich herausgestellt hat, dass das Individuum ein Dividuum und das Atom nicht die kleinste Einheit der Materie ist, gilt es, den Souverän grundsätzlich als heterogenes Gebilde zu begreifen, als gegliedertes, mitunter widersprüchliches Ganzes. Als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, das strukturell kontingent ist. Es gibt kein absolutes Zentrum, auch wenn es die Bemühungen gibt, ein solches Zentrum zu schaffen. Versteht man den Souverän mit Foucault als ein Dispositiv, als eine Artikulation von Elementen, so geht es darum, das jeweils „herrschende“ Dispositiv als äussere, gemachte Anordnung zu verändern, es zu re-artikulieren und neue Elemente ins Spiel zu bringen: Ein gesellschaftliches Dispositiv, das etwa Sklaven als Nicht-Menschen (wie die griechische Polis), Juden und Jüdinnen als minderwertig (wie der Nationalsozialismus) , Schwule und Lesben als abartig (wie alle europäischen Länder und die USA bis in die 1960er Jahre) oder, ganz aktuell, MigrantInnen als grundsätzlich fremdartig und kulturell unvereinbar ausschliesst, stellt seinen Mitgliedern äusserst unterschiedliche Lebensoptionen zur Verfügung.

Wenn man zum zweiten, in Anknüpfung an Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Überlegungen zu einer radikalen und pluralen Demokratie, „den Mythos einer transparenten, homogenen Gesellschaft verabschiedet“, wird offensichtlich, dass diese Re-Arikulation des Souveräns zudem ein unabschliessbarer Prozess bleiben muss: Es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem her oder auf den hin Demokratie ausgerichtet ist.

Dieses unabschliessbare Projekt einer radikalen und pluralen Demokratie nimmt die Mikro- und Makrophysik von Individual-, Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnissen ernst und macht ernst mit einer Lebenskunst der „Selbstsorge“, einer „Ästhetik der Existenz“ (Michel Foucault) -der die Sorge um die anderen inhärent ist. In einem solchen Souveränitäts-Dispositiv, dessen Ziel nicht der gesellschaftliche Rückzug oder die Nischenbildung ist, sondern das zu einer Intensivierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt, geht es, radikal und unabschliessbar, um Selbsterfindung statt Selbstverwirklichung, um Entwerfung statt Unterwerfung, um die Ent-Fesselung multipler und hybrider, selbstbestimmter Existenzformen, statt um – wie auch immer rebellierender – Selbstunterwerfungen unter bestehende Herrschaftsstrukturen. Kurz: es geht um eine Lebenskunst, die viel-fältige statt ein-fältige Selbstentwürfe ermöglicht und erfordert, die von den Individuen selbst kreiert werden müssen. Es geht um eine Souveränität neuen Typs, eine Souveränität, die zu gleich beweglich, fluid und stabil ist, um eine Hegemonie ohne Hegemon.

Naked Bandits ist eine künstlerische Intervention im und in dieses hochbrisante Feld nicht-homogener Souveränität. Dass es dies nicht auf politizistisch verkürzte, sondern künstlerische erweiternde Weise tut, macht seine eigene Brisanz aus.
Naked Bandits macht in einem Testfall ernst mit der komplexen Auseinandersetzung mit dem komplexen heutigen Souverän: In einem grundsätzlich an vielen Punkten verortbaren öffentlichen Raum – Ausstellungen, Museen, öffentliche Plätze, Turnhallen -, einem Raum, der selbst auf die Schaffung erweiterter öffentlicher Räume und Öffentlichkeiten zielt - können die „BesucherInnen“ akustisch, visuell, haptisch und als aktiv Eingreifende die Erfahrung von Eingeschlossen- und Ausgeschlossensein, von ein- und ausschliessen machen, von Souverän-sein und von Souverän-determiniert-sein. Sie erfahren dabei mental und physische, dass sie, wie in der Gesellschaft, kollaborativ Prozesse initiieren, über deren exaktes Zustandekommen und über deren Effekte sie keinen Überblick haben. Keinen souveränen Überblick haben können, da das Resultat ihrer Aktivitäten stets der unabsehbare Effekt vieler sich überkreuzender Intentionen ist: es gibt keinen Standpunkt, von dem aus die völlige Transparenz der Aktivitäten sich zeigen würde – wie es auch keinen Ort gibt, von dem aus sich die Gesellschaft als vollkommen transparent enthüllt. Die BesucherInnen können diese Prozesse in dem Testfall allerdings buchstäblich ein-sehen, ein Stück weit erkennnen lernen, dass und wie sie zugleich Teil des Souveräns und Objekt des Souveräns sind. Dass diese Erfahrungen und Einsichten Haltungen mit ausbilden, die für ein eigenständiges, eigen-sinniges Handeln in der gegenwärtig sich herausbildenden neuen Gesellschaftsformation des Postfordismus gebraucht werden können, ist die berechtigte Hoffnung dieses Projektes. Wenn „alle Künste der grössten aller Künste: der Lebenskunst“ dienen“ (Bertolt Brecht), ist ein solches Projekt vermutlich das äusserste, was ein Kunstprojekt heute zu leisten vermag: radikal, weil an die Wurzel gehend, komplex, weil auf Augenhöhe mit der Zeit, aktuell, weil seine Betrachter in ihrem gesellschaftlichen Umfeld produktiv überfordernd.