Giaco Schiesser

Case, Miss Julie und SQUID oder Warum Sie sich dringend für die Kunst der Algorhitmen interessieren sollten (1998)


Da das Wissen einer Kultur in literarischen, filmischen und in ganz alltäglichen Erzählungen überliefert wird, will ich mit ein paar kleinen Grenzgeschichten aus der Epoche beginnen, die - je nach politischem oder wissenschaftstheoretischem Blickwinkel - Informationsgesellschaft, Postmoderne, CyberModerne, Postinformationszeitalter oder High-Tech-Kapitalismus genannt wird.

Case - ein Konsole-Cowboy

Wer sich Ende des 20. Jahrhunderts für die Zukunft interessiert, erfährt aus den Prognosen von Ökonomen, Futurologen und Politikwissenschaftler weniger als aus der Lektüre literarischer Werke oder der Betrachtung von Filmen, die man der gemeinhin gering geschätzten Gattung der Science Fiction zurechnet. Einen unbestrittenen Spitzenplatz der Science Fiction Literatur hält zur Zeit immer noch der unter dem Etikett "cyberpunk" firmierende Roman "Newormancer" von William Gibsonvon 1984 (dt. 1987). Der Held dieses Romans - er trägt den bezeichnenden Namen "Case"- erlebt seine Abenteuer in der Umgebung verwahrloster, irdischer Grossstädte, in neuen Freizeit-Ambientes im Weltraum und in der Welt eines von Computer simulierten Raumes, für den William Gibson den folgenreichen Begriff des Cyberspace erfunden hat. Case ist ein sogenannter Konsole-Cowboy, ein Cyber-Desperado, der sich Elektroden an den Schläfen montiert und in die Datenwelten eindringt, um unter der ständigen Drohung und dem ständigen Kitzel des Hirntodes elektronische Verteidigungssysteme von Konzernen und Militärdiensten zu knacken und zu geheimen Informationen vorzudringen. Unter Leuten wie Case gehört es zum guten Ton, eine snobistische Verachtung für das "Fleisch" zur Schau zu tragen: keiner von ihnen misst der banalen Welt des Körpers noch irgendeine Bedeutung bei, nachdem er die Sensationen kennengelernt hat, die man im Cyberparadies erfahren hat.
Case ist ganz offensichtlich das paradgmatische Beispiels eines Cyborgs - eines kybernetischen Organsimus. Der Computer ist für ihn wichtiger als die meisten seiner Körperteile. Er ist für ihn zum Organ geworden, ohne dass er amputiert wäre. Case will - wie es Andy Warhol einmal von sich bekannte - am liebsten eine Maschine sein. Aber selbst für den, der von Kopf bis Fuss auf virtuelle Realitäten eingestellt ist, bleibt der Körper ein unentbehrliches Werkzeug. Case kann sich seinen Obsessionen erst dann erneut gänzlich hingeben, nachdem seine durch Mykotoxine ruinierten Gehirnzellen durch einen kostspieligen Eingriff restauriert wurden. Medizinisch ist das in Gibsons Neuromancer ebensowenig ein Problem wie die wiederholte Implantation von neuen Beichspeicheldrüsen. Im Prinzip sind alle körperlichen Defekte behebbar. Folge ist, dass der Körper jede besondere Bedeutung verliert. Alle leiblichen Organe werden genauso ersetzbar wie die Komponenten technischer Geräte. Der Preis: Was jederzeit ersetzbar ist, wird nicht sonderlich geachtet.

Miss Julie - eine ältere, behinderte Frau

Die zweite Geschichte ist die Geschichte einer Person, die vor ein paar Jahren gestorben ist. Miss Julie war eine völlig behinderte ältere Frau, doch konnte sie die Tasten ihres Computers mit einem Stift, der an an ihrem Kopf befestigt war, drücken. Die Person, die sie in das "Netz" projizierte, war riesig. Im Netz war Julies Behinderung unsichtbar und ohne Bedeutung. Ihre normale Begrüssung war ein grosses, expansives "HI!!!!!!" Ihr Herz war so gross wie ihre Begrüssung, und in den intimen elektronischen Freundschaften, die während Online-Konferenzen zwische Menschen entstehen können, die sich niemals körperlich begegnet sind, teilten Julies Freundinnen ihre tiefsten Schwierigkeiten, während sie ihnen Ratschläge gab, die ihr Leben veränderten. Eingsperrt in ihren kaputten Körper war Julie selbst aufgeweckt und aufmerksan, nachdenklich und fürsorglich.
Nach einigen Jahren geschah etwas , das die Konferenz zutiefst schockierte. Es gab keine "Julie". "Sie" war, wie sich herausstellte, ein männlicher Psychiater mittleren Alters. Nachdem er sich in die Konferenz das erste Mal eingeloggt hatte, begann er zufällig eine Diskussion mit einer Frau, die ihn mit einer anderen Frau verwechselte. "Ich war über die Art der Konversation erstaunt", so berichtete er später. "Ich hatte nicht gewusst, dass Frauen auf diese Weise untereinander sprachen. Es gab so viel mehr Verletzbarkeit, so viel mehr Tiefe und Komplexität. Die Konversation der Männer in den Netzen war viel abgesicherter und oberflächlicher, selbst unter solchen, die sich gut kennen. Es war faszinierend, und ich wollte mehr davon."
Er verbrachte Wochen damit, die richtige Personendarstellung zu entwickeln. Eine völlig behinderte, alleinstehende ältere Frau war perfekt. Er hatte das Gefühl, dass man nicht erwarten würde, dass eine solche Frau ein soziales Leben führt. Daher würde ihre Existenz als eine Netzperson ganz natürlich erscheinen. Das funktionierte über Jahre hinweg, bis eine von Julies ergebenen Verehrerinnen, die darauf drängte, sie persönlich zu treffen, sie entlarvte.
Diese Nachricht hallte durch das Netz wider. Die Reaktionen reichten von humorvoller Resignation bis hin zu blinder Wut. Am tiesten betroffen waren die Frauen, die Julie ihre geheimsten Gefühle mitgeteilt hatten. "Ich fühlte mich vergewaltigt", sagte eine. "Ich hatte das Gefühl, dass meine tiefsten Geheimnisse verletzt wurden." Einige gingen so weit, die wirklichen, erfolgreichen Veränderungen, die sie in ihrem persönlichen Leben gemacht hatten, zu widerrufen. Sie hatten das Gefühl, dass diese Erfolge auf Betrug und Täuschungen basierten. Die Computerprogrammierer grinsten nur müde. Sie gingen schon lange davon aus, das sich viele der alten Annahmen über das Wesen der Indentiät mit dem neuen elektronischen Geschenk ganz aufgelöst haben.

SQUID - das elektronisches Erlebnissystem

Die letzte kleine Geschichte beginnt mit der dreieinhalbminütigen Anfangsszene des Films "Strange Days" (1995) der Regisseurin Kathryn Bigelow, die in höchstem Stakkato-Takt abläuft. Gezeigt wird ein Banküberfall aus der Perspektive eines der Bankräuber, der bei dem Coup mit seinen Kumpanen von der Polizei überrascht wird und schliesslich bei der Flucht über die Dächer tödlich abstürzt. Der Zuschauer erlebt die ganze Szene aus der Innenperspektive des Abgestürzten. Möglich ist das dank SQUID, Supraleitende Interferenz Detektoren. SQUID werden als eine Art elektronisches Haarnetz auf dem Kopf getragen, versteckt unter Perücken oder Mützen. Sie erlauben einerseits, die Erlebnisse einer Person mit all ihren Sinnen aus deren Innen-Perspektive aufzunehmen. Diese Aufzeichnungen werden drahtlos auf einer auf sich getragenen Compact-Disk übertragen und aufgezeichnet. Das Headset ermöglicht andererseits anderen Personen, die Erlebnisse einer ihnen fremden Person aus deren ganz persnlicher Perspektive zu erleben. Ich sehe also nicht nur aus der Perspektive eines anderen, mittels Headset bin ich quasi im Körper des anderen. Es ist Lenny, die Hauptfigur, und mit ihm der Zuschauer, der sich zu Beginn des Films die Squid-CD des abgestürzten Bankräubers anschaut. Der geschasste frühere Sittenpolizist Lenny dealt mit solchen CDs, ausser wenn es sich um Snuff-CDs, wie das gerade gesehene handelt. Snuff-CDs sind CDs, bei denen der SQUID-Aufzeichner zu Tode kommt. Der Film spielt anhanden verschiedener Figuren durch, welche Lüste und Ekstasen mittels solcher CDs geweckt und befriedigt werden. In der aufwühlendsten und grässlichsten Szene zugleich, die das Potential von Squid-CDs grell ausleuchtet, lässt die Regisseurin Kathryn Bigelow Irene, eine Freundin Lennies, vergewaltigen. Der Vergewaltiger schliesst sie mit dem eigenen Headset kurz, so dass Irene ihre Vergewaltigung auch aus der Sicht ihres Vergewaltigers miterleben muss.

Erweiterung des Körpers oder nach uns die Replikanten?

Was sich in diesen drei kleinen Erzählungen andeutet, ist nichts weniger als der Umbau einer Gesellschaft, dessen Ausmass nur mit dem Übergang des Feudalismus in den Kapitalismus bzw. der Agrar- in die Industriegesellschaft vergleichbar ist. Alle drei Erzählungen werfen eine Reihe beunruhigender philosophischer, gesellschaftstheoretischer, ökonomischer, politischer, kultureller und künstlerischer Fragen auf, die ich hier selbstverständlich nicht alle diskutieren kann. Die wichtigsten will ich aber zumindest benennen: Wer bin ich, wer ist der andere, wenn unsere Identität vielfältig und fragmentiert ist und unser Körper zunehmend mit elektronischen Apparaturen wie Herzschrittmachern, Hörgeräten und Sehchips ausgestattet, ja in unsere Gehirne sog. Brain-chips implantiert werden; wer ist ich, wenn wir mit anderen Worten bereits zu cyborgs - zu kybernetischen Organsimen - mutiert sind, wie die us-amerikanische Biologin Donna Haraway feststellt oder uns demnächst von biologisch-technischen Wesen, Schwärmen von Mikrosatelliten, programmierbarer Materie, autonomen Nanotechnologien und virtuellen Agenten umgeben sein werden, wie nicht nur Kevin Kelly, Chefredakteur der Zeitschrift Wired vermutet? Wo endet mein Körper in der Cybergesellschaft? An der Fussohle, an den Fingerspitzen, an der Kopfhaut? Wo, wenn ich, was bereits heute möglich ist, in Basel sitzend, mich im Cyberspace als 20jährige Frau erschaffe, die mit einem gleichaltrigen Jungen aus Toronto (von dem ich nicht einmal ahne, wer sein Schöpfer, seine Schöpferin ist) einen virtuell-realen Pas-de-deux tanze oder wöchentlichen cybersex auf einer virtuellen Liege pflege? Endet mein Körper vor dem, im oder hinter dem Bildschirm irgendwo zwischen Allschwil und Toronto? (Wer weiss, vielleicht im Atlantik).Was ist mit dem Geist, der Intelligenz des Menschen: gehen sie, wie einige KI-Forscher wie Hans Moravec behaupten, mit den Computern neuesten Typs, den sogenannten neuronalen Netzwerken, vollständig auf Androiden, Roboter oder Replikanten über? Ist der Mensch also ein Auslaufmodell der Naturgeschichte: sterblich, für das absehbare unökologische Zeitalter eine körperliche Fehlkonstruktion und von reichlich beschränktem Geist? Zerfällt die Welt, die Gesellschaft in einen Haufen von autistischen Virtual-Junkies und information-rich, die über das Know-how der neuen Technologien und die wichtigen Informationen verfügen und einen grossen Rest von information-poor - auch in der ersten Welt -, der abgehängt als underdog im Untergrund weiterhin das dröge Dasein des nüchtern-bornierten homo faber des 19. und 20. Jahrhunderts fristet? Weiter: welche Menschen arbeiten überhaupt noch und wer verarbeitet welche Informationen zu welchem Zwecke? Menschen, Cyborgs, Androiden, verselbständigte neuronale Netze? Oder steht uns, wie Nicholas Negroponte, der Direktor des Media-Lab am MIT und die kalifornischen Cyberspace-Propheten meinen, ein digitales Zeitalter ins Haus, das uns der Mühsal alltäglicher Lohnarbeit enthebt, in dem alle ein langes Leben gut drauf sind und unsere Kinder materielle Alltagssorgen nur noch aus Geschichtsbüchern kennen?

Kartographierungsversuche im digitalen Zeitalter

Vor drei Jahren besuchte ich mit einer Ausbildungsklasse der Schule für Gestaltung Zürich eine jener kommerziellen Unterhaltungs-virtual-reality-Anlagen, wie sie hie und da auch in der Schweiz zu finden sind. Ausgerüstet mit Datenhelm, Datenhandschuhen und Aktionsstick, stehend wie einsame Boxer in zwei getrennt aufgestellten Ringen, konnten dort zwei KontrahentInnen in einem virtuellen Raum - einem Gebäude, das aus verschiedenen geometrischen Ebenen bestand, die mit Treppen miteinander verbunden waren - sich bewegen, verstecken, jagen und mit Gewehren auf den jeweils anderen, der im Raum als virtuelle Figur sichtbar war, schiessen. Die Raumauflösung war reichlich grob, die Projektile flogen mit der atavistischen Geschwindigkeit, Flugbahn und Reichweite mittelalterlicher Kanonenkugeln. Diese reichlich primitive Anlage hatte zur Folge, dass mehreren Studenten speiübel wurde und eine Studentin nach wenigen Minuten unter dem Datenhelm in Ohnmacht fiel. Das passt zu Meldungen aus den USA, die berichten, dass BenutzerInnen solcher VR-Anlagen ab und an zusammenklappen, im Extremfall epileptische Anfälle erleiden.

Unsere Wahrnehmung im Cyberspace ist hoffnungslos überfordert. Die historisch und kulturell gewachsenen Sinne orientieren sich an den gewohnten Koordinaten: an der Schwerkraft, am Augensinn und dessen Organisation der Raum-Zeitstruktur. Weil sie im Cyberspace keinen Halt finden, kommen Augensinn, Gleichgewicht und schliesslich der Körper ins Rotieren, und die CyberianerInnen verlieren den Boden unter den Füssen. Was hier lebensweltlich erfahren wird, ist philosophisch gesehen das Fragwürdigwerden der zentralperspektivischen Wahrnehmung, die seit der Renaissance, und der Zeitstrukturen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), die "von Augustinus bis Heidegger" (Paul Virilio) als unhintergehbare Grundkonditionierungen menschlicher Existenz gegolten haben. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht liegt hier der Fall in eine in allen ihren Bereichen (Ökonomie, Politik, Kultur) nach neuen Logiken funktionierenden, auf Digitalisierung und Vernetzung basierenden Informationsgesellschaft vor .

Fragwürdig ist den neuen Medientheorien bisher vor allem die Zeit geworden. Von Virilios seit den 70er Jahren entwickelten Dromologie bis zu Baudrillards bisher letzter Wende in "Die Rückwendung der Geschichte" Mitte der 90er Jahre dominiert die Debatte um Echtzeit, aufgeschobene Zeit (Virilio), Eigenzeit, Laborzeit (Helga Nowotny), Simulationszeit (Friedrich Kittler) oder erlebte und gelebte Zeit (Mike Sandbothe/Walther Zimmerli in Anknüpfung an Eugène Minkowski). Der Raum, der im Wort Cyberspace markant sich behauptet, bleibt dagegen seltsam unterdiskutiert. Die medientheoretische Begierde auf Zeit hat ein lange Geschichte. Im deutschsprachigen Raum geht sie unter anderem auf ein Verdikt Heines von 1843 zurück: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! (...) Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit". Heute sind es vor allem KünstlerInnen, die sich mit der Schnittstelle Mensch-Maschine auseinandersetzen, welche den kybernetischen Raum zu ihrer hauptsächlichen Beschäftigung gemacht haben.

Die Mensch-Maschinen-Schnittstellen werden mit den digitalisierten, immersiven Medien zu Türen, sind nicht länger nur Fenster wie im Falle der bildenden Kunst, der Fotografie, des Films, Fernsehens oder des Videos. Denn der Mensch ist hier nicht mehr nur Beobachter, sondern er wird zum - seit der Erfindung des Radios immer wieder angekündigten - wirklichen Akteur, zur realen Mitspielerin. Graphische Schaubilder, aus denen die See- und Landkarten entstanden, der Kompass und der erste Globus von 1492 begründeten die Koordinaten der modernen Welt, der Industriegesellschaft. Sie haben uns bekanntlich Fortschritt und Barbarei gebracht. Kunst und Ästhetik der neuen Cyberkultur, so mein Vorschlag, lassen sich vorzugsweise als Kartographierungsversuche neuer Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Erkenntnisformen im digitalen Zeitalter lesen. Noch sind wir weit davon entfernt, die neuen Koordinaten für die terra incognita der Cybergesellschaft zu kennen, geschweige denn taugliche Navigationsionstrumente in den Händen zu halten. Eines indes steht schon seit geraumer Zeit fest: einen Nordpol, einen archimedischen Punkt auf den hin sich alle Kompasse magisch und magnetisch ausrichten, gibt es in der Cybergesellschaft nicht mehr. Die seit der Postmoderne-Diskussion Anfang 80er Jahre pathetisch vorgetragene und mittlerweile etwas patinaüberzogene Forderung nach einer kopernikanischen Wende des Individuums hin zum pluralen Subjekt - in der Cybergesellschaft wird sie zur conditio sine qua non menschlicher Existenz. Was jeder von uns für sein (Über-)Leben brauchen wird, sind viele Karten, Lageplne und Schaubilder vollkommen neuen Typs, die nach unterschiedlichen Koordinaten geschaffen sind.

Selbst wenn er ins Bodenlose fällt, können wir nicht aus unserem Körper, unserem "Hautsack" (Dietmar Kamper) heraus. Zugleich haben wir schon immer versucht, Körpergrenzen hinauszuschieben, in Ritualen, im Tanz, im Rock'n'Roll, im Hip-Hop, in Drogenerfahrungen. Heute sind die Grenzen dieses Hautsackes nicht mehr klar und nicht mehr begrenzbar. Was es gibt, ist die Wahrnehmung innerhalb des Krpers: Man hat einen Körper, man empfindet seinen Körper, man empfindet von innen. Als Menschen sind wir uns eines Körpers bewusst, mit dem wir aufgewachsen sind, der durchwirkt ist von unseren je spezifischen Schicht-, Geschlechts- und ethnischen Erfahrungen, dessen Bild uns in Fleisch und Blut ¸bergegangen ist und dessen Möglichkeiten und Beschränkungen unser Selbst- und Weltbild, unsere Identität prägen. Selbst weggeschossene oder amputierte Arme und Beine werden noch Jahre nach ihrem Verlust als von ihren ehemaligen Besitzern gespürt, wie wir aus militärischen Lazarettberichten wissen, und neuere neurophysilogische Untersuchungen belegen, dass wir auch mit dem Magen denken.

Von der Erweiterung des Körpers zur Maschine als Subjekt

Der exklusive und universelle Gesichtspunkt des gelehrten Renaissancemenschen, der seit dem 15. Jahrhundert das europäische Denken und Fühlen bestimmt hat, beginnt dem multiplen und inklusiven Lebenspunkt digitalisierter Menschen zu weichen. "Das Netz der Satelliten bietet uns eine neue Haut an". (Derrick de Kerckhove) Menschen, deren Haut an den Satelliten aufgespannt ist, haben keinen singulären Standpunkt und keine zentralperspektivische Sicht mehr, weil sie gleichzeitig an einem und an vielen Orten sind. Richtig ist zugleich: Welche Erweiterungen man auch immer diesem Körper durch irgendeine Schnittstelle gibt, man befindet sich immer durch die Eigenwahrnehmung im Raum, der sich zwischen dem entferntesten Ort der Handlung und dem Ursprungsort, der der eigene Körper ist, erstreckt. Heute leben wir in der Morgendämmerung (wahlweise: im Morgengrauen) von neuro-mimetischen Systemen, das heisst von solchen Computern, Robotern, Replikanten - oder wie wir die unterschiedlichen Formen von artificial life in Zukunft auch nennen werden -, die, wenn nicht wie das menschliche Gehirn und das menschlichen Nervensystem, so doch ihnen vergleichbar lernen, konstruieren, planen und erfinden, ohne dass Menschen mit Handlungen von aussen in die Systeme eingreifen müssten (zur Zeit braucht es noch den Anfangsimpuls, der das System in Bewegung setzt). Wir sind dabei, autonome Subjekte zu schaffen. Wir leben in einer Kultur, die dabei ist, von der Beherrschung der Energie und der krperlichen Kraft, die den Kapitalismus von seinen Anfängen im 16. Jhd.bis zur Krise des Fordismus Anfang der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts prägte, zu der Beherrschung der Planung der geistigen Kraft und der Intelligenz überzugehen. Diese Verschiebung führt die "Autonomation" ein. Mit diesem Begriff, eine hybride Neuschöpfung aus den Begriffen Autonomie und Automation, fasst Derrick de Kerckhove, Assistent und Nachfolger des neuerdings wieder allerorten zitierten Marshall McLuhan am McLuhan Institute of Culture and Technology in Toronto, die Daseinsweise dieser neuen neuronal-mimetischen Systeme. Die Schaffung dieser neuen technischen Subjekte stellt die Autonomie des westlichen Typs des Subjekts, das wir noch immer zu sein glauben, und das die Grundlage der westlichen Kultur seit sagen wir Platon darstellt, radikal in Frage.

Die Ordnung der Maschinen und die Unordnung der Sinne

Es sind diese Systeme, die uns zutiefst ängstigen, weil sie uns zutiefst bedrohen. Und es ist diese Bedrohung, durch die sich denjenigen KünstlerInnen, die sich der virtuellen Realität, dem Cyberspace und der Robotik verschreiben, dieseits von modischen Attit¸den, in künstlerische Herausforderungen und Krisen stürzen lassen. Mag sein, dass der in der Kunst länger als in der Literatur und den Wissenschaften ungebrochene Glaube an ein in sich versenktes Individualgenie mit zum radikalen Umschwung in der Kunst beigetragen hat. Im Unterschied zu den Technikern, den Politikern und den Naturwissenschaftlern wollen uns die KünstlerInnen genaue Antworten in bezug auf unsere Maschinen finden lassen. Diese KünstlerInnen versuchen, uns in bezug auf unser Geschöpfe, denen eine unheimlich Tendenz zur Tyrannei eignet, zu situieren. Können wir der "Ordnung der Maschinen" und mit ihr der "Unordnung der Sinne", die mit jeder technischen Umwälzung entsteht, wie Arthur Rimbaud hellsichtig bemerkt hat, entgehen? Ja, meint Derrick de Kerckhove : Statt die Maschinen zu fürchten, müssen wir sie überwinden, das heisst, "wir müssen sie im Inneren unseres persönlichen psychologischen Universums, unseres Körper- und Weltbildes absorbieren". de Kerckhove mag dabei an die Geschwindigkeit gedacht haben, die wir seit der Erfindung der Eisenbahn, des Autos und des Flugzeugs verinnerlicht haben und weiterhin am Verinnerlichen sind. Unsere Sinne handhaben heute die Geschwindigkeit in einer Virtuosität, die leicht vergessen lässt, dass noch vor 150 Jahren bei den ersten Eisenbahnfahrten die Passagiere in Ohnmacht fielen, wie Heinrich Heine in den 1840er Jahren aus Paris nach Deutschlande zu berichten wusste. Dies bei 35 Stundenkilometern, einem Tempo mit dem sich heute 15jhrige mit dem Fahrrad locker aus eigener Kraft fortbewegen.

Cyberkunst und Alltagserfahrungen

Die optimistische Perspektive die sich aus de Kerckhoves Vorschlag für die Kunst gewinnen lässt, heisst: Die Kunst erprobt versuchsweise Wahrnehmungskoordinaten für Möglichkeiten der Erweiterung des taktilen Sinns und des Körper im Cyberspace und in der CyberModerne. Sie kann die Veralltäglichung der Maschinen durch ihre Verinnerlichung beispielhaft vorführen, indem sie sie uns ehemaligen BetrachterInnen von Kunstwerken und angehenden Akteuren, Mitspielerinnen und in letzter Konsequenz: Mit-KünstlerInnen, sinnlich-konkret erfahrbar macht. Dadurch unterschiede sich die Kunst von den Kulturwissenschaften und der Philosophie. Die Kunst würde so zu einem Beitrag zur grössten aller Künste leisten, zur Lebenskunst einer ganzen Gesellschaft. Dass manche der Cyber-KünstlerInnen der "ersten" und "zweiten" Cyberkunst-Genaration (vgl. dazu Söke Dinkla) wie Jeffrey Shaw, Lynn Hershman, Stelarc, und Knowbotic Research, Christa Sommer und Laurent Mignonneau, um nur einige der bekannten zu nennen, in diese Richtung gehen, stimmt optimistisch. Die pessimistiische Variante, die de Kerckhove nicht in Betracht zieht, bedeutet zum Beispiel taktile Erweiterung von Menschen zu Cybersoldaten oder zu gentechnisch mutierten Übermenschen. Wir wissen, dass daran fieberhaft und mit nicht wenig Geld gearbeitet wird. Und: man sollt sich hüten, Kriegskunst und Gen-Design nicht als Künste zu verstehen.

Ob sich der Fortschritt oder die Katastrophe, ob sich fortschrittliche Katastrophen oder katastrophale Fortschritte durchsetzen werden; ob der Mensch wie ein Sandkorn im Meer der Naturgeschichte verschwinden wird, wie Michel Foucault in seinen dunkleren Momenten befürchtete, während er zugleich unablässig für eine "Ästhetik der Existenz", für ein sich selber immer wieder neu Entwerfen jedes und jeder Einzelnen plädierte, ist kein Naturereignis. Die Antwort auf diese Fragen wird entschieden auch durch die Kunst, die sich der kommodifizierten Finalität der Technik verweigert, sie bremst, relativiert, reduziert oder umpolt und ihr in ihrer Sinnlichkeit verblüffend neuen Sinn abgewinnt. Die ersten, noch ziemlich groben Karten und Navigationsinstrumente, die die KünstlerInnen uns heute mit ihren algorhitmisch errechneten Bildern, Installationen und Programmen an die Hand geben, erlauben uns zumindest ein Probehandeln in dieser terra incognita der aufkommenden Cyber - oder Informationsgesellschaft: Erleben durch Chock-Gewöhnung, Erfahrung durch Sampling, Erkenntnis durch Zerstreuung (Walter Benjamin), Coolness oder "Blasiertheit" (vgl. Rudi Thiessen) als Lebenshaltung, Hypertext oder "Begriffsperson" (Gilles Deleuze) statt Autorschaft, assoziative Antizipation und "Cyborg, Coyote" oder "Mestiza" (Donna Haraway) als Handlungs- und Lebensperspektive heissen einige ihrer Stichworte. Installiert in Hinterhöfen, Garagen, Instituten, mitunter auch schon in Museen, Galerien und an Hochschulen, konditionieren sie im kleinen, unter Laborbedingungen, gesellschaftlich weitreichende und noch unabgegoltene Erfahrungen zu machen.

Bibliographie

Söke Dinkla: Pioniere interaktiver Kunst von 1970 bis heute. Heidelberg: Cantz 1997.
Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaften. Berlin: Argument 1995.
Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Mannheim: Bollmann 1997
Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. München: Wilhelm Fink 1995.
Giaco Schiesser: Das Paradies liegt westwärts! 9 Thesen zur Version 8.0 der besten aller Welten. In: Multi Media Mania. Reflexionen zu Aspekten der Neuen Medien. Hrsg. von René Pfammatter. Konstanz: UVK / Ölschläger 1998, S. 267ff.
Rudi Thiessen: Urbane Sprachen. Proust, Poe, Punks, Baudelaire und der Park. Berlin: Vorwerk 8 1997.