Hans Rudolf Reust

Lidschläge und Vergessen


ein Text nach Zeichnungen von Silvia Bächli



Silvia Bächlis Zeichnungen scheinen von grosser Unmittelbarkeit. Jedes einzelne Blatt - ein singuläres Bild zunächst - hat in sich eine hohe Selbstverständlichkeit, als wäre es dagewesen, bevor es entstand. Weder Konstruktionen noch ein heftiger Gestus verraten das Vorgehen der Zeichnerin. Jedes Blatt scheint einen Bildgedanken präzise, verdichtet und dabei so umfassend zu formulieren, dass kein Raum mehr für diskursive Zugaben bleibt. Seine wortfernen Gedanken sind weder gesucht noch gefunden: sie ereignen sich im Augenblick.

Beim Versuch, ein bestimmtes Blatt zu beschreiben oder zu erinnern, erweist sich eine überraschende Unbeständigkeit des Motivs, das doch eben noch deutlich präsent schien. Obwohl die Darstellung auf vage Andeutungen verzichtet, vielmehr mit wenigen Strichen und Flächen eine entschiedene Form rhythmisch und in Kontrasten aufbaut, bleibt der Erinnerung kein konstantes Bild. Selbst ein Motiv, welches lange einsichtig war, kann unvermittelt flüchtig werden; seine Sinnlichkeit erscheint körperlos, die differenzierte Binnenstruktur eher schemenhaft, um der Erinnerung jeglichen Anhaltspunkt zu entziehen. Nicht durch ihre Unfarbigkeit, sondern aufgrund dieser späten Unschärfe sind Bächlis Zeichnungen den Schattenwürfen vertrauter Gegenstände verwandt. Unlängst enstanden auch erste polychrome Blätter, worin das Aufeinandertreffen kontrastierender Farbfelder eine ähnlich labile Deutlichkeit erreicht.

Das weisse Blatt ist weniger Träger als Element der Zeichnung, welches in, mit und gegen sie wirkt. Dabei können einzelne Bildkonzeptionen durchaus benannt werden: die krasse Fokussierung, lakonische Auslassungen, Aussparungen, leichte Verschiebungen, Überdehnungen oder hybride Verdoppelungen. Die Hand entwirft Szenen nahe dem Close-up oder der Totale einer Kamera. Die Vorstellung präziser Bildgedanken mag auch dazu verleiten, einzelne Formen, Strichführungen oder Motive im Fluss der Assoziationen zu vergleichen, um eine Ordnung des zeichnerischen Repertoires bei Silvia Bächli aufzubauen. Körperpartien, Kleider, weite leere Landschaften, netzartig sich verzweigende Gewächse, ein langhin gespannter Strich, vibrierende Flecken, Mikroorganismen - die Liste der Themen ist offen. Alle Ordnungen bleiben jedoch prekär, weil jedes Motiv eine unkontrollierbare Folge innerer Bilder auslöst, die es der festen Zuschreibung entziehen.

Silvia Bächli nimmt diese Vieldeutigkeit auf, indem sie keine Zeichnung als Einzelwerk zeigt. Jedes Blatt geht schliesslich in eine Konstellation ein, die als Sequenz wie als ein offenes Feld gesehen werden kann. Ein nach Abständen definierter Zusammenhang eröffnet dem Bild ein mögliches Assoziationsfeld, worin es sich verfestigende Bezüge irritiert. Auch bei den Konstellationen setzt eine annähernd filmische Wahrnehmung ein, wenn dem wandernden Blick eine Sequenz von Stills in wechselnden Einstellungen erscheint, ohne dass eine lineare Erzählung sich verselbständigen könnte.

Bächlis Zeichnungen begegnen einer Kultur, die manisch Daten sammelt, um im Bild zu sein. Datum - das Gegebene - steht immer auch im Widerspruch zum Möglichen. Indem diese Zeichnungen sich vergessen lassen, sind sie einer Welt verfügbarer Informationen, sind sie der schieren Informiertheit entzogen. Mit jedem Blatt wächst das Potential des nicht Erinnerbaren, durch welches die Wahrnehmung zwischen einem Lidschlag und dem nächsten zum Ereignis wird. Jede Zeichnung ist die Möglichkeit zu einem augenblicklich schon fehlenden Bild.

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Die Schweizer Zeichnung im 20. Jahrhundert, Zürich / New York, 1998