Das Online-Projekt 'shrink to fit'

Kuratorische Untersuchung (Teil 1)

von Reinhard Storz


    Einleitung
01.) Netzkunst als Auftragsarbeit
02.) Work in Progress
03.) Trailertexte
04.) Die Projekt-Thematik von 'Shrink to fit'
05.) Das Interface als Parasit
06.) 'Window Interface'
07.) Die Link-Frage
08.) Programmierte Kunst
    Exkurs: Programmierte Kunst


Einleitung
Untersuchungsgegenstand des Forschungsprojekts "Netzkunst - online und im Museum" sind Fragen der Produktion, Kommunikation, Rezeption und Archivierung, die sich im Zusammenhang mit der kuratorischen Praxis von Netzkunst sowohl online wie im Museumskontext ergeben.
Um die Fragen in der Praxis überprüfen und analysieren zu können, wird im Rahmen unserer Forschung von August 01 bis Juni 02 das Online-Kunstprojekt "Shrink to fit" entwickelt und realisiert. Es gilt, spezifische Fragestellungen der künstlerischen Netzarbeit und ihrer kuratorischen Bedingungen herauszuarbeiten, entsprechende Erfahrungen zu sammeln und zu analysieren. Aus den Daten und Informationen der ersten Etappe (bis 31.1.02) werden Schlüsse für weitere Untersuchungen in der zweiten Etappe des Forschungsprojekts gezogen.

Eine komplexe Frage stand am Anfang unseres Online-Kunstprojekts "shrink to fit": Welche medienspezifischen Bedingungen muss Netzkunst berücksichtigen und hinterfragen, um genuin als künstlerische Antwort auf das neue Kommunikationsmittel gelten zu können? Nachfolgend werden die entscheidenden Projektmerkmale von "shrink to fit" untersucht und sowohl in ihrer praktischen Konsequenz wie im medientheoretischen Kontext erörtert.

Das Projekt Shrink to fit'
Bei 10 Künstlern und Künstlerinnen werden Netzarbeiten in Auftrag gegeben. Bedingung ist: ihre Projektbeiträge sollen einzeln nicht mehr als fünf bis sieben Minuten Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Zu jeder Arbeit schreibt ein Autor / eine Autorin einen kurzen Text. Jeden Monat am 15. wird in 'Shrink to fit' ein neues Teilprojekt aufgeschaltet, der Text erscheint als 'Trailer' bereits 2 Wochen früher.


1.) Netzkunst als Auftragsarbeit
Im Gegensatz zu Museen, die für thematische Ausstellungen auf bereits bestehende Kunstwerke zurückgreifen können, muss ein Online-Kuratorenprojekt neue Werke in Auftrag geben. Die Alternative aus der Museumspraxis würde das blosse Verlinken von im Netzt bereits veröffentlichten Kunstwerken bedeuten. Das leisten im Internet schon zahlreiche Linklisten und kann nicht Lösung eines kuratierten Kunstprojekts sein.
Die Vergabe von Auftragsarbeiten für ein mehrteiliges Kunstprojekt bedingt eine thematische Vorgabe für die Teilbeiträge. Für 'shrink to fit' ergingen Aufträge an KünstlerInnen, deren bisherige Arbeit mit dem Projekthema der kurzen Aufmerksamkeit korrespondiert. Zum grösseren Teil wählten wir KünstlerInnen, die sich bereits international mit Arbeiten in der Netztechnologie profiliert hatten, vereinzelt betreuten wir für unser Projekt aber auch KünstlerInnen, die bisher noch nie mit dem Netzmedium gearbeitet hatten. (1)


2.) Work in Progress
'Shrink to fit' ist ein Work in Progress. Daten im Zeitmedium Internet können jederzeit ergänzt und erweitert werden. Anstatt wie in Museumsausstellungen oder Printpublikationen das Projekt zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen zu veröffentlichen, wählen wir eine Progression über die Frist von zehn Monaten. So können wir für das projektbegleitende Publikum, das sich einmal pro Monat ins Projekt einschaltet, das Shrink-Konzept der kurzen Aufmerksamkeitsdauer einhalten, während die vergangenen Monatsbeiträge im Archiv um eine Stelle nach unten rücken. Mit dem periodischen Erscheinen neuer Beiträge und Texte wird "shrink to fit" über 10 Monate hinweg "heiss" gehalten.
Im Juni 2002 wird das Projekt seine komplete Form erreicht haben. 'Shrink to fit' wird dann im aktiven Archiv von Xcult erreichbar bleiben.


3.) Trailertexte
Zu jedem Teilprojekt von "shrink to fit" erscheint zwei Wochen voraus ein Text, der die Aufgabe hat, als Trailer auf das kommende Netzkunst-Projekt neugierig zu machen und es nach seinem Erscheinen als Kommentar, Interpretation und Hintergrundinformation zu begleiten. Dass aktuelle Kunstwerke klärungsbedürftig sind, erkennen wir heute in jeder anspruchsvollen Ausstellung zur aktuellen Kunst. Die Begleittexte an den Wänden der Museumsräume werden immer wichtiger, und das Publikum ist dankbar für das Angebot. Im Internet mit seiner Hypertext-Struktur ist das Nebeneinander von Text und Bild eine Selbstverständlichkeit. Wir nutzen sie und treiben sie über die im Kontext der Netzkunst nach unserem Wissen noch nie erprobten Trailerfunktion von Texten weiter. Dabei gewähren wir auch den TextautorInnen eine formale Freiheit: ihre Texte sollen nicht bloss didaktisches Instrument sein, sondern unterschiedliche Formen der Kunstvermittlung erproben.


4.) Die Projekt-Thematik
Thematisch-formale Vorgabe für die 10 Monatsbeiträge des Projekts "shrink to fit" ist die Bedingung einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne. Die Werkbeiträge der eingeladenen KünstlerInnen sollen einzeln nicht mehr als fünf bis sieben Minuten Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.(2) Damit nimmt Shrink Bezug auf eine spezifische Rezeptionsbedingung des Internets, ohne, auf den ersten Blick zumindest, die Arbeitsideen der beteiligten Künstlerinnen und Künstler stark einzuschränken.
Angesichts der oft zitierten "Informationsflut" in unserer Wissensgesellschaft wird der Zeitfaktor im individuellen Mediengebrauch zu einem zentralen Parameter. Dieser Tatsache müssen sich Kunstkuratoren genauso stellen wie andere Content-Provider, welche sich im Internet um die Aufmerksamtkeit des Publikums bewerben. Nicht zufällig hat das Stichwort der Aufmerksamkeitsökonomie parallel zum Wachstum des Internets an Bedeutung gewonnen. Während in den vergangenen 20 Jahren das Informations- und Unterhaltungsangebot in den neuen und alten Medien sich quantitativ vervielfacht hat (Gratiszeitungen, Privates Fernsehen, Internet), ist das Mass der verfügbaren Medienaufmerksamkeit auf der Rezipientenseite seit 1980 nur (oder immerhin!) um 60% auf über acht Stunden gestiegen./3) Mit unserem Projekt versuchen wir, bei kunstinteressierten Internet-Usern monatlich während 5-10 Minuten Interesse zu provozieren. Damit wird eines klar: Im World Wide Web mit seinem immensen Informationsangebot benötigt es heute einiges an medialem Knowhow, um überhaupt ein Publikum zu gewinnen und an die eigene Site zu binden. Auch im Kunstbereich hat in den letzten drei Jahren jede gesellschaftlich relevante Institution einen eigenen Web-Auftritt realisiert, der die real schon bestehende Klientel mit Informationen bedient. Als "virtuelles" Kunstprojekt muss Shrink dagegen ein Online-Publikum erst aufbauen und von seiner Relevanz überzeugen. Dass für die Online-Kunst von Shrink kein Eintritt erhoben wird, ist (von der heutigen Netzerfahrung her) selbstverständlich: "Im Internet wird bis auf Ausnahmen, die die Regel bestätigen, nur noch in Aufmerksamkeit bezahlt. Was hier zählt, ist nicht mehr die Kasse, sondern das Zählwerk, das die Besucherzahlen der web site registriert."(4)
In seinen Untersuchungen zur Ökonomie der Aufmerksamkeit stellt Georg Franck fest, dass die Geldwährung zunehmend durch die Währung Aufmerksamkeit abgelöst wird. Medien, Kultur und Wissenschaft hängen nur noch in zweiter Linie vom Geldfluss ab, ihr erstes Produktionsmittel ist die Aufmerksamkeit. "Sie sind die Vorhut einer Wirtschaftsweise, in der es generell wichtiger geworden ist, auf die Aufmerksamkeit zu achten, als auf das Geld. Medien und Wissenschaft sind nun aber auch die führenden Industrien der Gesellschaft, die sich Informationsgesellschaft nennt. Sie sind es, die die materielle Produktion aus der Vormachtstellung gedrängt haben."(5)
Mit seiner Projektthematik und Interface-Lösung knüpft 'shrink to fit' an diese Überlegungen an, als künstlerische Untersuchung kleiner Erzähl- und Interaktionsformen. Die Dramaturgie der schnellen Verführung und Repräsentation, welche sich in Trailers, Clips und Spots immer auf beworbene Produkte bezieht, wird im Konzept von "shrink to fit" zur autonomen Form, zum zerdehnten oder beschleunigten Umgang mit dem eiligen User und seiner prekären Präsenz. Als Kunstprojekt kann 'shrink to fit' aber nicht auf den Publikumsgeschmack und damit auf hohe Einschaltquoten zielen. Die Monatsbeiträge widersprechen den populären Erwartungen an die kommerziellen Vorbilder. Doch auch Kunst untersteht letztlich dem Diktat der Aufmerksamkeit. An dieser Stelle knüpft die Interface-Lösung des Projekts an.


5.) Das Interface als Parasit
In 'Shrink to fit' haben wir auf eine per Netzadresse klar lokalisierbare Homepage verzichtet. Wir entwickelten ein Flash-Interface, das sich auf jeder Webseite einfügen lässt.(6) Zum Beispiel auch hier:

Die kleinen Fenster, die sich von diesem Interface aus öffnen lassen und die eigentlichen Inhalte von 'Shrink' enthalten, werden vom User erfahrungsgemäss der Adresse der "Mutterseite" zugeordnet, von der aus sie sich öffnen lassen.(7) Diese bleibt im Hintergrund immer sichtbar. Mit diesem Konzept stören wir bewusst die bisher übliche Ortszuweisung im Internet.
Der Raum des WWW ist nicht leicht fassbar, er irritiert. Wenn wir uns das Web als räumliche Form vorstellen, denken wir es uns als unregelmässige Struktur von Knotenpunkten und Verbindungslinien, die sich wie eine Gitterschale um die Erde legen. Es gibt andere, bessere Bilder dafür, aber auch sie sind Behelfsbilder. Nach über 120 Jahren Erfahrung mit elektrischen und elektronischen Medien umschreiben unsere Bilder den technisch durch Wellen und Kabelverbindungen determinierten Medienraum weiterhin in Form von Metaphern, in der Bild-Vorstellung ebenso wie in der Sprache. Wir sprechen von Data Highway und von Navigation (sind also mit dem Auto oder mit dem Schiff unterwegs), wir sprechen von Website oder Homepage (von Ort und Gegend, von Heimat), um die räumliche Ungewissheit sprachlich zu verschleiern.
Dazu zwei medienhistorische bzw. philosophische Hinweise. Neue Medien tauchen historisch in gesellschaftlichen Milieus auf, welche von älteren Medien geprägt sind. Der französische Medientheoretiker Régis Debray beschreibt diese historische Überlagerung so: "Es ist eine Schichtung von Erinnerungen und narrativen Assoziationen, ein Palimpsest aus Gesten und Legenden, die immer wieder reaktivierbar sind, das aufgeblätterte Repertoire der Träger und Symbole aller vorangegangenen Epochen."(8) Aus der Erfahrung älterer physischer Transportmittel wie Schiff und Auto werden so Metaphern für die neue virtuelle Bewegung im Internet abgeleitet. Schon in der Reflektion älterer Fahrzeugtechniken hatten sich Theorien entwickelt, die sich in das Denken der neuen Medien übertragen lassen. So sprach 1839 ein Artikel in der Londoner Zeitschrift Quarterly Review im Zusammenhang mit der neuen Eisenbahntechnologie von der "allmählichen und schliesslich vollständigen Vernichtung des Raumes und der Entfernung, von denen man bis jetzt annahm, dass sie die verschiedenen Nationen der Welt auf ewig von einander trennten."(9) Hier ist die Rede vom vernichteten Raum. Tatsächlich versteht man in der Verkehrsökonomie die beschleunigte Überwindung von Distanzen als eine Verkleinerung des Raumes. Doch was ist Raum, wie wird in der Philosophie das Eigentümliche des Raumes beschrieben? Martin Heidegger schreibt in Die Kunst und der Raum zur Schwierigkeit, den Raum als Phänomen begrifflich zu fassen: "Es gibt einen Notsteg, einen schmalen freilich und schwankenden. Wir versuchen auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen. Räumen ist, in sein Eigenes gedacht, Freigabe von Orten, an denen die Schicksale des wohnenden Menschen sich ins Heile einer Heimat oder ins Unheile der Heimatlosigkeit oder gar in die Gleichgültigkeit gegenüber beiden kehren. (-) Räumen erbringt die jeweils ein Wohnen bereitende Ortschaft."(10)
Nach Heidegger können wir Raum also nur durch Orte feststellen. Diese Erfahrung machen wir sprachlich auch im Umgang mit dem www. Wenn wir den sog. Cyberspace schon nicht erfassen können, versuchen wir ihm zumindest Orte zuzuweisen. Der erste wesentliche Ort im Netz ist für uns das Hier an und in unserem Bildschirm, dem 'Human-Computer-Interface'. Hier treffen unsere Augen und Ohren auf die Dinge im Web. Weiter wissen wir, dass es auch ein Dort gibt, die weltweit verstreuten Server, in denen die von uns abgerufenen Daten gespeichert sind. Diese unsichbaren Orte sind für den User aber nur über die Netz-Adressen relevant. Für erfahrene Internet-Anwender wird es zur Gewohnheit, in der Adressleiste des Browsers die Urls(11) zu überprüfen. Denn die Web-Adressen verleihen den angewählten Seiten die Identität und scheinbare Verortbarkeit (Site, Home) einer Autorenschaft. Sie ist, vereinfacht gesagt, das Äquivalent einer persönlichen Wohnadresse. An der Adresse lässt sich auch die Frage nach dem "Kunstoriginal" im Netz festmachen. Dazu sagt der Berliner Netzkünstler Holger Friese: "Das eigentliche Kunstwerk besteht nicht aus irgendeiner physischen Dateistruktur auf einem Datenträger wie einer Festplatte, sondern das Original ist eigentlich der Domainname, weil es jeden Domainnamen im Internet nur einmal geben kann. Dadurch wird die Arbeit zum Original."(12)
In 'Shrink to fit' versuchen wir auch diesen Rest an örtlicher Zuordnung in Frage zu stellen. Das Projekt ist nicht einer Netzadresse zuweisbar, sondern vielen. Shrink ist auf den ersten Blick ein Parasit, ein Kuckuck, auf den zweiten, richtigen, aber eher ein Symbiont. Denn Kuckucks sind Nest-Hacker, während Shrink sich um eine freundliche Übernahme bemüht, mit Vorteil für beide Seiten.


6.) 'Window Interface'
Auf allen Sites öffnet die Bedienung des Shrink-Interface ein kleines Fenster mit den Projektinhalten. Die mit 500x700 Pixel kleinbemessene Dimension dieses Shrink-Fensters erzeugt den visuellen Effekt von zwei versetzt übereinandergelegten Bildschichten: das kleinere Shrink-Fenster öffnet sich vor dem Hintergrund einer grösseren Ausgangsseite, von der es aktuell (20.2.02) nach unserem Wissen international 28 verschiedene Versionen auf ebensovielen Servern gibt.(13) Während die Inhalte des kleinen Shrink-Fensters überall gleich aussehen, haben wir auf das Design der Hintergrundfenster nur insofern Einfluss, als sie neben eigenen Elementen auch unser Shrink-Interface zeigen, in unterschiedlicher Farbe und Grösse. (Bildbeispiele)
So nimmt die halb fremd-, halb projektbestimmte 'Layer-Ästhetik' von Shrink konzeptuell bezug auf die Eigenart des Computerbildschirms als "window interface". Dieser Begriff beschreibt die Tatsache, dass bei der Internetnutzung wie beim üblichen Computergebrauch innerhalb des Bildschirmrahmens meist mehrere 'Fenster' bzw. Menus oder Bedienungspaletten geöffnet sind. Für die Netzkunst spielt dieser Umstand eine wesentliche rezeptionsästhetische Rolle.
Zum Verständnis hilft vielleicht der Hinweis auf den englischen Begriff des 'screen' und den französischen des 'écran'. Ihre Bedeutung ist offener als die des deutschen Begriffs 'Bildschirm', da sie auch als Bezeichnung älterer Bildformen dienen.(15) Der New Yorker Medientheoretiker Lev Manovich benutzt den Begriff des 'Screens' nicht nur für den Computer-Bildschirm, sondern auch für die Bildform des Cinquecento-Tafelbildes (Classical Screen) und für die Bildform der Kinoleinwand bzw. des Videomonitors (Dynamic Screen). Diese älteren Bildformen zeichnen sich durch folgende Rezeptionsabsichten aus: "A screen's image strives for complete illusion and visual plenitude, while the viewer is asked to suspend disbelief and to identify with the image. Although the screen in reality is only a window of limited dimensions positioned inside the physical space of the viewer, the viewer is expected to concentrate completely on what she sees in this window, focusing her attention on the representation and disregarding the physical space outside. This viewing regime is made possible by the fact that the singular image, whether a painting, movie screen, or television screen, completely fills the screen."(16)
Im 'Computer Screen' wird dieser Illusionismus des kohärenten Bildes gebrochen, auch wenn man zuerst Ähnlichkeiten mit den älteren Bildmedien feststellen kann. Auch vor dem Computer blenden wir die Umgebung um den Bildschirm aus unserer Wahrnehmung aus, und die physische Distanz des Betrachters zum 'Bild' ist mit ca. 60 Zentimetern wesentlich geringer, als bei allen älteren Bildformen. Insofern lassen sich die physischen Rezeptionsbedingungen am Computer eher mit der Buchlektüre als mit dem Betrachten eines Videofilmes vergleichen. Was beim Buch das Blättern ist, findet bei der Netzkunst eine Entsprechung im Klicken auf Hyperlinks. Doch schon hier endet die Parallele. Denn auch das 'Fliessband' von Textzeilen in Buchseiten erzeugt laut Marshall McLuhan für den konzentrierten Leser eine filmische Sogwirkung.(17) Dies entspricht eher selten der Rezeptionserfahrung von Netzkunst, und es widerspricht der Eigenart des Computer-Interface als 'Window Screen'. Nicht zufällig wurde für die Bildschirm-Oberfläche des Computers die Metapher des 'Desk Top', des Schreibtischs geprägt. Er bildet den Hintergrund für verschiedene gleichzeitig angezeigte Elemente wie Icons, Fenster und Bedienungselemente. Selbst bei weit geöffnetem Fenster des Webbrowsers wird man neben den Inhalten der Seite noch 'bildfremde' Bedienungselemente wie Menus, Scroll-Balken und den Mauszeiger sehen. Deshalb machen sich die wenigsten User die Mühe, das Browserfenster voll zu öffnen. Bei der Bildwahrnehmung von Malerei, Film und Fernsehen würde man diesen Eindruck einer permanenten, von den Autoren nicht beabsichtigten Bildmontage als störend empfinden.(18) Lev Manovich vergleicht die Bildanlage am Computermonitor deshalb mit der Tradition der Werbe- und Informationsgrafik: "A window interface has more to do with modern graphic design, which treats a page as a collection of different but equally important blocks of data such as text, images, and graphic elements, than with the cinematic sreen."(19)
Diesen Montageeffekt verstärkt das Kunst-Projekt "shrink to fit" durch die in der Programmierung festgeschiebene, beschränkte Fenstergrösse und die dahinter sichtbaren fremden 'Mutterseiten'.


7.) Die Link-Frage
Zumindest im Kunstbereich ist das Konzept eines site-unabhängigen Flash-Interface nach unserem Wissen bisher noch nie angewandt worden. Es ist eine neue Form der Hypertext-Anwendung, entwickelt im Rahmen eines Kunstprojekts.(20) Diese Interface-Idee bedingt eine engagierte Kommunikation und Überzeugungsarbeit nach aussen, mit der wir im Verlauf des Forschungsprojekts Erfahrungen sammeln. Was ist damit gemeint? Bereits die übliche Form einfacher Hyperlinks ist im Dickicht des WWW eine heiss begehrte Valorisierung und Hilfe bei der Veröffentlichung eines Projekts. Die Linklisten von bekannten Kulturinstitutionen zum Beispiel müssen sehr selektiv gepflegt werden, damit sie ihre Absicht verwirklichen, dem Publikum eine Orientierungshilfe im Netz zu bieten und den User durch diese Dienstleistung an die eigene Site zu binden.(21) Für unabhängige Kunstproduktionen ist es doppelt schwierig, diesen Selektionsfilter zu durchdringen, da dieser die Tendenz hat, 'artverwandte' Sites mit der eigenen zu verknüpfen.(22) Aus der Erfahrung der unabhängigen Kunstplattform Xcult.org zeigt es sich zudem, dass man wertvolle Links zur eigenen Site kaum erzwingen kann. Es braucht im Kulturbereich Monate und Jahre, um eine valable Liste von Fremdlinks zu erreichen.
Als Projekt, dessen zehnmonatige Realisierungsphase ein 'Frischhalte-Datum' kennt, muss Shrink der Linkfrage einen hohen Stellenwert beimessen. Für diese Projekt gilt, was Michael H. Goldhaber für Netzkunst generell schreibt: "Wenn jede Kunst Strategien zur Gewinnung von Aufmerksamkeit benötigt, um den Zuschauer näher an das Werk zu holen, müssen Webkünstler, wenn sie erfolgreich sein wollen, permanent überlegen, wie sie sich mit dem verlinken, was bereits Aufmerksamkeit gefunden hat, wie sie neues Interesse und Aufgeregtheit wecken können, die den Neugierigen in das spezifische Aufmerksamkeitsnetz ziehen, das man aufgebaut hat."(23)
Nun bedingt die Interface-Idee von 'shrink to fit' bei den Verantwortlichen kultureller Websites ein Interesse, das über die blosse Linksetzung hinausgeht. Die Übernahme des Interface' ist für sie bzw. die Webmaster der Site mit Arbeit und einem gewissen technischen Knowhow verbunden. Zudem hat sich bereits eine graphische Tradition der Listen-Form (24) für Link-Seiten herausgebildet, die unser Interface visuell zwar imitiert, aber nicht einhält.(25) Weiter erschwert nach unserer bisherigen Erfahrung die übliche Funktionstrennung von redaktioneller und technischer Verantwortung bei den Sites und die Unmöglichkeit, das 'Shrink'- Interface mittels eines Editor-Programms einzufügen, unsere Absicht zusätzlich.(26) Auch benötigt unser Projekt diese Links möglichst schnell, d.h. innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten, nicht 'irgendwann' später, nach Abschluss des Projekts.
Mit dem Erfolg dieser Strategie kann man wohl nie zufrieden sein. Aber wir haben doch einiges erreicht: Bisher haben 28 Kultur-Sites aus Ch, At, De, It, Ca, und den USA das Shrink-Interface eingefügt. In der Schweiz wurde das Shrink-Interface zum Beispiel eingesetzt auf der Eingangsseite der Kunstmuseen in Bern und Thun, auf der Site des Museums für Kommunikation Bern, der Kunsthalle Basel (als Erstlink) , des Centre Image Genf, des Plugin Basel, einem Link des kunsthistorischen Instituts der Uni Bern, des medienwissenschaftlichen Instituts der Uni Basel, des Bundesamts für Kultur Bern usw.(27)


8.) Programmierte Kunst
Programmierte Bild- und Anwendungsabläufe gehören zur medienspezifischen Eigenart von künstlerischer Netzarbeit. Tatsächlich arbeiten alle bisher realisierten Beiträgen zu Shrink mit einer spezialisierten Programmierung (java script, java, active script / Flash, cgi, etc).(28) Oft verfügen die KünstlerInnen selbst über das entsprechende Know-how, in manchen Fällen kommt es zur Zusammenarbeit mit weiteren Künstlern, welche über die Programmierarbeit zu Mitautoren des Teilprojekts werden. Nachfolgend ein ausführlicher Exkurs zur Grenzfigur des 'Programmierer-Künstlers', zu einer juristischen Einschätzung von Programmierarbeit und zu entspechenden Statements am Symposium der Ars Electronica 2001.



Fortsetzung folgt
Dieser Text zu den kuratorischen Bedingungen künstlerischer Netzarbeit wird im Sommer 2002 erweitert durch eine medienbezogene Analyse der Monatsbeiträge von 'shrink to fit' und durch einen abschliessenden Erfahrungsbericht. Parallel dazu werden die Monats-Beiträge von der Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung Bern aus einer konservatorischen Perspektive untersucht. Eine Stellungsnahme zu den Erfahrungen mit der lokalen Projektpräsentation im Museum für Kommunikation Bern ergänzt die Analyse.



(Stand: 1.März 2002)
______________________________

Dieser Text ist Bestandteil des Forschungsprojekts "Netzkunst - online und im Museum"
KTI-Projekt Nr.5691.1 FHS
Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel / FHBB
Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung Bern / BFH
Partner: Museum für Kommunikation Bern und Kunstmuseum Bern / Gegenwart
Projektleitung: Reinhard Storz, Hans Rudolf Reust




ANMERKUNGEN
1) TeilnehmerInnen am Shrink-Projekt sind bis April 2002 Hervé Graumann, Genf (Text: Hans Christian Dany, Berlin), Thomas Feuerstein, Wien (Text: Birgit Kempker, Basel), Vladimir Muzhesky, New York City (Text: Barbara Basting, Zürich), John Klima, New York City (Text: Blackhawk, New York City), Claudia und Julia Müller, Basel (Text: Yvonne Volkart, Zürich), Philippe Schwinger und Frederic Moser, Stuttgart / Genf (Text: Hans Rudolf Reust, Bern), Holger Friese, Berlin (Text: Felix Stalder, Toronto), Shu Lea Cheang, London (Text: nn).
2) Circa fünf weitere Minuten dauert die Lektüre des Trailer-Texts, welcher helfen kann, die Bedeutung des künstlerischen Werks zu erschliessen.
3) Nach der von ARD und ZDF veranlassten Umfrage "Massenkommunikation 2000" benutzt die deutschen Bevölkerung täglich während 8,5 Stunden ein Medium. Spitzenreiter ist das Radio mit 206 Minuten, dann folgen Tv mit 185 Minuten, Zeitungslektüre mit 30 Minuten und Internet mit durchschnittlich 13 Minuten. Das Internet sei (im Erhebungsjahr 2000) noch auf eine jüngere Bevölkerungsgruppe beschränkt. In den letzten 20 Jahren, seit 1980, habe der Medienkonsum um gut 60% zugenommen. (NZZ.30.3.2001)
4) Georg Franck, Jenseits von Geld und Information. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit. in: Kunstforum international Bd.148 Dezember 1999 - Januar 2000. Ruppichteroth 1999, S.91
5) Georg Franck, Jenseits von Geld und Information. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit. in: Kunstforum international Bd.148 Dezember 1999 - Januar 2000. Ruppichteroth 1999, S.94
6) Programmierung und Design des Flash-Interface stammen von den Medienkünstlern Monica Studer und Christoph v d Berg, Basel.
7) Dieses Konzept der Ortlosigkeit scheint auf den ersten Blick der kommerziellen Banner-Werbung zu entsprechen: Auch die Banners tauchen in der gleichen Form auf verschiedenen "Wirtseiten" des WWW auf. Nur führt ihr Anklicken dann direkt auf die 'Homepage' des Anbieters. So sind Banners letztlich einfach bildbasierte Links. Bei 'shrink to fit' ist das nicht der Fall. Das Flash-Interface auf den Wirtseiten enthält selbst alle nötigen Projekt-Angaben. Der Medientheoretiker Peter von Brandenberg (New York City) schreibt dazu: "I think this would require the on-line gallery equivalent of a promo banner-swap, yes? Except this is more elaborate since it's actually a self-contained gateway (& I like the idea very much btw)".
8) Régis Debray: Für eine Mediologie. in: Claus Pias (et alt.):Kursbuch Medienkultur, Stuttgart: DVA 1999, S. 71
9) Der Artikel führt weiter aus: "Nehmen wir beispielsweise an, dass plötzlich in ganz England Eisenbahnen angelegt werden; dies würde selbst bei der gegenwärtig noch bescheidenen Geschwindigkeit bedeuten, dass sich die gesamte Bevölkerung in Bewegung setzt und, metaphorisch gesprochen, ihre Plätze um zwei Drittel der Zeit näher an den Kamin der Hauptstadt rückt, welche sie jetzt noch davon trennt. Ebenso würden sie einander um zwei Drittel der Zeit näherkommen, die jetzt noch zwischen ihnen liegt. Bei weiterer Beschleunigung könnte der Vorgang wiederholt werden. Verkürzte man die Entfernungen auf diese Weise weiter, so würde die Fläche unseres Landes zur Grösse einer einzigen Metropole zusammenschrumpfen." zitiert in: Wolfgang Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit. München 1977, S.36
10) Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum. St.Gallen: Erker-Verlag 1969, S.8-9
11) URL: Uniform Resource Locator (die Webadresse)
12) Holger Friese im Gespräch mit Hans Dieter Huber. unter
http://www.arte-tv.com/hebdo/metropolis/dtext/19990123.htm
13) Sicher feststellen lässt sich die Interface-Übernahme durch fremde Sites wohl erst mit der Zeit, wenn die Suchmaschinen solche Seiten erfasst haben. Unsere Netzstatistik gibt nur Hinweise auf die Sites mit den häufigsten Zugriffen. Wenn, wie im Januar 2002, auffällig viele Shrink-Zugriffe im Bereich mehrerer Prozente von Domains in Israel und Griechenland erfolgen, lässt sich per Search Engines noch nicht herausfinden, ob das der Interface-Übernahme einer lokalen Site zu verdanken ist. Möglich ist auch der Hinweis auf Shrink in einer Zeitschrift oder einem E-Zine.
15) So hat man zum Beispiel schon die Bildauffassung des impressionistischen Malers Claude Monets mit dem Begriff des 'écran' umschrieben, als Schirm, in oder auf dem sich das Bild 'ereignet'. (Vgl.Gottfried Boehm: Paul Cézanne. Montagne Sainte-Victoire. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag 1988, S.47)
16) Lev Manovich: The Language of New Media. Cambridge, Mass.: MIT-Press 2001, S. 96
17) Marshall McLuhan schreibt in 'Die Gutenberg-Galaxis':"Die Typographie hat starke Ähnlichkeit mit dem Film, denn die Lektüre des Buches versetzt den Leser in die Rolle eines Filmprojektors." zitiert in: Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997, S.84
18) Schon die Senderlogos im Fernsehen stören uns bei anspruchsvollen Filmen. Manche Nachrichtensender und -Sendungen imitieren aber zunehmend den Window-Screen des Computers, indem sie unten im Bild zum Beispiel Textbänder mit Börsennachrichten laufen lassen.
19) Lev Manovich: The Language of New Media. Cambridge, Mass.: MIT-Press 2001, S. 97
20) Beat Suter und Michael Böhler schreiben: "Zwar findet die Entwicklung der Technologie und der Baumaterialien für den 'Cyberspace' nach wie vor hauptsächlich in den Laboratorien der Netzwerke und Software-Firmen sowie technischer Universitäten statt, doch bei der konkreten und vor allem der kreativen Anwendung der neuen Techniken und Materialien leisten die Autoren und Autorinnen von 'Cybertexten' (-) einen wichtigen Beitrag. Ihr besonderer Stellenvorteil ist es, dass sie gleichsam die neuen Allrounder sind, indem die meisten unetr ihnen nicht nur das theoretische Instrumentarium der neusten Kommunikations- und Medientheorie beherrschen, sondern handwerksmässig praxisorientiert sowohl computertechnologische und soziale als auch künstlerisch-ästhetische Kompetenz miteinander zu verknüpfen vermögen."
Beat Suter / Michael Böhler (Hg.): Hyperfiction. Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Nexus 1999, S.17
(21) Das mag paradox klingen, dienen Links dem User doch dazu, zu anderen Sites zu wechseln. Doch selektive Linklisten, hinter den man einen hohen Informationsstandart erkennt, dienen als Dienstleistung durchaus auch der Werbung für die eigene Site. Zudem vergrössern sie für die Site die Möglichkeit, nach dem Prinzip des 'do ut des' auf den anderen Urls selbst verlinkt zu werden.
22) Museen setzen also bevorzugt Links zu anderen Museen, mit denen sie verglichen werden möchten. Links, die in der Werthierarchie von Institutionen 'nach unten' weisen, werden vermieden.
23) Michael L.Goldhaber: Kunst und die Aufmerksamkeitsökonomie im wirklichen Raum und im Cyberspace. in: Kunstforum International, Bd.148, Dez.1999 - Januar 2000, Ruppichteroth, S.83
24) Als Beispiel nennen wir den Link zu "shrink to fit" von der Website der Kunsthalle Basel. Weil das Shrink-Interface nicht ins grafische Design passt, öffnet der Link einfach die Seite auf Xcult, auf der das Interface eingefügt ist.
25) Im Ruhezustand zeigt das Interface nur eine Linie, über der in periodischen Zeitabständen der Teitel shrink to fit aufscheint. Doch entsprechen den per Programmierung bestimmbaren Ausmasse des Interface (im geöffnetem Zustannd) erzwingt es in der Linkliste Abstände nach oben und unten im Bereich von 100 bis 200 Pixel.
26) Die meisten Sites werden heute mittels Editor-Programmen gestaltet und verwaltet. Neue Hypertext-Verfahren wie unser Interface-Konzept sind in diesen Applikationen nicht vorgesehen. Der Webmaster benötigt das Knowhow, die an sich einfach per Copy/Paste realisierbare Seitenveränderung direkt im html-Code vorzunehmen.
27) Die ausführliche und aktualisierte Link-Liste findet sich im Projekt Shrink to fit unter >Service >news/links.
28) Die Analyse der Beitröge im Zusammenhang mit dem Shrink-Konzept folgt an dieser Stelle im Sommer 2002.