Reinhard Storz

Internet und Kultur
Wie bei allen neuen Kommunikationsmedien haben sich auch beim Internet früh Künstler für die medienspezifischen Möglichkeiten interessiert. Die Eigenarten des Internets bestehen in der Arbeit mit Bild, Text und Ton, in der nichtlinearen Form der Seitenverknüpfung (Hypertext), und in der ortsunabhängigen Kommunikation vieler Teilnehmer. Alle drei Faktoren sind für die kulturelle Nutzung im Sinn eines aktuellen Kunstbegriffs von grossem Interesse. Nicht zufällig hatten frühe Kulturprojekte eher einen politischen Charakter, als einen primär ästhetischen. Denn die Möglichkeit, über den Aufbau einer virtuellen Gemeinschaft auf dem Internet und über die kritische Kommunikation ihrer Mitglieder ein soziales Kunstwerk etwa im Sinne von Beuys aufzubauen, war für die jungen Künstler interessanter, als das blosse Angebot von bildhaft reproduzierten Kunstwerken auf dem Netz.
Diese gesellschaftspolitischen Visionen der frühen Netzaktivisten haben heute vielleicht eine ähnliche Ernüchterung erfahren, wie nach der Einführung des Radios Walter Benjamin und Bert Brecht, welche den Rundfunk zu einem demokratischen Austauschmedium umfunktionieren wollten. Auch heute muss eine wirkliche Interaktion der Kommunikationsteilnehmer im Internet zuerst ausgebildet werden.
So bleibt die Multimedialität, Mehrdimensionalität und Kommunikationsbreite des Internets für die künstlerische Arbeit eine Herausforderung. Kultur auf dem Internet meint in diesem Sinn kaum die Dokumentationsangebote von immer mehr Museen und Galerien. Natürlich ist das Netz ein ideales Dokumentations- und Informationsinstrument, und diese Katalogarbeit hat durchaus ihre Berechtigung. Aber eine medienbewusste Kulturproduktion versucht, die besonderen Strukturen des Internets in die Arbeit mit einzubeziehen. In dem Sinn leisten Künstler und Künstlerinnen auf dem Internet mediale Forschungsarbeit. Auch die Theoriebildung, sei sie kunst- oder medienbezogen, kann durch diese Kulturarbeit vorangetrieben werden. So gewinnt etwa der Werk- und Autorenbegriff, im Kunstdiskurs immer wieder kritisiert, durch die neue Medienarbeit weiter an Fragwürdigkeit. Etwa wenn manche Künstler auf dem Internet zunehmend mit Programmierungen arbeiten, welche eine erweiterte Interaktivität zulassen. Doch die Kunst muss nicht in komplexen Konstruktionen bestehen, schon einfachste Bild- Ton- und Textideen können das von ihr erwünschte sinnliche und intellektuelle Staunen auslösen.
Dass medienbezogene Kunstseiten auf dem Internet nicht nur Kulturinsider zum Publikum haben, zeigen ihre Zugriffsstatistiken. Da zeigt sich aber auch ein Problem des kulturellen Kommunikationsanspruchs: Oft bleiben die Betrachter stumm, die Werkautoren erfahren wenig Reaktion auf ihre Arbeit.

Feuilleton der Basler Zeitung 15.10.98