Kurzer Einführungsvortrag zum Projekt Kunst und Alltag am Studiengang Freie Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Basel.
Beteiligte DozentInnen: Jürg Stäuble, Muda Mathis, Elke aus dem Moore, Vera Bourgeois, Theresa Hubbard und Alexander Birchler u.a.



Kunst und Alltag

Ich möchte ein paar Sachen zum Titel "Kunst und Alltag" sagen.

Was meint im Kunstzusammenhang der Begriff des Alltags?
Wir können ihm, denke ich, verschiedene Bedeutungen geben:

1.) Zuerst mal meinen wir, wenn wir Alltag sagen, das Wiederkehrende und Unspektakuläre an unserem täglichen Leben. Gewissermassen den"Werktag", und nicht den "Sonntag" (Das wäre dann die Kunst). Ich weiss nicht, ob es den "Alltag an sich" gibt, es gibt vor allem den individuellen Alltag, unseren eigenen, der dem von anderen in manchem ähnlich ist, sich in vielem aber auch unterscheidet. Und es gibt, aus etwas grösserer Distanz betrachtet, den Alltag von gesellschaftlichen Gruppen, ihre ökonomischen und sozialen Alltagsbedingungen.

2.) Alltag kann, im Zusammenhang mit Kunst gedacht, aber auch bedeuten:
Die Populärästhetik. Also: Was wir im täglichen Leben an Bildern, Design, Musik und Sprache antreffen.
Weil sich die Kunst traditionell von der Alltagsästhetik unterschieden hat, steckt in dieser Titeldefinition die Frage, weshalb welche ästhetischen Äusserungen denn zur Kunst zählen und andere zur Alltags-Kultur. Diesem Thema können wir als KunstspezialistInnen nicht ausweichen - es ist nicht erst seit den 50er Jahren eine der auf- und anregendsten Fragestellungen unserer Kultur.

3.) Alltag kann (immer im Zusammenhang mit dem Begriff Kunst) generell auch den Bereich der Nicht-Kunst bedeuten. Das hiesse dann: Das Leben, die Wirklichkeit - schlicht: der Lebensbereich, welcher jenseits der Kunst wirksam ist, also alles andere. Der Alltag beginnt dann vom Sockel oder Museum an auswärts. Diese Titeldefinition konstruiert die grösste Distanz.


Wenn nach Punkt 3 der Alltag alles andere als die Kunst ist, müssen wir jetzt mal über die anderen beiden Bestandteile des Titels nachdenken: über "und" einerseits, und "Kunst" andererseits.

Wie lesen wir das Wort "und" zwischen Kunst und Alltag? Geht es da um eine Paarbeziehung wie bei Hänsel und Gretel, sind sie also sich neckende Geschwister (das wäre der Fall bei Punkt 2: Kunst und Alltagsästhetik), oder bekämpfen sie sich, wie Hänsel und die Hexe? Dann wäre wohl Kunst die Hexe und Hänsel der Alltag. Die Hexe versuchte ja, den Hänsel zu bewirtschaften, wie wir es in unserem Projekt mit dem Alltag machen wollen. Geben wir also acht, wenn wir dem Alltag auf die Finger schauen.

Wie können wir überhaupt, von der Kunst aus, uns mit dem Alltag auseinandersetzen? Ist die Kunst ein Instrument, das zu Analyse taugt?

Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat gesagt: Der Unterschied zwischen Kunst-Werk und Werk-Zeug sei der, dass das Werkzeug bei seinem Gebrauch aus unserer visuellen Aufmerksamkeit verschwindet - wir merken nur dahin, wo wir mittels des Werkzeugs etwas bewirken wollen. Zum Beispiel Mayonaise Mixen oder mit einem Bleistift einen Satz schreiben. Der Mixer und der Bleistift sind mir dabei eigentlich egal, solange ich sie benutzen kann: Wichtig ist mir die steife Mayonnaise und der geschriebene Satz.
Das Kunstwerk dagegen muss ich mir anschauen, um seine Wirkung und Bedeutung zu erfahren.
Kunst schaue ich mir also an und erfahre etwas dabei. Wenn es einen Konsens im theoretischen Umgang mit Kunstobjekten gibt, dann ist es der, dass diese Objekte etwas bedeuten und von etwas anderem als von sich selbst handeln. Arthur C. Danto sprich im Zusammenhang mit Warhols Brillo Boxes von der "Aboutness" der Kunst. Die Topfreiniger-Kartons im Supermarkt sind über nichts, Warhols Brillo Boxes hingegen sind über die Welt, in der wir leben, über uns selbst und unsere Wahrnehmung dieser Welt.
Wir wissen jetzt also, dass Kunst ohne die ausser ihr bestehende, materielle und geistige Lebensrealität gar nicht zu einem Sinn kommt.

Wie steht es im Titelwort "und" aber mit der reziproken Beziehung des Alltags zur Kunst? Ich stelle damit nicht die eher populäre Frage, ob die Menschen im Alltag sich um unsere Kunst scheren. Das tun sie vermutlich nicht, jedenfalls nicht direkt..

Es geht um die Frage, ob es den Alltag, die Welt für uns überhaupt gibt, ohne die Kunst. Und die Behauptung ist die, dass wir sie erst erschaffen durch die Art, wie wir uns ihr zuwenden, sie anschauen, definieren und beschreiben. Natürlich gibt es neben der Kunst verschiedene andere Erkenntnismethoden, aber Kunst ist ein besonders vielseitiges Mittel der Welterzeugung. (Das sagt der amerikanische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Nelson Goodman.)

Der Titel "Kunst und Alltag" steckt voller Provokationen.
Ästhetizisten wie der Künstler Ad Reinhardt sagten: "Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere." Oder: "Wenn man Kunstformen und Lebensformen nicht trennt, ist Dilettantismus das Resultat." (Gerhard Merz)
Die Gegenposition lautet, dass Kunst nur dann relevant und interessant ist, wenn sie explizit vom gesellschaftlichen Leben spricht und Stellung bezieht. Der Künstler ist dann keine aussenstehende Wahrheitsinstanz, sondern aufklärerischer Agent. Die amerikanische Künstlerin Martha Rosler sagt: "Alltag ist nicht nur das, was ist, sondern Alltag hat eine Geschichte." (Zitat ende)
Was eine Geschichte hat, ist in seinen Bedingungen und Interessenslagen analysierbar. Wenn sich ein Künstler mit den abendlichen Tv-Nachrichten befasst, sollte er nicht tun, als wäre es ein Sonnenuntergang. Nicht ein Spektakel ist das Ziel, sondern Reflexion und imaginative Einmischung.