Reinhard Storz


Die Schweizer Netz-Plattform Xcult.org

Xcult ist eine unabhängige  und kuratierte Kunst-Plattform im World Wide Web,  mit Redaktionssitz in Basel. Ziel des Projekts ist die Förderung von netzbasierter Kunst und die Online-Publikation von Texten zur Kunst und Medientheorie. Xcult wird privat und mit geringem materiellem Aufwand betrieben. Der Raumanspruch beschränkt sich auf ein Laptop und den Server, die Kuratorenarbeit ist unbezahlt, dem Publikum werden keine langfristigen Versprechen gemacht. Für die Dauer der ersten zehn Jahre seiner Existenz lässt sich Xcult als Schweizer Community-Projekt beschreiben, heute ist Xcult eine Ausgangsplattform für die Entwicklung grösserer Tochterprojekte.

Xcult – das Mutterprojekt

Im Jahr 1995 gestartet  unter dem Namen thing.ch als Schweizer Knotenpunkt des internationalen Kunstnetzwerks thing.net und zwei Jahre später weitergeführt unter dem Namen xcult.org, bot die Plattform ausgewählten KünstlerInnen und KunstautorInnen die Möglichkeit, ihre Online-Werke bzw. Texte unter der Adresse von Xcult zu veröffentlichen. Viele Künstler benötigten anfangs unseren Support, weil sie weder über Erfahrung in der Arbeit am Computer noch in der Web-Publikation verfügten. In dieser ersten Phase bestand die Kernidee von Xcult in folgendem Angebot: Ausgewählte KünstlerInnen realisieren ihre neuen Online-Werke auf dem Server und unter der Adresse von Xcult. Sie gewinnen damit das Publikum der Plattform und eine kuratierte Projektumgebung. Die Qualität der Beiträge und der kontinuierliche Ausbau stärken ihrerseits die Nachfrage nach der Xcult-Adresse und halten die Plattform lebendig. Da im Austausch zwischen AutorInnen, Publikum und Plattform kein Geld fliesst, besteht das Ziel und die Währung in der Aufmerksamkeit, welche die AutorInnen für ihr Werk und Xcult für seine Vermittlungsarbeit gewinnen. Die Offerte an das Publikum ist eine Adresse, unter der man sich über die Online-Arbeit von Schweizer und internationalen KünstlerInnen informieren kann. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben mehr als 150 KünstlerInnen und AutorInnen zum Angebot von Xcult beigetragen, zwei Drittel davon leben in der Schweiz.

Die Tochterprojekte von Xcult

Zum Xcult-Konzept gehören regelmässig auch Tochterprojekte, in denen eingeladene KünstlerInnen und AutorInnen zu einem gemeinsamen Thema arbeiten. Seit 1995 sind so sechs grössere Projekte entstanden. Für diese thematischen Gemeinschaftsprojekte suchen wir finanzielle Unterstützung  und gehen Produktionspartnerschaften mit öffentlichen Institutionen ein. Das Renommee von Xcult wird eingesetzt, um den ProjektteilnehmerInnen einigermassen realistische Produktionsbeiträge bezahlen zu können. Dabei bilden sich auch für die Arbeit im globalen Netz lokale ökonomische Bedingungen ab. In unseren neueren Projekten verheisst das Honorar für KünstlerInnen aus Ländern mit niedrigen Löhnen ein Auskommen über mehrere Wochen, für Mitspieler aus Tokyo oder New York ist es ein knappes Monatsgehalt.                          

Die Publikationsform solcher Kunst- und Text-Projekte im Internet ist bisher noch wenig erprobt. Sie lässt sich mit einer virtuelle Kunstausstellung, einem Online-Fernsehkanal oder mit einer elektronischen Zeitschrift vergleichen. Aber solche Vergleiche mit älteren Kommunikationsmedien zeigen vor allem, dass die eigene Qualität des jungen Mediums Internet mit seinen Multimedia-Formaten erst noch weiter entdeckt und erprobt werden muss.
Die Themenstellung der Xcult-Tochterprojekte hat sich von Anfang an mit Fragen des Realitätsverständnisses und der Mediennutzung in der Informationsgesellschaft auseinandersetzt. Das Internet als neues Kommunikationsmedium für Bilder (Schnittselle Netzhaut, 1995/96),  die Kommerzialisierung des WWW (shopping mall, 1998), eine kollektive Hypertext-Erzählung zu Identitätsfragen (The Ram Show, 1999), Miniaturen der  Aufmerksamkeitsökonomie (shrink to fit, 2001/02) und unser Web-Fernsehen bastard channel (2004/05) – in diesem thematischen Spektrum bewegen sich unsere bisherigen Projekte. Die Vorbereitungsphase, also die Entwicklung des Konzepts, das Fundraising und die Kommunikation mit KünstlerInnen und AutorInnen dauert nach unserer Erfahrung ebenso lang wie die heisse Phase der Projektrealisierung.

Beam me up – das aktuelle Tochterprojekt

Unser neues Projekt Beam me up geht von der Annahme aus, dass sich das Raumverständnis in der Informationsgesellschaft zunehmend verändert. Im digitalen Zeitalter benutzen wir Begriffe wie Cyberspace, Globalisierung und world wide web, obwohl wir die alten Elektro- und Kommunikationsräume der Stromnetze, des Telefons und Rundfunks noch kaum verstanden haben. Mit audio-visuellen Verkehrsmitteln erobern wir einen neuen Kommunikationsraum, der sich sowohl als Bildraum wie als Handlungsraum, als Ort der Zeichen und der realen Präsenzen zeigt.
Für das Online-Projekt beam me up laden wir KünstlerInnen und AutorInnen aus unterschiedlichen Fachgebieten und aus verschiedenen Ländern dazu ein, sich in Kunstbeiträgen und Essays mit Raumkonzepten zu befassen. Es entstehen Interpretationen des Raumbegriffs, die sich ebenso auf Bilder wie auf Texte, auf künstlerische und philosophische Modelle wie auf die wissenschaftliche Praxis berufen. Am Beam me up - Projekt nehmen MitspielerInnen aus Nord- und Südamerika, aus Europa, aus Indien, China und Japan teil.



Abb.1 Der Beitrag pic-me.com des Zürcher Künstlers Marc Lee

Im Rahmen von Beam me up interessieren uns Phänomene wie Second Life, international agierende Call Centers, der Raumbegriff der Astronomie, der Nano-Technologie und der Theaterbühne, aber auch mythologisch-religiöse Räume und der Cyberspace des Internets. So entwickelte der Zürcher Medienkünstler Marc Lee für Beam me up die Suchmaschine pic-me.com, die im digitalen Jenseits des Internet nach Namen sucht und aus assoziierten Daten neue Personen-Profile entwirft. Es entstehen hybride Charaktere, die mal näher an der diesseitigen Realität sind und dann wieder reine Konstrukte zu sein scheinen, Kreuzungen wildfremder Identitäten. (Abb.1)  

Andere Kunst- und Wissenschaftsbeiträge befassen sich mit dem Kosmos, mit der Suche nach der dunklen Materie und mit der Schwierigkeit, aussagekräftige Bilder des Weltraums herzustellen. Eine Arbeit zeigt fiktive Bilder von der auf dem Mars im Eis eingebetteten Sonde Phoenix, tatsächlich handelt es sich um reale Webcam-Bilder von einem in einer Gefriertruhe eingefrorenen Toaster  im New Yorker Atelier des Künstlers. Für einen weiteren Beitrag wurden KünstlerInnen und BesucherInnen von drei Kontinenten zu einer Performance in Second Life eingeladen. Mit den Mitteln der digitalen und konzeptuellen Kunst werden Zeiträume, Klangräume, Bild- und Farbräume eröffnet, deren Erfahrung nicht direkt an den architektonischen und topografischen Raum gebunden ist. So führen die psychedelisch anmutenden Farbkanäle des Beitrags von Monica Studer und Christoph van den Berg eine virtuelle Reise durch transzendentale Räume vor, die sich auf wissenschaftliche Grundlagen beruft und starke psychisch-emotionale Suggestionen erzeugt.  (Abb.2)



Abb.2 T.R.I.P, ein Beitrag des Basler Künstlerpaars Monica Studer und Christoph van den Berg.




Text published in:
India Habitat Centre's Annual Arts Journal 2009 (edited by Alka Pande and Nils Roeller)
http://www.prohelvetia.in/fileadmin/pro_helvetia_india/docs/New_Media_Journal.pdf