Reinhard Storz

Die Kunst der Erratik
Zur künstlerischen Arbeit von Christoph Storz

In meiner kurzen Eröffnungsansprache würde ich ihnen gern ein paar Hinweise geben, wie man sich der Arbeit von Christoph Storz auf einer eher inhaltlichen Ebene annähern kann.
Leider gerate ich mit meinen Ausführungen in die Falle dieser Bilder. Ich spreche nämlich vor allem über die Wortebene der Zeichnungen - fast überall kommen Sätze und Worte vor.

Es gibt, das wissen wir spätestens seit Magritte, eine Inkongruenz von Wort- und Bildsprache. Weil wir als Alphabeten der Wortsprache im Allgmeinen mehr trauen, als der Bildsprache und uns zum Beispiel von Bildertiteln eine verbale Übersetzung der Bildaussage erhoffen, gehen wir leicht in die Irre. Diese Irre ist in Christoph Storzs Zeichnungen eine bewusst gestellte Falle, denn nach seiner Selbstdefinition hat die Erratik bei ihm Methode. Ziel und Wahrheit der Erratik ist der logische Trugschluss.

Es gibt, auf den ersten Blick, in Christoph Storzs Werk eine Atmosphäre des "Leiselauten". Wenn man Ausstellungsräume mit seiner Arbeit betritt, ist man zuerst immer erstaunt über die sensorische Zurückhaltung im Bereich der Formate (oft sind es A4-Blätter) und vor allem der Farbe. Sehr viel Weiss auf weissen Wänden.
Dieser Eindruck des Leisen vermittelt sich, wie gesagt auf den ersten Blick und aus einer grösseren Distanz. Als Betrachter schaltet man nach diesem ersten Blick ein paar Reizfilter aus, oder wir stellen die Wahrnehmungsbrille schärfer ein, um das metaphorisch zu umschreiben. Man tritt näher an die Zeichnungen heran und stösst nun in diesem Leisen auf das Laute. Laut ist vielleicht nicht das treffende Wort. Vielleicht müsste man besser sagen: wenn man zuerst wenig sieht, sich die schneeblinden Augen reibt vor soviel Weiss, erkennt man vor den Bilder plötzlich das Viele. Den Reichtum an Zeichen, Spuren und Ideen.

Die Bilder verheissen uns ein Spiel mit Bedeutungen, Metaphern, Wortaussagen. Wir betrachten die Zeichnungen mit dem Anspruch, dass sie uns ihre Bedeutungen freigeben, dass die Linien uns zeigen, was sie darstellen und wo sie sinnstiftend langgehen. Doch schnell wird der Blick zerstreut von den vielen Spuren. Die Kunst des Fährtenlesens im Storzschen Zeichenfeld müssen wir erst lernen.
Wir müssen erkennen, dass die Hand des Zeichners in der weissen Fläche Irrfährten auslegt, nur kleinste Differenzen zwischen decodierbaren und bedeutungslosen Zeichen setzt und Pigmentbalast und Energiefüllsel im Fährtenbild verstreut. Wir erkennen, dass die lesbaren Spuren, Worte, Zeichen uns nicht leichtfüssig auf die Sprünge helfen.

Vielleicht müssten wir Betrachter zum Begreifen ebensoviel Zeit aufwenden, wie der Zeichner zum Zeichnen.
In der mündlichen Kommunikation ist das selbstverständlich: Ich höre dem Sprechenden zu, solange er spricht. Bei Bildern sind wir anderes gewöhnt: die Bildabtastrate unserer Wahrnehmungsgewohnheit könnte der Werbung für einen neuen Scanner entstammen: pro A4-Blatt 30 Sekunden.

Es gibt in unserer Informationsgesellschaft die Tendenz, Wissensaustausch nach klar bezifferbaren Informationseinheiten und Datenbits einzuschätzen.
Der französische Philosoph Lyotard sagt: "Wenn sie wollen, dass ihre Sätze auf dem Markt der Sprache zirkulieren (dieser Markt ist vor allem der Medienmarkt), dann müssen sie dort wettbewerbsfähig sein. Die Sätze, von denen man nicht sagen kann "hier ist die mitgeteilte Information", werden nicht verbucht und damit auch nicht mitgeteilt.
Philosophische und künstlerische Sprache funktioniert anders. Die Sprache dient nicht einfach als Transportmedium für sogenannte Botschaften. Vielmehr formulieren sich Gedanken und Ideen in der Sprache selbst, die Sprache ist Gegenstand ihrer eigenen Reflexion.
Von uns Betrachtern und Bildlesern erfordert das eine suchende, insistierende und wohl auch misstrauende Anstrengung. Misstrauend insofern, als in der künstlerischen Sprache oft auch die sprachlichen Regeln, die Codierung, gegenüber der konventionellen Spracherwartung verschoben sind. Wir müssen an Kunst wie an fremdsprachliche Werke herangehen.

Diese Aussagen gelten, wie gesagt, für Kunst generell, aber es scheint mir sinnvoll, sie vor den Arbeiten hier in Erinnerung zu rufen. Denn Christoph Storzs Arbeit besteht zu einem wichtigen Teil in der Erschaffung von zeichen- und wortsprachlichen Sinnsystemen.

Ich habe am Anfang für die sinnliche Wahrnehmung das Wort leiselaut benutzt. Das Spiel mit dem Leisen und Lauten, dem Grossartigen und dem Kleinlichen ist auch wesentlicher Bestandteil vieler Bildinhalte. (Den Begriff Inhalt benutze ich behelfsmässig, es ist mir nicht sehr wohl dabei.)
In einem Werk spricht der Künstler zum Beispiel von der Theory of Everything. Einen grösseren Anspruch von Theoriebildung kann man sich nicht vorstellen. Abgekürzt heisst die Theory of Everything T-O-E (Toe, englisch=Zehe) und es folgt im Bild der Satz: The TOE must go on. Die Zehe muss weiter gehen, oder: die Theorie von Allem muss fortgesetzt werden. In kurzen Wendungen wird hier das Grossartige einer Alltheorie in das Nebensächliche einer Zehe übersetzt und im populärkulturellen Satz "The show must go on" an die Oberfläche gebracht.

Ein Bild weiter steht: Die Schuhe gehören der Strasse. Ich weiss nicht genau, wie sich in dieser Theorie die Zehe zum Schuh verhält. Wohl kaum wie der Gedanke zur Sprache. Die Theorie von Allem bringt erstaunliche Beziehungen zu Tage und bläht sich ununterbrochen auf, um alles und sich selbst im Blick zu behalten Sie entwirft dabei in alle Richtungen ein Muster der selbstähnlichen Form. (Das ist ein Begriff aus der Chaostheorie.)

In der Theorie von Allem steckt der Traum von der totalen Abstraktion, die Idee, die Dinge und Sprachen soweit ineinander übersetzen zu können, dass man sich schliesslich einem metaphysischen Urknall annähert, dem Moment, in dem alles noch eins war, das grosse Ganze.
Man kann sich die Theorie von Allem vorstellen als einen endlosen Text, ein unendliches Bild, aber ebensogut als die Rückführung auf einen Null-Punkt, auf die Summe aller Farben: Weiss. Auf den Moment, in dem die Theorie als schwarzes Loch sich selber verschluckt.
Wie unsere Astronomen sich nur knapp bis an den physischen Urknall herandenken und heranrechnen können, kann auch der Künstler das Grosse Ganze nicht erfassen, er laboriert am Beginn der Differenzen. Aus dem Weiss treten Spuren, Zeichen, Worte. Es scheiden sich Raum und Bewegung, Masse und Energie. Das Amorphe und die bedeutende Form. Und das Schlimme oder Entzückende ist: Der universelle Nullpunkt explodiert nicht in logische Bausteine, in konventionelle Sätze und archivkonforme Daten.
Da entstehen, und ich spreche jetzt metaphernlos wieder von den Zeichnungen, die monumentalen Details neben dem klein geschriebenen, im Grauwert leise gesprochenen Wort Universum. Es gibt die gezeichneten Worte und die geschriebenen Linien. Unsinn steht selbstbewusst neben Sinnigem.

Die zentralperspektivische Bildanlage wird durchkreuzt von bedeutungsperspektivischen Wertsetzungen: In der Wandzeichnung etwa ist die Ortsbezeichnung Baden grösser geschrieben, als das Wort Schweiz. Und weiter, immer kleiner geschrieben, die Worte Europa, Welt, Universum. Geschrieben wirkt das unsinnig, denn wir wissen doch, dass Baden kleiner ist als zum Beispiel die Welt. Bedenkt man es zeichnerisch in der Zentralperspektive, dann wirkt es irgendwie wieder richtig. Zuerst mal sind wir hier in Baden, das ist unser vordergründiger Bezugspunkt, und erst in zweiter und dritter Linie die Schweiz, Europa, die Welt und das Universum. Gehupft wie gesprungen, etwas stimmt nicht, der Scheinriese Herr Turtur aus Jim Knopf ist nicht weit: der ist am Horizont riesengross und wird mit dem Näherkommen immer kleiner, bis er auf unserer Höhe zu normalem Menschenmass geschrumpft ist.

Das Spiel mit falschen Proportionen und Hierarchien ist in der Arbeit von Christoph Storz ein bevorzugtes Motiv. Sachen sind im Verhältnis zu anderen zu klein oder zu gross, das Nebensächliche wird auffällig, das scheinbar Bedeutende führt ins Leere. Orange Abrissfetzen, wie wir sie von Plakatwänden auf der Strasse kennen, betonen etwa die Bostitch-Befestigung der grossen Zeichenblätter und in der Wandzeichnung findet man die Abdrücke schmutziger Finger, die man auf sauberweissen Galeriewänden sonst nur fürchtet. Diese Trash-Spuren sind Zitate aus der Alltagswelt, säuberlich gesetzte, scheinbare Regelverstösse, welche unseren Erwartungen einen leichten, belustigenden Nasenstüber versetzen.

Christoph Storz ist ein System- und Regelspezialist. Er schaut hin zu Nachbarsdisziplinen wie Naturwissenschaft, Philosophie und Oekonomie, aber auch zur Alltagskultur, bricht Stücke daraus und führt sie in seinen Zeichnungen und Schriften an der Nase herum. Logik steht, wie er selbst sagt, in seiner Arbeit neben Pseudo-Logik. Sie bringt Wahrheitsbehauptungen in Verruf. Unsinn und Paradoxes erzeugt Reibungswärme in unserem Hirn, bis die Rationalitätssicherungen durchbrennen und wir im besten Fall einen vorurteilslosen Blick kriegen.

Das semantische Kippmomente in Sätzen wie "Was sich gehört, das schickt sich nicht" oder Begriffen wie "Erratik" bricht die logische Verknüpfung durch die Mehrdeutigkeit und den Widerspruch der Worte. Ich drehe und wende sie im Kopf herum und empfinde eine leichte Irritation, eine Reizung von Hirn und Lachmuskeln. Hier wird die ernste Begrifflichkeit eines moralischen Lehrsatzes oder eines akademischen Fachgebietes angedeutet und mit einem angemessenen Kichern gleich wieder in die Wüste geschickt. Diese Sabotage folgt dem Gesetz der Komik.
In der Theorie des Lachens, etwa beim Philosophen Joachim Ritter, entsteht das Komische nicht abgegrenzt vom Ernsten, sondern gerade in der Ineinssetzung von Ernst und Spass, von Tollheit und Würde. Die verständig geregelte, grosse Welt wird affiziert vom Närrischen der Bagatelle. So wird ihre Grösse zur Grandezza, ihre Würde zur Gespreiztheit.

Natürlich richtet sich bei Christoph Storz die Sprachsubversion auch gegen die eigene Arbeit, gegen das Linienziehen des Zeichners. Ich ende mit einem kurzen Zitat aus seinem Buch:
"Hinein in die Enge der Kunst verklemmt sich der Strich zur Zeichnung. In der Reibung erklärt er sich als Ermüdung und Abnützungserscheinung von allem Möglichen, inbegriffen dem tradierten Kunstbegriff. Als Schürfling tritt der Strich aus der Oberfläche der Wand, als Bremsspur mit beschränkter Haftung bleibt er auf der Strecke des linearen Fortschritts."



Eröffnungsansprache, Galerie Trudelhaus Baden, 27.8.98