Hans Renggli

Die Berge des Selbst


Zum 100. Todestag des Malers Giovanni Segantini

Vor genau hundert Jahren, am 28. September 1899, stirbt Giovanni Segantini 41­p;jährig auf dem 2700 Meter hohen Schafberg oberhalb von Pontresina bei der Arbeit am Alpentriptychon. In der glasklaren Luft der Schweizer Berge hat er die revolutionäre Technik des Divisionismus entwickelt, mit der er in der Malerei ein noch nie gesehenes, halluzinierendes Landschaftslicht hervorzauberte. Dieses Licht macht die lebendige, zeitlose Kraft seiner Kunst aus, die heute, vor der Jahrtausendwende, wieder ankommt und trägt. Doch dem war nicht immer so.

Der neben Hodler überragende Maler der Schweizer Bergwelt feierte schon zu Lebzeiten internationale Erfolge. In Europas Metropolen Wien, Paris, Brüssel erntete er als ein Hauptvertreter des europäischen Symbolismus des fin de siècle höchste Bewunderung. Die Anerkennung im Land, dessen Landschaft ihm zum Ruhm gereichte, brauchte etwas länger. Nach Segantinis Tod lösten Würdigungen, Nachrufe und Publikationen europaweit ein Echo der Begeisterung aus und verliehen ihm ungeheure Popularität. Das Bild "Ave Maria auf der Überfahrt" war durch Reproduktionsgrafiken bald jedem Schulkind bekannt. Italien, Österreich und die Schweiz reklamierten ihn als Nationalkünstler für sich. Doch der staatenlose Segantini stand ebenso über den Nationalismen wie er mit seinem Frei-Glauben zeitlebens zur Kirche Abstand hielt. Ein Angebot der Schweizer Staatsbürgerschaft kurz vor seinem Tod lehnte er ab.

Er war ein Neuerer der Malerei, aber nicht nur. Segantinis Themen und seine Persönlichkeit eigneten sich bestens zur Aufbereitung für ein Massenpublikum. Die Szenen vom Alltag unverdorbener Alpenbewohner, seine Darstellungen frommer Gottergebenheit, sein Ruf als treuer Familienvater und sein legendärer Arbeitseifer prädestinierten ihn zum Maler des Volks und konservativer Kreise. Das machte die kritischen Fortschrittsgeister skeptisch.

1904 propagierte der einflussreiche deutsche Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe mit seinem epochalen Werk "Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst" eine Geschmacksschulung, die sich am Leitbild einer impressionistisch-malerischen Skizzenkultur orientierte. Nach dem ersten Weltkrieg schlug Meier-Graefes Ideologie voll durch und beeinflusste wesentlich die Kaufentscheide der wichtigen europäischen Sammler. Man frönte nun einer nur sinnlichen, inhaltslosen, reinen "Peinture". Segantini konnte sich zwar, dank seinem Beitrag zum Divisionsimus, einen Rest Respekt bewahren, seine Themen und Inhalte aber wurden als heillos veraltet und sentimental verachtet. Er stürzte in der Wertschätzung der Fachwelt vom Podest der Grossen. Die Kunstgeschichte behandelte ihn fortan stiefmütterlich, die Nachfrage nach seinem Oeuvre schwand.

Das hatte auch sein Gutes. Als der Textilkaufmann, Bergsteiger, Naturfreund und Kunstsammler Otto Fischbach aus St. Gallen sich 1920 enthusiastisch und ausschließlich dem Werk Segantinis zuwandte, trug er schnell eine beträchtliche Zahl von Hauptwerken zusammen. Seit 1978 bildet die Auswahl als Stiftung der Fischbach-Kinder das Sammlungsjuwel des Kunstmuseums St.Gallen.

Erst mit der Wiederentdeckung und Neubewertung des Symbolismus in den sechziger Jahren rückte Segantini langsam wieder ins Gedächtnis der Kunstwelt. "Rehabilitiert" wurde er insbesondere von Seiten der Avantgarde durch Josef Beuys, der ihn als ein Pionier eines "neuen Spiritualismus" bezeichnete und ihm die Installation "voglio vedere le mie montagne" widmete - gemäss Überlieferung die letzten Worte des Sterbenden auf dem Schafberg. Beuys: "Wenn ich das Environment ,Volglio vedere.., mache, meine ich die archetypische Idee des Berges: die Berge des Selbst". In seinem glänzenden Beitrag zur neuen Segantini-Monographie schreibt Matthias Frehner: "Das Urteil von Beuys akzeptiert Segantini als Inhaltsmaler, ja es sieht darin sogar seine primäre Bedeutung". Gemäss Frehner nimmt Segantinis Werk in der Kunstgeschichtsschreibung nicht den Platz ein, der ihm im internationalen Vergleich gebührt.

Segantini hat namentlich die Landschaftsmalerei revolutioniert und ist darin Cézanne vergleichbar. So geladen und farbdicht hat niemand zuvor die Alpenwelt gemalt. Hundert Jahre später und nach überstandenem Bannruf erweist sich Segantinis Kunst als weit resistenter gegen Alterung, als beispielsweise Ludwig Kirchners expressionistische Interpretation der Davoser Bergwelt, die der sogenannt Klassischen Moderne zugezählt wird. Von Segantinis Kraft und ungebrochener Modernität konnte man sich letzthin vor dem renovierten Alpentriptychon überzeugen, das erstmals ausserhalb von St. Moritz in Zürich und St. Gallen zu sehen war.

Segantinis Käufer entstammten dem Lombardische Grossbürgertum. Er selbst kam aus mittellosen Verhältnissen. Geboren wurde er 1858 im damals österreichischen Städtchen Arco am Gardasee. Segantinis Vater Agosto war ein glückloser Händler, der wegen Konkurses seine Kaufmannslizenz verlor. Er wurstelte sich durchs Lebens, verarmte, wurde von der Wanderlust erfasst und entzog sich der Familie. Die Mutter, Margherita de Girardi, war die zweite Gattin des Agosto und von schwacher Gesundheit. Sie wurde von der Armenhilfe der Gemeinde Arco abhängig und starb 37-jährig. Segantini war gerade sieben Jahre alt. Segantinis ältester Sohn Gottardo beschreibt viel später in einer verklärenden Biografie das kindliche Liebesglück seines Vaters mit der Mutter. Die Beziehung sei so innig gewesen, dass sich "ein Dreiklang aus Empfindung, Lebensbejahung und Harmonie" für immer in die Seele des Knaben eingrub. Tatsächlich hat Segantini in seinen Bildern die Mutter-Kind-Beziehung immer wieder verherrlicht. Im Bild "Die Zwei Mütter", 1889 in Savognin gemalt, weilen im nächtlichen Stall beim warmen Schein der Laterne eine junge Mutter mit ihrem Kind neben einer Kuh mit ihrem Kalb geborgen-bergend beisammen. Es gibt in Segantinis Werk aber auch die Umkehrung der Idylle im Themenkreis der "Bösen Mütter". Psychologen spekulieren, Segantini habe heftige Gefühle des Hasses und der Aggression gegen die früh verstorbene Mutter verdrängt. Diese negativen Gefühl hätten dann in seinen abgründigsten und rätselhaftesten Bildern ihr unbewusstes Ventil gefunden.

Ein Jahr nach der Mutter stirbt auch der Vater. Der Vollwaise kommt zu seiner 18­p;jährigen Halbsschwester nach Mailand, die ihn vernachlässigt. Er hängt herum, wird als Landstreicher aufgegriffen und in eine Besserungsanstalt gesteckt. Nach seiner Entlassung findet er eine Anstellung als Malergehilfe und erhält Zeichenunterricht. Er besucht Abend- später Tageskurse an der Kunstakademie Brera. Schnell zeigt sich seine stupende malerische Fähigkeit. Er ist äusserst zielstrebig. Technische Schwiergkeiten überwindet er mit Leichtigkeit. Was er sich vornimmt, bringt er auch zum Ziel. 21-jährig, noch als Akademieschüler, gewinnt Segantini mit dem Bild "Der Chor von Sant, Antonio" den ersten Preis einer nationalen Ausstellung der Brera. Das ist der Durchbruch zum Erfolg. Der Kunsthändler Vittore Grubicy nimmt sich seiner als Mentor an, vermittelt Aufträge und verkauft seine Bilder. Zur selben Zeit lehrt Segantini Bice Bugatti kennen, die seine Gefährtin wird. Sie wird ihm drei Knaben und ein Mädchen gebären. Zeitlebens bleibt er ­p; ohne Trauschein ­p; ein treuer Gatte und sorgender Vater.

1881 lässt sich das Paar in der Landschaft Brianza zwischen dem Comer- und Gardasee nieder. Segantini malt ländliche Szenen in motivischer Anlehnung an den "Sozial-Realisten" Jean François Millet, der auch Van Gogh massgeblich inspiriert hat. Die Bilder verharren noch ganz im Erzählerischen ohne jede über das Dargestellte hinausgehende Symbolik. Den Wendepunkt in seiner Entwicklung bringt die erste Fassung von "Ave Maria a trasbordo": Eine Barke auf dem Lago di Pusiano im abendlichen Gegenlicht. Am fernen Ufer ein Kirchturm, von dem her das Glockenzeichen zum Abendgebet ruft. Der rudernde Bauer hält inne, die Bäuerin neigt sich andächtig zu ihrem Kind und die Schafe an Bord ergeben sich lammfromm der Stille. Segantini unterdrückt erstmals das Anekdotische zugunsten eines zeitlosen Inbildes: Mensch und Natur verschmelzen in vollkommenem Einklang, das Elternpaar erinnert an die Hl. Familie. Die Bildwerdung seiner kirchenfernen Naturfrömmigkeit kündigt sich an.

Ganz zu seiner Bildsprache findet er allerdings erst in Savognin, wo er sich 1886 mit seiner Familie nach einer Erkundungsreise niederlässt. Dort bleibt er acht Jahre, bevor er nach Maloja ins Engadin übersiedelt. In Savognin entdeckt und entwickelt er den Divisionismus. Durch Grubicy hat er von Seurats Rezept des Pointilsmus gehört. Ohne je ein Original des Erfinders des Neoimpressionismus gesehen zu haben, stellt er die neue Technik auf die Probe, indem er das Ave Maria-Bild noch einmal malt. Bei der Zerlegung des Bildes in farbige Lichtwerte geht er aber anders vor. Zwar verwendet er wie Seurat reine Farben, zieht diese aber nicht in Punkten, sondern in langen feinen Fäden über die Leinwand. Dabei entdeckt er die Möglichkeit, die Lichtkraft und Farbigkeit der Körper und Flächen enorm zu steigern.

Damit verfügte Segantini über das adäquate Mittel zur visionären Überhöhung seiner Berg-Szenerien, die - beispielhaft im Alpentriptychon - wie aus dem Innern der dichtgewobenen Malschicht leuchten und in erhabener Strahlkraft vibrieren. Segantini war ein Pleinairist. Er konnte wie die Impressionisten nur malen, was er vor sich sah. Doch nicht der Eindruck des flüchtigen Moments interessierte ihn, den die Impressionisten mit einer entsprechend nachlässigen Malweise festhielten. Weit beharrlicher stellte er sich dem Drängen der Zeit. Tagelang setzte er sich der Anschauung der Landschaft aus. Derart hob er das Zeitgefühl kontemplativ auf und komprimierte die wirbelnden Momente zur zeitlosen Essenz. Segantini zelebrierte unter extremsten Witterungsverhältnissen und grössten physischen Entbehrungen Malerei als eine Art Gottesdienst in und an der Natur. Um fünf Uhr morgens stand er in der Landschaft bei seinen Bildern, die er mit einem Bretterverschlag vor der Witterung schützte. Im Winter schreckten ihn auch 25° Kälte nicht. Doch Segantini war keineswegs nur ein naturfrommer Asket, er war auch ein Lebemann, der Luxus liebte und sich ein komfortables Leben mit Bediensteten gönnte. Die Lust am gossbürgerlichen Lebensstil brachte ihn trotz anhaltendem Erfolg in permanente Zahlungsnöte. So war er in jeder Hinsicht ein Exzentriker von urtümlicher Kraft. Nach dem dem Schwäche-Tod der Ideologien am Spätabend des Jahrtausends ist es uns wieder gegönnt, seine irdisch-spirituelle Grösse mitsamt dem zuweilen unleugbar anklingenden Gefühlskitsch bedenkenlos zu geniessen.

Aus Anlass des 100.Todesjahres des grossen Divisionisten und Symbolisten erschien im NZZ Verlag eine grosse monographische Darstellung. Das Buch führt die kontroverse Diskussion über Segantini weiter und bringt neue Erkenntnisse, insbesondere zur Rezeptions- und Sammlungsgeschichte. Ebenfalls zum Jubiläum erschien im Werd-Verlag "Segantini, ein Leben in Bildern". Das kurzweilige Buch stellt den Maler fundiert und bilderreich einem Laien-Publikum vor. Das restaurierte Alpentriptychon ist in ursprünglicher Pracht kürzlich wieder ins Segantini-Museum St. Moritz zurückgekehrt. Bedeutende Segantini-Sammlungsbestände beherbergen das Kunsthaus Zürich und das Kunstmuseum St.Gallen.

Segantini Museum St.Moritz, zum 100. Todestag von G. Segantini, bis 20. Oktober
Giovanni Segantini, NZZ Verlag, 1999
Segantini, ein Leben in Bildern, Werd-Verlag, 1999