Hans Renggli

Jahrmarkt der adoleszenten Grössenfantasien

HYPERMENTAL, Wahnhafte Wirklichkeit von 1950 - 2000. Kunsthaus Zürich. Bis 21. Januar

Die Kuratorin Bice Curiger hat im grossen Saal des Kunsthauses mit einer gewagten Zusamenstellung von Kunstwerken einen "Denkraum" gebaut, den sie als "hypermental" charakterisiert. Allein diese Wortschöpfung macht die besondere Ambition des Kunstereignisses deutlich und strotzt von modischem Zeitgeist, den die Chefredaktorin des Edelkunsthefts "Parkett" schon immer ausgezeichnet hat. HYPERMENTAL will keine Ausstellung im brav kunsthistorischen Sinn sein sondern ein spekulativer Essay jenseits von Stilgeschichte und Epochengliederung.

Von seiner konservativeren Warte aus bekannte der neugekürte Kunsthausdirektor Christoph Becker seine anfänglichen Bedenken mit Curigers Ausrichtung am Spekulativen. Das Ergebnis aber habe ihn eingenommen. Es unterstreiche das internationalen Standing des Kunsthauses und bestätige Bice Curiger als eine Ausstellungsmacherin der ersten Garde. Als Mitautor des Projekts zeichnet Christoph Heinrich von der Hamburger Kunsthalle.

Die Ausstellung besteht aus Bildern, Installationen und Videotapes der letzten fünfzig Jahren. Die Auswahl soll jene prekären Bezirke des Bewussteins aufschliessen, die in der euroamerikanischen Gesellschaft physisch und psychisch wirksam sind und die heutige Lebensrealität wesentlich prägen. Eine Lebensrealität, die nur oberflächlich vernunftbestimmt ist. Ihr eigentlicher Boden aber, so Curigers These, ist der Wahn.

HYPERMENTAL vertraut vor aller Theorie auf Visualität. So wurde sie als Jahrmarkt der Sensationen konzipiert in der Schauform eines Boulevards. Flanierend soll dem Betrachter ein fiebriges Panorama der Überspanntheiten und Exzesse aufgehen, von der die Kunst notwendig angekrankt sein muss, sofern es ihr um angemessene Darstellung der modernen Wirklichkeit geht. Denn diese ist alles andere als mittend. Wer mit Frau Curiger den wahren Puls des Lebens spürt, mag mit gemessener Klassik nichts zu tun haben. Hier geht es nicht um Konzentration, Verankerung, Selbstbestimmung, Mässigung, Stabilität oder Integration - Selbsterfahrungen, die immerhin eine andere an Cézanne orientierte Tradition der modernen Malerei begründet haben.

Diese Ausstellung setzt exklusiv auf den anderen Pol, auf das Exaltierte, Entgrenzende, Wegtragende; auf den physischen Exzess, den psychedelischen Trip und die mentale Irrfahrt. Denn die Positionen der Nicht-Identität sind es, die der Norm der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität entsprechen. Längst hat die westliche Gesellschaft angesichts ihrer rasenden Transformation und absurden Komplexität vom Boden abgehoben und befinden sich, wo immer sie sich für gehalten glaubt, im Bereich mentaler Einbildungen und Illusionen. Für "hype" aber dürfen jene gelten, die angesichts der ungeheuerlichen Tatsachen "cool" bleiben und den Wahn nicht als Schreckgespenst verdrängen sondern als inspirirendenden Gehilfen im kreativen Prozess akzeptieren.

Die Ausstellung umfasst sechs Kapitel, die sich auf die Konflikbereiche Fetisch, Wirklichkeit, Eros, Virtualität, Neurose und Atomisierung beziehen. Diese wurden von den Künstlerinnen und Künstlern nach persönlicher Massgabe mit irrlichternder Hellsichtigkeit, ekstatischem Schmerz oder strategischem Wahnsinn bearbeitet und zu Bildgegenständen transformiert.
Zu den wichtigsten Animatoren und Superstars dieser Parade der coolen Subjekte zählen Marcel Duchamp, Salvador Dali, Louise Bourgeois und Jeff Koons. Duchamp kann als der Urvater der mental gezeugten Kunst gelten. Er hat mit nichts als strategischem Kalkül das etablierte Kunstsystem aus den Angeln gehoben. Unzählige Künstler haben seither die Möglichkeit wahrgenommen, allein mit einer exzentrischen Haltung und forciertem Selbstbewusstein erfolgreich Kunst zu machen.

Den entscheidenden Impuls aber gab der Surrealismus, zu dem heute noch immer eine "Berührungsangst" bestehe, wie Bice Curiger bereits vor achtzehn Jahren festgestellt haben will. Die Gegenwartskunst gebe sich nämlich immer wieder surrealistisch ohne dass sie Lust habe, sich so zu nennen. André Bretons Doktrin des Surrealismus forderte die Alleinherrschaft des Unbewussten und verachtete alle Rationalität. Dali liess dagegen in seiner bildschöperischen Methode das Denken als beobachtende, eingreifende Instanz gelten, ohne dadurch - zumindest in seinen besten Bildern - in eine bloss illustrative Gedankenkunst abzudriften. Damit wies er voraus auf die heute aktuelle Kunstpraxis des Mentalen. Mit einer absolut exquisiten Auswahl von vier Hauptwerken rehabilitiert die Ausstellung Dali als einen Jahrhundertvisionär - allen Geschmacklosigkeiten zum Trotz, die er auch produziert hat.

Das Ausreizen der Grenzen des guten Geschmacks ist überhaupt ein Hauptmotiv der gezeigten Arbeiten. Das hat nicht zuletzt mit dem machtvollen Einfluss der Medien auf die kollektive Psyche zu tun, die von der Pop Art erstmals explizit thematisiert wurde. Damit waren die Schleusen geöffnet für den Einbruch des Vulgären in die Kunst. Seither ist die Abgrenzung der Kunst als ein Bereich des Höheren absurd und hinfällig geworden. Auch wenn Curigers Ausstellung nicht immer jugendfrei ist, fände sie in vielem bei Kindern und Pubertierenden das ideale Publikum. Glenn Browns hyperrealistisch gemalte Star Wars-Landschaft mit dem Titel "Böcklin‘s Tomb" dürfte sie gewiss hell begeistern und Olaf Breunings infantiles Bildrepertoire der Ritter und Monster trift den Nerv adoleszenter Grössenfantasien.