Rayelle Niemann

Die Bewegung der Bewegung - Artist-in-residence

Das geöffnete Fenster gibt den Blick frei auf den Hafen, das Meer, Schnee bedeckte hohe Berggipfel, die Dachterrassen der Grossstadt, am Horizont zeichnen sich Wolkenkratzer ab, und - soweit das Auge reicht – endlose Felder und Wälder. Muezzine rufen zum Gebet in die Moscheen, Strassenbahnen quietschen, Fahrradklingeln und endloses Hupen verkünden den Feierabendverkehr. Aus dem nahen Hindu-Tempel dringen dumpfe und helle Glockentöne. Hip-Hop Sound, Salsa-Musik und Vogelgezwitscher vermischen sich mit dem Getöse der Autos. Menschliche Stimmen preisen in fremder Sprache Kartoffeln und Eier an. Der heisse Wüstenwind bläst Sand auf den gekachelten Boden. Das gleichmässige Surren das Rasensprengers tönt vom umliegenden Park herein. Trommelschläge durchdringen die sternenklare Nacht. Und dann ist da die Stille, ruhige Stille. Nebelschwaden verunmöglichen den freien Blick. Süsssäuerliche Düfte verweisen auf asiatische Kochkünste, eine Wolke herben Kaffeegeruchs gemischt mit Kardamom, Zimt und Dieselabgasen schwebt in den Raum – - wo ein bunt bemaltes Glas aus Russland neben feinen chinesischen Porzellanteetassen im Abwaschtrog steht. An der Wand hängt eine langstielige türkische Kaffeekanne. Neben Gold geprägten schweren Britannica-Ausgaben reihen sich Bücher in finnischer, französischer und spanischer Sprache im Regal. Ein japanischer Comic liegt neben Kauri-Muscheln und einem Metroplan auf einem einfachen grossen Metalltisch. Eine peruanische Wolldecke bedeckt das Bett. Englische Kunstmagazine und italienische Designhefte stapeln in einer Ecke. An hell getünchten Wänden finden sich kleine Zettel mit Nachrichten in verschiedenen Schriften – koreanisch, arabisch, lateinisch. Von der Holzdecke baumeln feinblättrige goldene Tempelgeldscheine in einem Mobile.

Der universelle Raum, so oder anderes sieht er aus, der imaginierte Raum, der viel bewohnte Raum, der begehrte Raum, zuweilen auch der verhasste Raum, der Raum der kleinen Freiheit – irgendwo auf der Welt, Spuren der Welten in sich vereinend, die dort nacheinander ihr Lager aufschlagen. Spuren verkünden von denjenigen, die sich dort aufhielten, auf Einladung Zeit zu verbringen in einer anderen Welt. Es sind viele Räume, in verschiedenen Welten, ausgestattet mit Objekten, die zum einen nützlich sind, zum anderen auf Besonderheiten der jeweiligen Kultur verweisen. Die Lage und Umgebung der Orte tut das Uebrige, um auszuloten, ob die Gegend eine „exotische“ ist, eine inspirierende, eine farblose, eine erfrischende – abhängig von individuellen Konditionierungen.

Der Raum ist eigentlich ein klarer, mit dem notwendigsten ausgestattet: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett mit Nachttisch und Lampe, ein Regal, eine Kochnische, ein Bad mit Toilette und Dusche, eventuell Telefon und Internetzugang, an einer Pinwand Wegweisungen für und Informationen über den Ort.
Entweder ist der Raum ein einzelner oder er ist einer unter vielen, die alle mehr oder weniger gleich ausgestattet sind. Ein neutraler Ort, ein Hotelzimmer und doch keines. Vielleicht ein steriler Ort, ohne Atmosphäre.
Ein Ort, ein Raum für klare Gedanken, scheinbar geschichts- und keimfrei.

Programme dieser Raumangebote auf Zeit lesen sich grossartig: interdisziplinär und interkulturell, künstlerische Produktionen, theoretische Reflexionen, Oeffentlichkeit, Austausch von Ideen und Plänen, ein Ort für neue Freundschaften, Entdeckungen von Wahlverwandtschaften. Gefragt sind persönliche Investitionen, die unanhängig vom Faktor Zeit Früchte tragen (können).

Sie wissen, von welchem Raum die Rede ist?

Als ein weltweites Phänomen können heute residency-Progamme beschrieben werden, die es in jeder Kunst-Sparte, aber auch in wissenschaftlichen Bereichen gibt. Während früher Fürsten, reiche Industrielle, aber auch Kirchenhäuser Künstlern Wohnorte und Ateliers auf Zeit zur Verfügung stellten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, einen konkreten Auftrag auszuführen und/oder sich ihrem eigenen Schaffen vollumfänglich widmen zu können, zeichnen heute private und öffentliche Stiftungen für diese Angebote verantwortlich.
In den letzten Jahren hat das Interesse für künstlerische Residenzen auf Seiten der KünstlerInnen wie aber auch auf der Seite der Gebenden immens zugenommen. Von Brasilien nach Taiwan, von Estland nach Südafrika, von Finnland nach Japan ist ein Netz von Studios auszumachen, das KünstlerInnen über einen Zeitraum von 2 Wochen bis zu einem Jahr die Möglichkeit gibt, sich in einem anderen Kulturkreis aufzuhalten. Alleine in der Schweiz werden von öffentlichen und privaten Initiativen um die 125 Studios im In-und Ausland angeboten.
Für einige residences ist eine Bewerbung erforderlich, bei anderen werden die TeilnehmerInnen von den jeweiligen Institutionen direkt eingeladen.
Die an eine residence geknüpften Bedingungen sind so vielfältig und unterschiedlich wie die Orte selbst, jeweils abhängig von deren eigenen Geschichten, eigenen Kontexten und eigenen Atmosphären. Ebenso sind die Finanzierungen nicht die gleichen. Manche Institutionen bieten nur Studios an, während die KünstlerInnen sich selbst um die Finanzierung des Aufenthaltes kümmern müssen. Andere wiederum verknüpfen mit der zur Verfügung Stellens von Räumlichkeiten auch ein Budget, dass mal grosszügig, mal schmäler bemessen ist.
Motivationen für eine residence sind so mannigfaltig wie die Angebote. Während manche KünstlerInnen eine residence nutzen möchten, um abgeschirmt von Alltagsproblematiken konzentriert an einem Projekt zu arbeiten, nehmen andere die Zeit wahr, um Land und Leute kennen zu lernen, in neuen Disziplinen zu arbeiten oder Gemeinschaftsprojekte mit lokalen KünstlerInnen zu entwickeln.

Es gibt also kein Rezept, kein allgemeingültiges Programm oder generelle Bestimmungen, die eine residence beschreiben könnten. Weder von der einen Seite, noch von der anderen.

Was aber wohl Allgemeingültigkeit hat, ist die Tatsache, dass das kulturelle „globale Dorf“mit der Bereitschaft von KünstlerInnen, sich vermehrt Zeit begrenzten Nomadisierungen zu stellen, grösser wird. Nicht unwichtig ist dabei die Tatsache, dass sich heute die von Institutionen angebotenen Möglichkeiten nicht mehr auf Metropolen beschränken, sondern auch in nicht unbedingt vermuteten Gegenden aufzuspüren sind. Der reziproke Wechsel – KünstlerInnen der westlichen Welt reisen in ferne Länder und umgekehrt führt zu einem regen Austausch (und Anpassung?) künstlerischer Strategien. Lauert da nicht eine Falle? Tatsachen lassen sich nicht wegreden, sei es, dass westliche Länder nach wie vor wesentlich mehr in Kunst investieren als Länder, die auf der Schattenseite des Kapitals liegen; oder, dass es westliche Kulturorganisationen sind, die Oertlichkeiten für Residenzen in ökonomisch schwächeren Ländern finanzieren und auch für die Finanzen aufkommen, wenn KünstlerInnen aus diesen Ländern in die angestammte Heimat der Stiftungen eingeladen werden.
Altersgrenzen von 40 oder gar 30 Jahren beschränken jedoch das Angebot. Die Formulierung: wir wollen jungen KünstlerInnen eine Chance geben .... findet sich in vielen Richtlinien. Was ist gegen den Blick „der Reife“ einzuwenden? Wieso ist dieser weniger unterstützenswert?
Je nach Engagement des Hauses gibt es begleitende Programme, Unterstützung und Infrastruktur. Wenn KünstlerInnen auf sich selbst gestellt sind, braucht es oft Wochen, bis sie sich in diesem Anderen relativ ungezwungen bewegen. Menschen in Geschäften und auf der Strasse werden zu Botschaftern der unbekannten Kultur. Und vice versa fungieren die KünstlerInnen als BotschafterInnen des Landes, aus dem sie kommen, sie werden zu TrägerInnen einer Identität, die ihnen vorher vielleicht gar nicht so bewusst war. Selbstverständlichkeiten im Umgang mit dem eigenen Ich finden in diesem Kontext eine neue Ordnung. Individuelle Fragen können in der ungewohnten Umgebung zu erstaunlichen Antworten führen, das Reifen im persönlichen und/oder künstlerischen Prozess nimmt eine andere Wendung als eigentlich vorgesehen.
Die ursprüngliche Offenheit und Neugier für eine andere Kultur kann in blankes Entsetzen und absolutes Unverständnis umkippen, urbane Gelassenheit kann in ländlichen Gegenden zu desolater Hoffnungslosigkeit verkümmern, das nicht Sprechen der lokalen Sprache zu trauriger Vereinsamung und das Vermissen des Vertrauten zu einem Leeregefühl führen. Das Individuum, der/die KünstlerIn „als Mensch“ ist also herausgefordert. Und das ist gleichzeitig Programm vieler Initiativen: die Eingeladenen sollen mit „eigenem Blick“ auf das neue Umfeld, die anderen kulturellen Bedingungen reagieren und in Werken zum Ausdruck bringen, ohne ihren eigenen kulturellen Kontext zu ignorieren.
Was gibt es ausser dem eigenen Blick für einen Blick? Einen fremden Blick? Einen fremd geleiteten Blick? Den uneigenen Blick? Wie lässt sich eine andere Kultur erfassen? Sind residency-Programme physische Manifestationen des Surfens im Internet? Ist die Kommunikation unter KünstlerInnen global einheitlich (geworden)? Welche Rolle spielen ökonomische, geographische und deren immanent kulturellen Unterschiede (noch)? Gestaltet sich ein Curriculum Vitae attraktiver, wenn möglichst viele Orte der Welt als Residenzen aufgelistet werden können?
Es spricht die Sprache. Es spricht die Kunst über ihre formale Umsetzung und deren Inhalt. Persönliche Begegnungen und Gespräche kommen Erklärungsversuchen entgegen, das Andere näher zu bringen und im Kontext kultureller Einbettung zu verstehen.
Antworten auf Fragen wachsen in stetigen Prozessen und individuellen Erlebnissen. Und verändern sich wieder. Neue Fragen formulieren sich. Andere Antworten werden sich finden lassen.



©Rayelle Niemann, Zürich, Oktober 2005



Publiziert:

10 Jahre artist-in-residence, Atelier Krone, Aarau, 2006