Rayelle Niemann

Kritik als Selbstverständnis-
Ein längeres Telegramm über eine Haltung
Juni 2002

Die Erweiterung des klassischen Kunstbegriffes, nicht nur für das Werk selbst sondern auch für seine Verbreitung, liefert unbegrenzte Möglichkeiten, Inhalte zu transportieren. Hat noch vor ein paar Jahren die sogenannte Ablösung des aesthetischen durch einen gesellschaftlich-sozialen Kontext für Unruhe gesorgt, finden heute diese beiden, vermeintlich kontrapunktischen Ansätze in vielen Ausstellungen eine weit grössere Selbstverständlichkeit. Aesthetik wird ebenso über den Inhalt bestimmt, über den Ansatz einer Aussage, wie über auratische Bestrebungen.

In der Kunst gab es immer Strömungen, die sich als "salons des refusées" verstanden. Diese Bewegungen haben letztlich institutionelle Einrichtungen und Lehren/Theorien beeinflusst und weitergebracht - positiv ausgedrückt. Andererseits gibt es auch den Aspekt der Vereinnahmung und Uebernahme von oppositionellen Ideen und Strategien, wo es sich fragen lässt, in wie weit diese überhaupt noch relevant sind innerhalb von staatlichen Institutionen und in wie weit dort nicht eine Alibiübung für Kritik stattfindet.

In Zürich zeichnete sich ein Auflösen vieler unabhängiger Kunsträume ab, nachdem 1998 die KuratorInnen der Ausstellung "Freie Sicht aufs Mittelmeer" (der erste Teil eines Slogan der militanten Zürcher 80er Bewegung, deren zweiter Teil "nieder mit den Alpen" ausgespart wurde) in den underground stiegen, um eine Uebersicht der Schweizer Kunst der letzten 30 Jahre mit "Frischfleisch" anzureichern. Gefragt waren nicht nur einzelne KünstlerInnen, auch Projekträume wurden für die Ausstellung eingeladen, ihr Programm zu präsentieren und events zu veranstalten.
Viele hatten das Gefühl, es nun als EinzelkünstlerInnen im "big business geschafft" zu haben; doch etliche fielen wieder durch das weitmaschige Netz. Nach wie vor bedarf es an Räumen, in denen sich "Junge" messen und in denen andere Ausdrucksformen und Inhalte diskutiert werden können.
Das "Jung-Sein" in diesem Zusammenhang impliziert die Bereitschaft und
Investitionsfreude, für wenig oder gar kein Geld Konzepte und Ideen zu realisieren. Der ökonomische Druck, einhergehend mit dem "Aelterwerden" und dem Wunsch, auch Früchte ernten zu wollen, die sich nicht nur in Freundschaften niederschlagen, verlangt immer wieder die Ueberprüfung der eigenen Haltung.

Viele off-spaces der neunziger Jahre waren Produktionsstätten. Alles war in Bewegung und das "Produkt" vor allem die prozesshafte Kommunikation. Gerade dieses stetig "Unfertige" ermöglichte viele Experimente, bei denen das Individuum in den Hintergrund trat. Wichtig war vor allem, zusammen etwas zu entwickeln, andere Interessierte und Engagierte kennenzulernen, interdisziplinär zu arbeiten und sich nie auf ein "fertiges" Werk zu verlassen. Alles stand in einem grösseren Zusammenhang, an dem stetig gearbeitet wurde/wird. Die so kontinuierlich sich erweiternden internationalen Netzwerke boten/bieten ein Maximum an theoretischem wie praktischem Wissen, an formalen Erneuerungen und inhaltlichen Hinterfragungen.
Die Differenzierungen von politischen Inhalten in künstlerischen Praxen war/ist nicht losgelöst vom Kunstgeschehen - es ist vielmehr die pragmatische Antwort auf die Institutionskritik.

Alle Projekte in den neunziger Jahren, die ich selbst realisiert oder an denen ich teilgenommen habe, waren bestimmt von der Situation, dass viele Inhalte, andere Formen der Präsentation und des künstlerischen Ausdrucks in den traditionellen Kunsthäusern nicht aufgegriffen wurden.
Daraus ergaben sich zwei Strategien: einerseits neue temporäre Räume als Kunsträume zu etablieren und andererseits andere Inhalte und neue formale Strukturen in die Institutionen zu bringen. Nicht autonome Satelliten, die ohne jegliche Anbindung an den traditionellen Kunstbetrieb funktionieren, wurden geschaffen; vielmehr verdichteten die Projekte eine permanente Reflexion traditioneller Vermittlungspraxen sowie künstlerischer Umsetzungen und die Einflussnahme auf diese.
Impliziert war auch die Neuschreibung des kulturellen Kanons, der mit Anliegen/Inhalten von marginalisierten Interessengruppen und sogenannten Minderheiten stetig erweitert wurde.

Die Verunsicherung traditioneller Kunstinstitutionen in den neunziger Jahren und die damit verbundene "Offenheit für Neues" ermöglichte Zusammenarbeiten, die heute in diesem unabhängigen Ausmass nicht mehr denkbar sind.
So fanden Mitte der neunziger Jahre z.B. im Zürcher Kunsthaus autonome Veranstaltungen zu feministischen Themen statt sowie Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der damals aktuellen und brisanten "Aids-Kultur" und zur Visualisierung von Homosexualität in der Kunst und deren Vermarktung(s-möglichkeiten) im Galeriebetrieb.

Durch die finanziellen Unterstützungen öffentlicher und privater Stiftungen, die ebenfalls sehr eingenommen waren von politischem wie sozialem Engagement und dem "Druck" der political correctness, dem sie sich ausgesetzt fühlten, konnten viele Projekte überhaupt realisiert werden. Diese Praxis hat sich weitgehend verändert. Stiftungen unterstützen heute weit mehr etablierte Institutionen, mit denen sie ihr eigenes Image aufzubessern gedenken und eine erweiterte corporate identity suchen, ähnlich der Sponsoringpraxis von Firmen.
Kunstbetriebe haben Strategien des "erweiterten sozialen Raumes" übernommen, wobei viele der daraus folgenden Veranstaltungen sich als leere Hülsen entpuppen - die Loslösung aus dem ursprünglichen Kontext und die Vereinnahmung politischer Inhalte verpufft oft im Buffetgelage und in nichtverankerten Diskussionen.
Vielen, die aus dem Umfeld der off-szene kommen, sind solche Veranstaltungen suspekt. So finden diese events oft isoliert von der basiskulturellen Bewegung statt und manifestieren so eine etablierte akedemische Metaebene.
Interessen und Arbeitsweisen etablierter Kunstbetriebe sind nicht kongruent mit den Interessen von off-spaces. Prozessorientierte Arbeit wird meist ausgeschaltet in Institutionen, zu gross ist die bürokratische Maschinerie, zu gross der Glaube an und die Abstützung auf Hierarchien, die eine resortüberlappende Arbeits- und Funktionsweise nicht zulassen.

Die Bewegungen in der Kunst stehen auch immer im Zeichen ihrer Zeit. Die politische Aufbruchsstimmung der achtziger und neunziger Jahre ist vorbei, wie auch die Brisanz vieler politischen Themen - so scheint es an der Oberfläche. Doch gerade die scheinbaren Errungenschaften, Inhalte in Institutionen wiederzufinden und dadurch auch ein anderes, grösseres Publikum erreichen zu können, verlangt nach differenzierten Analysen, sorgfältiger Beobachtung und Hinterfragung.