Rayelle Niemann

Tracey Emin - Bad girl - good artist ?

Tracey Emin ist neben dem fast schon wieder vergessenen Damien Hirst das andere enfant terrible der Young British Art. Für die einen ist sie der Inbegriff der Künstlerin als Kommunikatorin, für andere strapaziert sie schamlos den Kunstbegriff. Die Turnerpreisausschreibung sei bei einer Teilnahme von Tracey Emin nicht ernst zunehmen, raunt der Chefredaktor der «Art Review». In New York verkaufte sie letztes Jahr Werke bis zu je 35.000,-£ (92,000,-SFr) an ihrer erfolgreichen Ausstellung.

Ein Bett in einem Raum. Eigentlich nichts Aussergewöhnliches. Doch das Bett stand letzten November in einer Ausstellung der Londoner Tate Gallery anlässlich der Turnerpreis-Nominierung. Das Bett sah gewöhnlich aus: zerwühlte Bettwäsche, Aschenbecher mit Zigarettenkippen, halbleere Wodkaflaschen, schmutzige Unterhosen, Kondome und ein sanfter Geruch, der vom Bett aus den ganzen Raum erfüllte. Tracey Emin, die Autorin dieser Inszenierung, ist sich Skandale gewöhnt und sah diesem entspannt entgegen. Dass es sich zwei chinesische Kunststudenten in ihrem Bett allerdings bequem machen würden, ihre Schlüpfer anziehen, die Flaschen ansetzen und sich mit den Kissen bewerfen, damit hatte sie nicht gerechnet. Die Tate Gallery beschwor Emin, keine Anklage zu erheben. Der Verzicht ihrerseits auf ein Mandat gegen die Zerstörung eines Kunstwerkes sollte die Diskussion um den pekunären Wert eines konzeptuellen Kunstwerkes nicht entfachen. Emin ist gekränkt, ihr Kunstwerk zerstört und die Aura kann mit der materiellen Abfindung der Tate Gallery nicht zurückbeschworen werden. Sie schnaubt: «..Der Versicherungswert liegt bei lächerlichen 15.000,-£ (ca. 39.000,-SFr) und sie haben mich noch nicht einmal informiert..» Tracey Emin sieht sich an schlechten Tagen sogar als Kommunikationsnudel missbraucht. Denn wo sie ist, ist ein Skandal, ist Publikum.
«Mad Tracey from Margate». Ein kleines Propellerflugzeug zieht dieses Spruchband am blauen Himmel hinter sich her. Margate ist die Quelle ihrer Kunst, mit Margate rechnet sie ab. Hier sind die bitteren Geschichten der Vergangenheit angesiedelt, von denen ihre Videos, Zeichnungen, Installationen, Decken, Gedichte und Objekte sprechen. In diesem kleinen Touristenort an der Südküste von England, führte ihre Mutter ein 80-Betten-Hotel. Der türkische Vater verbrachte drei Tage mit ihnen, drei Tage mit seiner Ehefrau in London und fand Zeit, weitere 21 Kinder zu zeugen. In Margate führte ihr Zwillingsbruder Paul sie in die Sexualität ein, seit dem Alter von acht Jahren wurde sie missbraucht, mit dreizehn vergewaltigt, lebte promisk, wurde mit «Schlampe. Schlampe. Schlampe.» aus der Disco getrieben, und mit 22 trieb sie das erste Mal ab. «..ohne Liebe will ich kein Baby..» wird sie während des Interviews sagen und verträumt die Beiwerke des vergangenen Abends aus einer Plastiktüte fischen: zwei grobmaschig gestrickte Babypullover aus feiner Mohairwolle, die ersten Objekte für die nächste Ausstellung.
«..Als Künstlerin musst du ein Ego haben, und ein Teil meines Egos ist meine Sexualität.. ..Meine Arbeit wird gut, wenn ich mich sexy fühle. Wir kommen alle vom Sex, oder? Und warum das nicht in die Arbeit aufnehmen?..» fragt sie naiv und ihre dunklen Augen leuchten. «Sie geht nach draussen, um zu schockieren..» sagt ein Freund. Die dem Werbezeitalter gerechte Neonschrift «Every Part of Me is Bleeding« schreit uns einen wahrlich schockierenden Zustand entgegen.
Mit dreizehn soll sie die Schule verlassen und bis zum Eintritt 1986 in die druckgrafische Abteilung des Maidstone Colloge of Art vom Leben gelernt haben. Zu ihrer Berufung als Multimediakünstlerin fand sie am Royal Colloge of Art. Theorien ranken um sie wie das frische Efeu um einen jungen Ast. Hélène Cixous, Bridget Riley und Liam Hudson werden zitiert. Der expressionistischen Stärke ihrer Zeichnungen, die sie Fingerabdrücke nennt, wird der Einfluss von Edward Munch, Paul Klee, Käthe Kollwitz, Egon Schiele zugesprochen. Doch alle inhaltlichen Diskussionen über ihre Kunst enden immer wieder bei einer traurigen, fast unglaublichen Geschichte aus ihrem Leben. «..Wer will schon wissen, wenn es dir gut geht? Die schlechte Seite des Lebens, Leiden und Schmerz sind interessanter.» Und sie ist eine gute Geschichtenerzählerin. Den Hunger nach konkreter Intensität in einer virtuellen Welt befriedigend, packt Tracey Emin schamlos aus und zieht all diejenigen in die unerbitterlichen Brandungen der Oeffentlichkeit mit sich, von denen sie auch erzählt. Ihr Bruder Paul verlor die Arbeit, Ex-Geliebte schicken ihr Schmähbriefe, sogar mit dem Tod wurde ihr gedroht. «..ich werde sensoriert. Nicht von der Kunstszene, aber von den Leuten, die in meinen Geschichten sind...». «..Willst du, dass ich tot umfalle? Selbst ein gelbes Quadrat würde meine Geschichte erzählen..» Sie scheint das Gewissen der Cool Young British Art zu sein, das schlechte Mädchen, das keine Schande kennt, über ihre Wunden zu sprechen und sie in Geld zu verwandeln weiss..
Ganz im Sinne von Beuys behauptete sie sich mit Mensch=Kapital, nun verfolgt sie die Strategie Kunst=Kapital. Vor allem der Meanstream und die Werbung bieten ihr Möglichkeiten, die Vollendung ihrer Träume in absehbarer Zukunft zu realisieren. Das Angebot für ein Haus auf dem Land mit grossem Umschwung liegt neben dem Faxgerät. Sie bietet sich auf der Börse mit erfolgreichen Obligationen an (ein Tip ihres Freundes David Bowie), für einen Roman werden ihr 80.000,-£ (210.000,-SFr) angeboten. Mit Channel 4 dreht sie eine 10-minütige Komödie. Für Vogue zeichnet sie Kate Moss «in privaten Posen». «...Was soll ich machen, wenn mich kein grosses Museum einlädt? Ich muss mit meiner Kunst so oder so weitermachen. Auch wäre ich dumm, wenn ich das Geld nicht nehmen würde...» Sie wirbt für Beck‘s Bier, Tracey empfängt grossformatig auf dem Heathrow-Flughafen. Sie legt sich für BMW knapp mit Schaum bedeckt in die Badewanne - oder habe ich das nur geträumt? Letztes Jahr wusste jede Zeitung, jedes Magazin in Grossbritannien etwas über Tracey Emin zu berichten. Und für viele ist sie die eigentliche Gewinnerin des Turnerpreises! Schmunzelnd erzählt sie, wie sie in der besagten Nacht, als die Architektin Zaha Hadid Steve McQueen zum Gewinner ausrief, hier in ihrer Loft von 400 Leuten empfangen wurde. Emin trug ein Kleid eigens von Vivienne Westwood entworfen; eine Prinzessin, beschützend eskortiert von Vater, Mutter und der Sexpistol-Schneiderin. Was zählt da ein Preis, wenn sie die Publizität hat? «Ich bin gut im Leben, nicht so in der Kunst. Von daher bin ich eine gute Verliererin!» sagt sie mit wissendem Lächeln.
Wahrlich, das Schmuddelkind hat sich einen Teil des Traumes erfüllt. Aschenputtel, das 1997 betrunken eine Fernsehdiskussion verliess und über Nacht entweder von allen geliebt oder von allen in Grossbritannien gehasst wurde, zieht sich gerade den Schuh an. Wenn sie nicht im Krankenhaus liegt; Spitalaufenthalte und Depressionen begleiten sie. Wie ein geglücktes Voodooritual verhilft Tracey Emin jedoch die Zurschaustellung ihres ungeschützten Selbst zur Genesungen: 1996 verbrachte sie nach einer Abtreibung sechs Wochen in der Stockholmer Galerie Brandström. Die BesucherInnen konnten von aussen über ein Froschauge beobachten, wie Tracey Emin nackt ihre Tage in dem mit Leinwänden und Farbtöpfen möblierten Raum verbrachte: «Exorcism of the last painting I ever made» «..Ich mache das, was viele tausende von Frauen auch machen - über sich reden. Nicht alle haben so viel Glück wie ich und können in der Kunst, Musik, Literatur arbeiten. Ich spreche gerade deswegen für viele..» Ihre männlichen Kollegen überlegen sich gar, ob die Arbeiten von Tracey Emin Frauen zu neuem Selbstbewusstsein inspirieren. Tracey hingegen als Ideal für ihre Schwestern und Töchter wollen sie nicht, die männlichen Kollegen, zu viele üble Geschichten. Doch wer kennt sie nicht, die «.. week in hell«, so der Titel eines ihrer wortstarken Gedichte, denen nichts mehr hinzuzufügen ist: «..aufgewacht mit Sex - hangover - gehe zur Toilette - scheisse und kotze gleichzeitig ... an diesem Tag kotze ich noch sieben mal- ich schwöre zu Gott - niemals werde ich wieder so viel drinken ... Zahnschmerzen ...« Bei der Lesetour 1994 «Exploration of my soul» durch die Vereinigten Staaten hing ihr das Publikum förmlich an den Lippen.
Ein Genie? Eine Verliererin? Im Moment geben ihr die Zahlen recht; noch muss sie nicht bis zum Aeusseren gehen, noch reicht das Leben.
Einer Nomaden gleich bewegt sie sich zwischen dem manischen Zwang, mit ihrer Vergangenheit abzurechnen und sich im Netz der verführerischen Glitzerwelt nicht zu verfangen. Eine Wandlerin an den Grenzen von Wirklichkeiten. Mich erstaunt nicht, dass Tracey Emin, nach der von ihr am meistgeschätzen Kunst gefragt, die Prinzenhorn-Sammlung in Deutschland nennt, die eine aussergewöhnliche Kollektion von Art-Brut-Arbeiten hütet. Sie weiss ihre Tragik zu kanalisieren, soviel hat sie gelernt. Sie zahlt für die «Heilung» mit dem Bad in der Oeffentlichkeit. Von 1995 bis 1998 öffnete sie ihr Atelier und nannte es «Tracey Emin Museum». Mittlerweile sind ihre Arbeiten in führenden Museumssammlungen zu finden. Mit Sarah Lucas führte sie 1993 einen «Shop«, in dessen «.. pretty nothing..» sich die Perlen der Londoner Kunstszene einfanden. Je mehr sie sich exhibitioniert, um so grösser scheint der Schutz vor Angriffen auf ihre Person, ihr Geschlecht. Die Liegestätte, die materielle Schnittstelle von Geborgenheit und Aengsten projeziert eigene Intimitäten, überschreitet die Schwelle, hinter der Tracey Emin heisse Lava ausspeit. Tracey Emin hat sich entschieden, dem Drachen das Maul zu öffnen. Sie ist zur Ikone des Schmerzes geworden. Sie redet von emotionalem Selbstmord als wäre es ein gemütlicher Gang über den Markt. Alle Freundschaften zerstört, die Arbeiten. Rückzug in ein kleines Zimmer. Liegen im Bett und warten. Monatelang. «..bis es mich wieder gefunden hat. Es kommt immer wieder..».
Die Tage sind vorbei, als sie Oelbilder für 10,-£ verkaufte, weil sie nichts zu essen hatte; als sie zehn Briefe innerhalb eines Jahres an Leute verschickte, die ihr im vorraus 10,-£ bezahlten. So lernte sie auch ihren kleveren Galeristen Jay Joplin 1993 kennen. Monate nach ihrem Treffen erhielt er einen Brief von ihr, «..in einer Zeit ihres Leben, in der es ihr sehr schlecht ging. Sie hatte eine Abtreibung, ich lud sie zu ihrer ersten grossen Einzelausstellung in die White Cube Gallerie ein...», so Jay Joplin, der mit Emin auf einem grossen Bett für den hausgemachten Katalog possiert. 1994 installierte Tracey Emin «My major retrospective» in der Galerie in unmittelbarer Nähe der Royal Acadamie of Art. Ein Feuerwerk mit fotografierten Arbeiten, die sie zerstört hatte, ihre Gedichte, farbenstarke, verträumte, clipähnliche Videoarbeiten und ihre knappen, expressiven Zeichnungen, von denen sie in manchen Nächten bis zu hundert produziert. In Jay Joplin fand sie einen überzeugten Galeristen, der sie schlau durch die Grauzonen von Kunst und Kommerz zu rudern weiss. Er ist überzeugt, dass Tracey Emin «..zu den führenden britischen KünstlerInnen gehört. Ihre Kunst ist ihr Leben, ihr Leben ist ihre Kunst. Das ist ihre Stärke...» Einer, der an sie glaubt.
Tracey von Margate, jetzt Tracey von Shorditch. Den Boden ihres knapp zweihundert Quadratmeter grossen Studios hat sie kirschrot gestrichen. 1.000,-£ zahlt sie jede Woche. «.. die 20.000,-£ des Turnerpreises langen sowieso nirgends hin, wenn du Künstlerin bist..» Noch will sie ihre Werke vor dem Ankauf geifernder Kunsthaie in Schutz nehmen. Doch ihr Zelt «Everybody I ever slept with, 1963-1995», dessen Innenwände mit den Namen aller Personen benäht sind, mit denen sie das berauschende Moment eines «Beischlafes» erlebt hat und zu Spekulationen über ihre sexuelle Vertilgungskraft provozierte, gelangte über zweite Hand in die gierige Kunstvermarktungsanlage der von ihr so gehassten Brüder Saatchi und Saatchi. Sie und andere Kulturschaffende können ihnen die listige Werbekampagnier, die Margerate Thatcher zum Wahlsieg verhalf, nicht vergessen. Für die Bettinstallation, so wird gemunkelt, würden Saatchi und Saatchi 100.000,-£ bezahlen, deren Sensation-Ausstellung unlängst in New York mit ein paar politisch kalkulierbaren Skandalen die Kassen des Museum of Modern Art füllte.
Tracey Emin kaut an einer Lychee. Eigentlich sollte sie noch schwimmen gehen. Das Rauchen hat sie aufgegeben. Mit dem Trinken ist es schwieriger. Der Freund kommt. Auch ein Künstler, der bei Analix in Genf ausstellt. Ja sicher, essen gehen. Sie huscht davon, um einen BH zu suchen, den sie nie findet. Für ein Foto, zwei. Der erste Text in ihrem Katalog beginnt mit den Worten: «Tracey Emin hat grosse Brüste und kommt aus Margate..» Hat sie vielleicht davon genug? Blüht sie deshalb erst auf, wenn das Aufnahmegerät nicht läuft? Das, womit sie schokiert, ist für sie normal. Auch ich komme
in Versuchung, beschützend den Arm um sie legen zu wollen.

Letztes Jahr waren ihre Zeichnungen je nach Grösse noch zwischen 1.500,-£ und 3.000,-£ zu erstehen. Das neue «Kunstforum» befasst sich mit dem «Schicksal des Geldes» und im O.K.Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich findet noch bis 2.3. eine Ausstellung statt, die die Sozialmaschine Geld von internationalen KünstlerInnen untersuchen lässt. Es wurden zwei komplexe Kataloge zum Thema «Sozialgeschichte Geld - Kultur.Geschichte» und «...Kunst.Positionen» herausgegeben.


Der Turnerpreis

1984 wurde in London erstmals der international beachtete Turnerpreis vergeben, um die Person zu ehren, die «...in den letzten zwölf Monaten den grössten Beitrag zum Ansehen der britischen Kunst geleistet hat...». Die Umsetzung dieser grossen Worte werden seit 1991 von Channel 4 gesponsert, der eine fernsehgerechte Vermarktung und das Preisgeld von knapp 53.000,-SFr garantiert. Die Oeffentlichkeit fiebert mit. Jeder Taxifahrer spricht über den Turnerpreis. Es werden Wetten abgeschlossen, Kopfgelder gesetzt.
In der Tate-Gallery findet eine Ausstellung der fünf KandidatInnen statt, die Preisverleihung wird live ausgestrahlt. Von soviel Publizität, vom Volke getragene Kunst kann Bernhard Bürgi für die eidgenössischen Kunstpreise nur träumen! Im letzten Jahr war er das einzige ausländische Jurymitglied für den Turnerpreis. Bereits im Frühjahr 1999 bestritt er in der Kunsthalle Zürich eine Ausstellung mit dem letztjährigen Preisträger.
Zwei Frauen, 1993 Rachel Whiteread und Gillian Wearing 1997, wurden seit 1984 ausgezeichnet. Ob die beiden letzen Gewinner, Chris Ofili 1998 und Steve McQueen 1999 der political correctness zum Opfer fielen, das bleibt vorerst Spekulation.
Jedes Jahr wird die leidliche Diskussion um die Frage, ob das denn nun Kunst im Sinne von Turner sei, neu geschürrt. Geklärt wird sie nie, der Erfolg liegt am Geschmacksnerv des Publikums, der auch das öffentliche Interesse an einem Preisträger zu vereiteln weiss.