Rayelle Niemann

Kunst des Abschieds
zum Weltaidstag am 1.Dezember 1997

Auf halber Treppe des Kunstmuseums St.Gallen liegt in dämmrigem Licht ein kniehoher Papierstapel. «Wir erinnern uns nicht» steht, das andere beschwörend, auf knallrotem Hintergrund auf jedem einzelnen Blatt. Gegen das Vergessen richten sich dann auch die anderen Arbeiten in der Retrospektive von Felix Gonzalez-Torres (1957-1996), der heute posthum mit seinen ästethischen und inhaltlichen Positionen, die auf die eigene Geschichte, gängige Machtstrukturen, Liebe und Tod verweisen, ein wichtiger Vertreter konzeptioneller Kunst ist. Der Prozesscharakter des Sterbens an Aids findet einen Vergleich in den Bonbonshaufen und Papierstapeln, deren Gewicht dem Körpergewicht eines an den Folgen von Aids erkrankten Freundes entspricht. Während der Ausstellung verschwinden sie, die einzelnen Bonbons und Blätter sind zum Mitgenommen konzipiert und werden für jede Ausstellung neu produziert. Auch die Unantastbarkeit von Exponaten wird durchbrochen und die gängigen Strukturen des Kunstmarktes hinterfragt.
Die Kunstwerke, deren Ansatzpunkte oft fälschlicherweise auf neue Sentimentalitäten reduziert wurden, ebneten den Weg für neue Betrachtungen und Erscheinungsformen tabuisierter gesellschaftlicher Grenzbereiche. Sie erleben jetzt, wo die Medizin für sich in Anspruch nimmt, die Bedrohung durch Aids im Griff zu haben, eine Befreiung aus dem engen Korsett ghetthoisierter und privater Betroffenheit. Eingebettet in den allgemeinen Körperdiskurs ist die Thematisierung von Tod und Trauer, das memento mori, international zu musealer Grösse gereift. Ausstellungsrezensionen erwähnen Zusammenhänge von Kunstwerken und Aids nur noch am Rande, Galerien, die verstorbene Künstler vertreten, sind bedacht, die Werke in einen grösseren Kontext zu stellen.
Felix Gonzalez-Torres gehört zu den vielen amerikanischen homosexuellen Künstlern, die von Aids betroffen wurden und die existentiellen Erfahrungen mit ihrem künstlerischen Medium zu einem Politikum machten. Die Marginalisierung und Diskriminierung von Homosexuellen erlebte mit dem Auftauchen von Aids Anfang der achziger Jahre einen neuen Höhepunkt und schwächte die gay community in ihrem emanzipatorischen Selbstbewusstsein, das sie seit Stonewall hedonistisch pflegte. Gerade die Szene, die sich der Lebenslust und-laster verschrieben hatte, war auf einmal mit der Endgültigkeit des Lebens konfrontiert und musste neue Rituale und Formen für die Verarbeitung des Absoluten finden, um sich selbst gereicht zu bleiben. Verantwortung und Aufklärung wurden neben persönlicher Betroffenheit zu wichtigen Katalysatoren für künstlerische Arbeiten, die zu politischen Manifesten gegen die Versäumnisse des Establishments und die Ingnoranz der Bevölkerung zu wurden. Wegen den schlechten sozialen Versicherungsbedingungen in den U.S.A. und der Zurückhaltung der Regierungen mussten dringend notwendige Projekte selbst finanziert werden. Eine breite Solidarität war gefordert, die sich in unzähligen Galas und Kunstauktionen für Fundraisings niederschlug. In einem ohnehin schon angespannten politischen Klima verschärften sich die Auseinandersetzungen und radikalisierten die Ausdrucksweisen einer individuellen Subjektivität, die sich als Reflektion kollektiver Subjektivität verstand, als Schnittstelle von Privatem und Oeffentlichem. Das in den Werken thematisierte Prinzip positiv/negativ und der offene Umgang mit Sexualität wirkte provozierend auf prüde Moralträger christlich-weisser Traditionen, während intellektuelle Kreise Aids schnell als Metapher für gesellschaftliche Veränderbarkeiten und Unveränderbarkeiten verstanden.
Das grosse kreative Potential, böse Zungen sprachen von einer kreativen Diarrhö, machte auch durch die Synergien mit öffentlichen und privaten Einrichtungen von sich zu reden. Kunst finanzierte sich über die Budgets der Aidshilfen, Stiftungen und Kulturämter unterstützten Werke, die sich mit Aids auseinandersetzten. «positiv discrimination» wurde einmal mehr zum Schlagwort. Es kursierten Gerüchte in der Kunstszene, nach denen es die besten Chancen für eine Unterstützung waren, handicaped zu sein, black, jewish, gay und HIV-postiv. Künstler mussten sich einerseits gegen die ihnen zugewiesene Rolle als Identifikationsfigur einer kulturellen Minderheit behaupten, gegen die Getthoisierung als gay- and HIV-positiv- artist, andererseits profitierten sie von der allgemeinen Sensibilisierung auf das Thema, unterstützten sie meinungsbildend mit ihren Werken und hielten am einst erlangten Selbstbewusstsein zornig fest. Ebenso schienen aesthetische Standards in Frage gestellt, wenn «Opfer» sich künstlerisch zu Wort meldeten. Der Kritik wurde das moralische Recht abgesprochen, Kunst nach gängigen Kriterien zu beurteilen, da schon das Thema alleine, die totbringende Krankheit, Beachtung für sich beanspruchte. Die Ernsthaftigkeit künstlerischer Aussagen wurden hinterfragt, wenn Arbeiten in der Nähe von Selbsterfahrung und eigener Betroffenheit auszumachen waren. Aus diesen Unsicherheiten wuchs ein «moralisches Dilemma», wie es Sieglinde Geisel im April 1995 in der NZZ formulierte. Wer ist eigentlich Opfer? Die KünstlerInnen, das Publikum, die Moral? Die «Victim Art» Debatte wurde in den U.S.A. leidenschaftlich geführt und wesentlich von Frank Wagner, freier Kurator und Mitarbeiter der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin, nach Europa gebracht. Bereits 1988 realisierte er mit 13 internationalen KünstlerInnen die Ausstellung «Vollbild/tableaux du sida» in Berlin und verfolgt seitdem beharrlich die Entwicklungen. Das Berliner Schwulenmagazin Magnus veröffentlichte 1993 Beiträge von Kulturschaffenden zu der von ihm lancierten Debatte: gibt es eine Aidskultur? Auch in Europa gingen die Positionen weit auseinander. Während die einen Betroffenen zu wenig Abstand attestierten und damit die Kunst qualitativ abtaten, fochten die anderen für eine Selbstverständlichkeit des «betroffenen Ausdrucks». Sie sahen in der Kunst gegen das Vergessen Möglichkeiten, Diskriminierung, sexuelle Bedrohung, Marginalisierung und den Prozess der Trauer gemeinsam verarbeiten zu können, Ermutigung und Optimismus zu verbreiten.
Der Mitte der achziger Jahre formulierte Slogan aus der amerikanischen Kunstszene silence=death wurde zum Programm von Aidshilfen und AktivistInnen auf beiden Seiten des Atlantiks, die sich der schnellen Verbreitung von Forschungsergebnissen, diskriminierenden Begebenheiten und Unterstützung verschrieben. Gran Fury, eine Gruppe amerikanischer radikaler AidsaktivistInnen, die sich wie ACT UP aus künstlerischen und sozial engagierten Menschen zusammensetzt, verstehen ihre Arbeiten als politische Propaganda mit einer einfachen Botschaft: das Virus Aids verbreitet sich unabhängig von Geschlecht, Rasse, Klasse und sexuellen Präferenzen. In Anlehnung an die sprachgewaltigen Positionen konzeptueller Kunst von Barbara Kruger und Jenny Holzer, die sich der Strategien einer mediatisierten Welt bedienen und Plakate und Laufleuchtschriften für ihre Realisierungen einsetzen, entstanden Arbeiten, die die Inhalte von gay studies, queer politics und political correctness in die Welt trugen. Der Kampf gegen Stigmatisierung , Ausgrenzung und Rolle als wissenschaftliches Versuchskaninchen verschmolz in vielen Aktivitäten mit dem Schmerz über den Verlust von Freunden. Es brauchte Orte der Erinnerung. Gemeinsame Rituale verfestigten die dringend notwendige Solidarität untereinander, hatte sich doch der Familiensinn in den Jahren des gemeinsamen Kampfes für Selbstbehauptung und Akzeptanz auf die community verlegt. Bei öffentlichen «name-readings», auch in der Holocaustverarbeitung praktiziert, werden die Namen aller an den Folgen von Aids Verstorbener stunden- und tagelang verlesen. Die individuellen Anfertigungen von gleichgrossen Decken, Quilts genannt, die an tote Freundinnen und Freunde erinnern und an öffentlichen Plätzen zum Abschreiten ausgelegt werden, entwickelten sich zu einem wichtigen Teil der Trauerarbeit. Heute bekennen sich heilige Hallen wie das Fridericianum in Kassel zu diesen «tödlichen Verknüpfungen»: vor den Stufen zum Gebäude wurden Steine in den Boden eingelassen, die die sandgestrahlten Namen von Verstorbenen aus der Kunstwelt tragen. Wie wichtig es war, Aids aus der Anonymität zu reissen, beweisen auch die nachhaltigen Reaktionen auf die Fotografien von Nan Goldin (1953 geb.), die sich als eine der ersten in den 80ger Jahren photodokumentarisch mit dem Sterben in ihrem nahen Umfeld (ihre Freundin und gute Freunde starben an den Folgen von Aids) auseinandersetzte. Aids und das Sterben verloren durch die Photos ihre Gesichts- und Namenlosigkeit, flüchtige Momente wurden zu Bausteinen von Biographien. Ueber die persönliche Betroffenheit hinaus wurden ihre Photos zu wichtigen Zeugen einer Epoche und Szene und eröffneten erneut die Diskussion um eine humane Darstellung, Kranke so aufzunehmen, ohne dass sie Gegenstand eines voyeuristischen Blickes werden. Nan Goldin bezog Stellung zur Realismus-photografie, an deren Unbarmherzigkeit wir mit dem Bild des kleinen Vietnammädchens, das nackt und vor Schmerzen schreiend dem Kameramann entgegenläuft, gewöhnt wurden. Auch Robert Mapplethorpe (1946-1990), dessen Retrospektive 1989 in Washington auf Betreiben des erzkonservativen Senators Jesse Helms wegen Beinhaltung «pornographischer Materialien» abgesagt wurde, sprach nicht durch die Blume, als er sich, bereits von der Krankheit gezeichnet, mittelalterlich mit einem Totenschädel ablichtet. Die kühle Aestethik seiner Photos entspricht Werbeaufnahmen, die die Grenze zwischen Realität und Inszenierung verwischen. Kunst, Massenmedien und Werbung beeinflussten sich wechselseitig in der Verarbeitung der weltumfassenden Seuche Aids. Benetton gestaltete 1990 eines seiner besten abstrakten Modewerbungen: die mit blutroter Flüssigkeit gefüllten Reagenzgläsern sind mit Margarethe, Ronald, George, Mikhail, Yassir etc beschriftet. Ein paar Jahre später allerdings löste Benetton mit der Photografie eines dem Tode sehr nahen Aidskranken im Kreise seiner Lieben international kontroverse Diskussionen über ihre Werbestrategien aus: die Würde des Einzelnen schien nicht mehr gewährleistet und die Grenze des Zumutbahren erreicht.
Die Aktions- und Performancekünste der 60ziger und 70ziger Jahre benutzten den Körper und seine Säften als Experimentiermaterial. Hermann Nietschs Blutorgien schockierten damals das Publikum, die Nacktheit von Valie Export griff die bürgerliche Moral an. Diese Arbeiten thematisierten die Eroberung des Körpers und bilden den Hintergrund für eine Reihe von selbstbewussten Werken, die im Aidskontext entstanden. Doch bei ihnen ist der Verlust des verletzbaren Körpers, der Abschied, zentraler Moment. Der Körper wird dekonstruiert und abstrahiert. Mit der Verarbeitung von Blut, Saliva, Sperma und Urin verschwindet die Leibhaftigkeit des Körpers und ist nur noch als erinnernder Verweis präsent. Piotr Nathan, 1956 in Danzig geboren, lud 1991 Freunde und Bekannte ein, sich in seinem Berliner Atelier auf einer mit einem Laken bezogenen Matratze in der Lieblingsposition hinzulegen und zu urinieren. Auf Laken und Matratze zeichneten sich die Umrisse der Körper an den Spuren des getrockneten Urins nach. Die Belege dieser Zeugschaftarbeiten, die Tücher mit einer Bahnlänge von 50,35 Metern, wurden mit dem Titel «Ein erstarrter Salto» 1993 in der Whitechapel Art Gallery in London installiert. An ein überdimensionales Schweisstuch der Veronika erinnernd, reflektieren sie die Hilflosigkeit, wenn die Kontrolle über den Körper verloren geht, beim Kollabieren des eigenen Systems. Gleichzeitig bekommt die Krankheit mit der Fixierung und Veräusserung auf Laken und Matratzen einen Raum zugewiesen, eine Begrenzung, in der sie «ihren» Körper annimmt.
Eine Arbeit von Robert Gober, geboren 1954 in Cunnucticut, ebenfalls aus dem Jahre 1991, versinnbildlicht auf poetische Weise das Dahinschwinden körperlicher Kraft und Stärke: eine helle Kerze steht auf einem viereckigen Boden, der aus dem gleichen Wachs geformt ist. Die Oberfläche des Bodens ist zerstreut bedeckt mit feinen kurzen dunklen Haaren, die unschwer mit Schamhaaren in Verbindung gebracht werden. Der Schwanz, die Lebenskraft, brennt nieder, brennt und tropft sich aus.
Die Geheimnisse von Leben und Tod gaben immer wichtige Impulse in der Kunst. Arbeiten, von Katastrophen und Krisen beeinflusst, spiegeln gesellschaftliche Umwälzungen gedanklicher und struktureller Art wieder, die mit dem Verarbeitungsprozess einhergehen. Nichts ist mehr wie vor Aids - das gilt auch für die Kunst. Avangardistisch ist heute die Rolle der sogenannten Aidskunst zu beurteilen, da sie mit ihrer Radikalität veralterten Standards ihre Gültigkeit absprach. Und die hitzigen Gefächte liesen vergessen, dass «... es nur gute und schlechte Kunst gibt...Die künstlerische Qualität entscheidet sich am konkreten Werk, nicht an den Absichten oder Vorraussetzungen, die dahinter stehen mögen» (Sieglinde Geisel).
Die Darstellung des Todes als Reiter, Würger, Schnitter und lüsternernen Knochenmann auf mittelalterlichen Pestbildern ist abgelöst worden von einer konzeptionellen Umsetzung, die sich erst noch in der Kunstgeschichte behaupten muss. Inzwischen nehmen sich Ausstellungskonzepte ethischen Fragen an, die oft nur in einem religiösen Umfeld ihren Platz finden. Die Thematisierung des Todes in der Kunst ist nicht mehr obszön.
Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten der amerikanischen Aidsaktivistin und Künstlerin Zoe Leonhard (geb.1961). Nachdem sie noch 1991 von grossen Belastungen sprach, die sich aus der Trennung von Kunst und Aktivismus ergeben, wurde sie bereits ein Jahr später auf der Dokumenta als Newcomerin gefeiert. Sie installierte ihre an Courbets «Ursprung der Welt» erinnernden frontalen Vaginaphotos zwischen antiken Oelportraits von Frauen. Ursprünglich fanden die Pfotos Verwendung für ein Plakat («Read my lips») gegen die repressive Abtreibungspolitik der amerikanischen Regierung. 1997 präsentiert sie mit Selbstverständlichkeit und ohne grosses Aufsehen in der Kunsthalle Basel ihre Trauerarbeit der Oeffentlichkeit. Leere Bananen- und andere Früchteschalen wurden von ihr mit Nadel und Faden zusammengenäht, eine hilflose Geste im Kampf von Leben und Tod. Die wieder geschlossenen, leeren Hüllen verändern die Farbe, die Form, Schimmel und Pilze wachsen, dem körperlichen Verfall der Menschen gegenübergestellt. Leonhard beschreibt in ihrem Text, dass dieses meditative weibliche Handwerk ihr in Zeiten der Trauer Ruhe und Trost gibt. Wie auch bei Felix Gonzalez-Torres bekommen hier biografische Dimensionen Allgemeingültigkeit in dem Bewusstsein, dass nicht nur die anderen sterben.

Rayelle Niemann, Zürich, November 1997