Dominik Landwehr

Pixelmonster auf dem Pausenplatz
Nintendos kleine Biester vermehren sich

Pokémon steht für Pocket Monster und heisst soviel wie kleines Biest: Genau darum geht es im gleichnamigen Computerspiel, das dieser Tage in der Schweiz in den Handel kommt. Der Hersteller Nintendo hat mit Pokémon zuvor in Japan und danach auch in den USA für Furore gesorgt und grosse Umsätze erwirtschaftet. Das Spiel ist der jüngste Höhepunkt der Karriere des Gameboy; dieses mobile Spielgerät eilt - obwohl technisch längst veraltet - in einer kurzlebigen Branche seit Jahren von Erfolg zu Erfolg.  

Sie sehen drollig aus und haben ebensolche Namen: Glumanda, Bisamsam, Schiggi, Mauzi, Golbat, Bluzuk, Nebulak, Zapdos, Relaxo oder Smogon. Dahinter verbergen sich Phantasiegeschöpfe, die mal an einen Drachen, mal an eine Katze oder eine Schildkröte erinnern. 150 solche Kreaturen gibt es insgesamt, und zusammen bilden sie das Pokémon-Universum. Indes: Die eigentlichen Monster bestehen nur aus wenigen Pixeln - Pokémon verlangt vom Spieler einiges an Vorstellungsvermögen. 

Der Spieler erwirbt für 59 Franken eine rote oder eine blaue Cartridge; auf jedem dieser Module befinden sich 139 Kreaturen. Beim Spiel geht es darum, die kleinen Monster aufzustöbern und zu fangen. Pokémons sind gelehrig und lassen sich trainieren; sie können auch gegeneinander kämpfen. Das kleine Monster Glumanda zum Beispiel entwickelt sich unter fürsorglicher Pflege zum feuerspeienden Drachen und kämpft gegen andere Kreaturen. Kein Spieler hat zu Beginn alle der 150 Kreaturen. Einige sind besonders rar. Mit Hilfe eines einfachen Kabels lassen sich die Monster zwischen zwei Gameboy-Konsolen austauschen. Auf den Schulhöfen in Japan und in den USA hat sich dank Pokémon ein reger Tauschhandel entwickelt; für seltene und besonders gut trainierte Biester werden auch Geldbeträge bezahlt. 

Plüschtiere und Schokoriegel  
Pokémon kam 1996 in Japan auf den Markt und wurde im vergangenen Jahr in den USA lanciert. Die Bedeutung des Spiels für den Hersteller zeigt ein Blick auf Zahlen: Verkaufte Nintendo 1997 weltweit gerade noch 1,1 Millionen Gameboys, so waren es 1998 plötzlich wieder 13,6 Millionen Stück; für das laufende Jahr rechnet ein Japan-Report der deutschen Commerzbank mit 18 bis 20 Millionen verkauften Gameboys. Die Software-Verkäufe stiegen von 3,5 Millionen im Jahr 1997 auf 4,2 Millionen 1998 und explodierten im laufenden Jahr auf geschätzte 65 Millionen. Pokémon hat damit in nur 37 Monaten alle je verkauften Gameboy-Titel mit Ausnahme des Spiels Super Mario überflügelt. 

Für die Markteinführung von Pokémon in den USA hat Nintendo 20 Millionen Dollar aufgewendet, die europäische Kampagne dürfte - so Renato Meier, Marketingmanager des Schweizer Nintendo-Generalvertreters Waldmeier AG in Basel - einen ähnlichen Betrag kosten. Millionenbeträge fliessen auch im Lizenzgeschäft mit dem Merchandising - dem Vernehmen nach gibt es heute nicht weniger als 1500 verschiedene Pokémon-Produkte: Dazu gehören Plüschtiere, Bettwäsche, Videos, Poster, Spielkarten und sogar Schokoriegel. Ein eigentliches Sammlerphänomen haben in den USA und Japan die Pokémon- Karten ausgelöst: sie zeigen die Fabelwesen samt ihren jeweiligen Kampfwerten. Nintendo ist damit, mehr als 100 Jahre nach der Gründung, wieder an den Ausgangspunkt seiner Firmengeschichte angelangt. 

Zurück zu den Anfängen 
Mit der Gründung einer Manufaktur für die Karten des beliebten japanischen Kartenspiels Hanafuda setzte ein gewisser Fusajiro Yamauchi im Jahre 1889 im Ostteil der Stadt Kyoto den Grundstein für die Firma Nintendo Koppei. Der Aufstieg zur Weltfirma begann in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts mit Elektronik. «Geradezu teuflisch» nannte ein Kommentar das neue Spielzeug, das im August 1990 in Europa auf den Markt kam - in Japan gab es das Gerät bereits seit 1988: Auf dem kontrastarmen Miniaturbildschirm eines crèmefarbenen kleinen Kastens waren Klötze in unterschiedlicher geometrischer Form zu sehen, die langsam von oben nach unten fielen und die der Spieler mit Hilfe einer einfachen Steuerung richtig ineinander passen musste. Dazu quäkte die immergleiche Musik aus einem winzigen Lautsprecher. 

Die Geburt des Gameboys stand unter einem guten Stern. Nintendo hatte nicht nur ein überzeugendes Gerät entwickelt, sondern legte mit dem Spiel «Tetris» gleichzeitig auch die richtige Software vor. Das abstrakte geometrische Geschicklichkeitsspiel hatte der russische Ingenieur Alexei Paschitnov auf einem Sowjet-Computer vom Typ Electronica 60 ausgetüftelt. 

Mehr als zehn Jahre nach seiner Erfindung ist der Gameboy immer noch äusserst beliebt, die Verkaufszahlen in den letzten Jahren zeigten sogar steil nach oben. Renato Meier schätzt, dass in der Schweiz bisher mehr als eine Million Gameboy-Geräte abgesetzt worden sind - etwa die Hälfte davon dürfte noch in Betrieb sein. Wo liegen die Gründe für diesen Erfolg? An der Hardware, an der Software oder am Marketing? An den technischen Eigenschaften, also an der Hardware, kann es nicht liegen: Der 8-bit-Prozessor mit einer Taktrate von 4,1 MHz und der interne Speicher mit einem Fassungsvermögen von 8 KByte waren schon vor zehn Jahren veraltet. Die Graphikdarstellung ist äusserst bescheiden: Das Gerät verfügt über ein 160 mal 144 Pixel grosses Display, das gerade vier Graustufen zulässt. Am Innenleben des Gameboy hat sich seit seiner Erfindung wenig geändert: Eine interessante Erweiterung stellt die Gameboy-Kamera samt Drucker dar, die vor zwei Jahren auf den Markt kam. Sie wurde indes kein Verkaufsrenner. Einschneidender ist dagegen die Einführung des Gameboy- Color vor einem Jahr: Dieses Gerät bringt neben den Farben auch eine höhere Graphikauflösung. 

Schon anders sieht es bei der Software aus: Über 1000 Games sind in den letzten zehn Jahren für den Gameboy entwickelt worden. Dass die Software einen wichtigen Anteil am Erfolg des Gameboys hat, ist allerdings eine banale Feststellung. Entscheidend ist dagegen folgendes: Nintendo kontrolliert den Software-Markt rigoros: Jeder Spielentwickler muss seine Erfindung von Nintendo genehmigen lassen und eine erhebliche Lizenzsumme abliefern. Die Produktion muss über Nintendo abgewickelt werden. Zahlen werden auch hier keine genannt, doch dürften pro Entwicklung Lizenzgebühren in der Höhe von mehreren hunderttausend Franken üblich sein. 

Wegen der technischen Beschränkungen und der äusserst begrenzten Computerleistung ist der Entwicklungsaufwand für ein Gameboy-Spiel klein - ganz im Gegensatz zu den Investitionen, die nötig sind, um ein gewöhnliches Computerspiel zu produzieren. Gameboy-Spiele kosten mit Preisen zwischen 40 und 60 Franken aber fast soviel wie Spiele für den PC. Sie lassen sich übrigens nur mit etlichem Aufwand kopieren, darum gibt es mindestens in Westeuropa auch kaum eine nennenswerte Piraterie. Theoretisch könnten auf einer Cartridge leicht mehrere Spiele untergebracht werden. Nintendo lässt jedoch keine solchen Module zu. 

Mit Einfachheit zum Erfolg  
Worin liegt also das Erfolgsgeheimnis des Gameboys? Nintendo baut seinen Erfolg auf eine billige und robuste Technik und versorgte die ständig wachsende Fangemeinde mit einem nicht versiegenden Strom an neuer Software. Weil der Hersteller diesen Markt kontrolliert, fliesst auch fast jeder verdiente Rappen wieder zurück. Nintendo hat mit dem Etablieren eines proprietären Standards eine riskante Strategie umgesetzt, die sich aber in diesem Fall gelohnt zu haben scheint. Oder ganz einfach: Nintendo verfügt über ein De- facto-Monopol und kann damit auch die Preise diktieren. In den USA und Japan haben die Gameboy-Verkäufe dank Pokémon massiv zulegen können. Nintendo-Vertreter Renato Meier rechnet für die Schweiz mit einer ähnlichen Entwicklung und hofft auf eine Umsatzzunahme von 30 Prozent. 

Nintendo scheint für die Zukunft gerüstet zu sein: Gemäss einem Report der Investmentbank ING Barings will Nintendo bereits im nächsten Jahr die Möglichkeit anbieten, Gameboy-Software via Mobiltelefon übertragen zu können. Gleichzeitig arbeitet man an einem tragbaren 32-bit-Gerät, das ebenfalls im kommenden Jahr vorgestellt werden soll. 

* Der Autor arbeitet bei Migros Kulturprozent im Bereich Science & Future. 

Neue Zürcher Zeitung, 8. Oktober 1999