Roman Kurzmeyer

Der Künstlerkurator

Zum siebzigsten Geburtstag von Harald Szeemann

Mit einem Maximum an persönlicher Präsenz, Lust, Neugier, Offenheit und Arbeit und einem Minimum an Mitarbeitern ist Harald Szeemann heute weltweit tätig. Er stellt aus, schreibt, tritt auf und lehrt. Ein brillanter Kommunikator und Performer, der, obschon von internationaler Ausstrahlung, das Einmannunternehmen geblieben ist, als das er als Schauspieler und Künstler in den fünfziger Jahren in Bern begonnen hat. Heute wird Harald Szeemann 70 Jahr alt.

Mit der Ausstellung „When Attitudes Become Form“ 1969 in der Kunsthalle Bern, die im Jahr nach den Studentenunruhen die Prozesshaftigkeit der zeitgenössischen Kunst als Ausstellung thematisiert, zieht Szeemann nicht nur wegen des neuen Kunstbegriffs der beteiligten Künstler die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstszene auf sich, sondern auch wegen der Ausstellungskonzeption. Szeemann versammelt in seiner Ausstellung europäische und amerikanische Künstler der jüngsten Generation, neue Namen wie Richard Serra, Robert Morris, Michael Heizer, Bruce Nauman, Joseph Beuys, Mario Merz, Richard Artschwager und Lawrence Weiner, deren Arbeiten in Bern vor Ort entstehen. Szeemann erkennt, dass der Kunstbegriff dieser Generation, der Werkformen wie Konzeptkunst, Landart, Installation, Environment und Happening umfasst, nach neuen Ausstellungsformen verlangt. Szeemann lernt von den Künstlern und beginnt seine Ausstellungen als Kräftefelder zu inszenieren. Joseph Beuys ist eine wichtige Orientierungsfigur jener Jahre. Von der lebendigen und aktuellen Programmgestaltung der Kunsthalle profitiert auch die Berner Kunstszene. Nach der in der Schweiz äusserst kontrovers diskutierten Ausstellung „When Attitudes Become Form“ beendet Szeemann seine Tätigkeit an der Kunsthalle Bern und gründet die „Agentur für geistige Gastarbeit“ mit der Absicht, „etwas Neues zu finden und zu tun und mich gleichzeitig vom offiziellen Kunstbetrieb abzusetzen“. 1970 wird er zum Generalsekretär der „documenta 5“ (1972) gewählt, dieser bis heute wichtigsten Ausstellung internationaler Gegenwartskunst. Im Sinne des „erweiterten Kunstbegriffs“ fordert er in Kassel die „Befragung der Realität“ und rückt die „Visual Culture“ ins Zentrum der Ausstellung. Er macht sich Duchamps Entdeckung zu eigen, dass im 20. Jahrhundert für die Erkennung und Wirkung des Kunstwerks der institutionelle Rahmen bestimmend ist. Rückblickend wird deutlich, dass die Konzeption der „documenta 5“ im Programm der Kunsthalle Bern, die Szeemann seit 1961 leitet, vorbereitet war. Er gibt Berner Künstlern Gelegenheit auszustellen, zeigt in Einzel- und Gruppenausstellungen, beispielsweise in „Licht und Bewegung – Kinetische Kunst“ (1965) oder „12 Environments“ (1968), aktuelle Tendenzen der internationalen Gegenwartskunst, stellt für das Verständnis der Aktualität wichtige historische Vorläufer wie Malewitch, Kandinsky, Herbin, Morandi, Picabia und Duchamp aus und veranstaltet, aussergewöhnlich für eine Kunsthalle, mit „Puppen-Marionetten-Schattenspiele“ (1962), „Bildnerei der Geisteskranken – Art Brut – Insania pingens“ (1963) , „Ex Voto“ (1964) und „Science Fiction“ (1967) eine Reihe von thematischen Ausstellungen, die das Verhältnis von Stilkunst, Volkskunst und Art Brut befragen und damit direkt auf die „documenta 5“ vorausweisen.


Ausstellung als Kunstwerk

Harald Szeemann leitet in den späten sechziger Jahre die Ablösung des Kunsthistorikers und Museumskurators als massgebliche Autorität für Künstler wie Publikum ein und etabliert den Ausstellungskurator als Autor und die Ausstellung als Kunstwerk. 1972 wirft ihm der französische Künstler Daniel Buren genau dies vor, sich nämlich nicht in den Dienst und unter die Autorität des Künstlers zu stellen, sondern Ausstellungen zu inszenieren, in denen die ausgewählten Werke lediglich bestimmte Funktionen innerhalb der Inszenierung zu erfüllen hätten. In den siebziger Jahren arbeitet Szeemann an grossen kulturgeschichtlichen Ausstellungen, mit denen er auch einem breiten Publikum bekannt wird. Zunächst überrascht er 1974 die Kunstwelt mit der kleinen Ausstellung „Grossvater: Ein Pionier wie wir“ in der Galerie Toni Gerber in Bern, die den Nachlass seines Grossvaters, des Coiffeurs Etienne Szeemann, in Form eines imaginären Museums zeigt. Die Ausstellung ist als „Musée sentimentale“ eine liebevolle Hommage und zugleich eine institutionskritische Arbeit, die sich mit Marcel Broodthaers „Musée d’Art Moderne“, ausgestellt auf der „documenta 5“, vergleichen lässt. 1975 folgt „Junggesellenmaschinen / Les Machines Célibataires“, 1978 „Monte Verità / Berg der Wahrheit“ und 1983 „Der Hang zum Gesamtkunstwerk: Europäische Utopien seit 1800“. In den achtziger und neunziger Jahren zeichnet er als permanenter freier Mitarbeiter am Kunsthaus Zürich verantwortlich für grosse Einzelausstellungen von Künstlern seiner Generation wie Mario Merz, Richard Serra, Joseph Beuys, Walter de Maria und Bruce Nauman und kuratiert in Deutschland eine Reihe von Grossausstellungen zur zeitgenössischen Plastik. Szeemann organisiert in den neunziger Jahren zum 100. Geburtstag des Films für das Kunsthaus Zürich “Illusion – Emotion – Realität: Die 7. Kunst auf der Suche nach den 6 andern“ und nimmt mit „Visionäre Schweiz“ (1991), dem Pavillon der Schweiz an der Weltausstellung von Sevilla (1992) und der Ausstellung „Austria im Rosennetz“ (1996) sein Interesse an Mentalitätsräumen wieder auf. 1997 leitet er die Biennale von Lyon und steht 1999 und 2001 zweimal erfolgreich der Biennale von Venedig vor, die er nicht nur leitet und wesentlich vergrössert, sondern selbstverständlich im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch alleine kuratiert.


Harald Szeemann ist heute der erfolgreichste Vertreter eines Metiers, das er mit seiner „Agentur für geistige Gastarbeit“ einst selber begründet hat. Sein Archiv spiegelt die Entwicklung der westlichen Nachkriegskunst und ist zugleich ein Tagebuch, in dem auch die unscheinbarste Notiz ihren Platz hat. Seine besten Ausstellungen sind bis heute diejenigen, in denen er aktuelle künstlerische Strategien auf seine eigenen Ausstellungen anwendet. So letztes Jahr an der expo.02 im Auftrag der Schweizerischen Nationalbank seine Wunderkammer „Geld und Wert / Das letzte Tabu“, die in ihrer Anlage auf den Installationskünstler Thomas Hirschhorn verwies und als Ausstellung schnell die vielen gut gemeinten, doch programmierten Selbsterfahrungen in den übrigen Pavillons vergessen liess. Seinem untrüglichen Sinn für Künstlerpersönlichkeiten, seiner Lust an der grossen Geste, die bei ihm zusammengeht mit einer ausgeprägten Sensibilität wie sie für so grosse selbstbewusste Männer selten ist, seiner Intelligenz und Professionalität verdanken wir nicht nur grossartige Ausstellungen sondern auch einen lebendigen, unakademischen Diskurs über die zeitgenössische Kunst und deren Autonomie. In Klosterneuburg bei Wien ist derzeit Szeemanns jüngste Ausstellung „Blut und Honig – Zukunft ist am Balkan“ zu sehen. Unerfüllt ist bis anhin sein Wunsch nach einer Kunsthalle auf dem Monte Verità in Ascona. Auf was wartet die Tessiner Regierung?



Dieser Text erschien am 11. Juni 2003 in der Nr. 132 der Neuen Zürcher Zeitung und danach in der Kulturchronik des Goethe-Instituts (Nr. 4, 2003), dort auch in englischer Sprache.