Roman Kurzmeyer

Welcher Ort? Zur Malerei von Hyun-Sook Song.



Maler berühren jede Stelle der Leinwand. In diesem technischen Sinne besteht in der Malerei wie bei keiner anderen Kunstform eine exklusive Beziehung zwischen Autor und Werk, die sich dem Betrachter seit der Moderne auch als solche mitteilt.

"Mit der Photographie war die Hand", schreibt Walter Benjamin 1935, "im Prozess bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen."1) Erst im Zeitalter der technischen Vervielfältigung konnte sich die Malerei als Handwerk von einer erlernbaren und lehrbaren Fertigkeit zu einer spezifischen, auf eine konzeptuelle Leistung hin ausgerichteten Technik wandeln. Benjamin schildert in der eben zitierten Schrift, wie sich mit der gesamtgesellschaftlichen Neuordnung im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch der Kunstwerkbegriff zu verändern begann und damit der gesellschaftliche Status des Künstlers. Er erkannte, dass die medialen Eigenschaften von Fotografie und Film besonders geeignet waren für die sich in seiner Zeit beschleunigende Entfaltung der visuellen Massenkultur. Die Fotografie und insbesondere der Film werden denn auch nicht lediglich als künstlerische Medien dargestellt, sondern ebenso in ihrer Eigenschaft, Bilder zu vervielfältigen.
Heute existieren viele Bilder, die überall gleichzeitig abrufbar sind. Die Schwächung und Auflösung lokaler Kulturen, zu denen inzwischen auch die europäischen gehören, ist durch diese technische Dekontextualisierung der Bilder mitverursacht. Unter diesen Bedingungen kann es keine Bildgeschichte mehr geben, die als generationenübergreifender Überlieferungszusammenhang gelingt und damit eine Kontinuität des Selbstverständnisses und der Selbstauslegung von Kultur ermöglichen würde. Nicht von ungefähr stehen deshalb seit einiger Zeit vermehrt die Inhalte der Kunst und die Kommunizierbarkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit und weniger die Stilgeschichte mit ihren Fragen der Form, der Materialien und der Geschichte der Kunst wie noch zu Zeiten Walter Benjamins.

Dieser im 20. Jahrhundert vollzogene Perspektivenwechsel hatte zur Folge, dass in Kunst und Kunsttheorie die produktionsästhetischen Fragestellungen zusehends den rezeptionsästhetischen nachgeordnet wurden. Die Geschichte der Kunst wird seither mit anderen Augen wahrgenommen. Heute finden instrumentelle Eigenschaften des Kunstwerks besondere Wertschätzung. Von der Malerei der Gegenwart wird erwartet, dass sie sich aus dem Bezug auf den Kunstbetrachter entfaltet.

Es gibt Filmaufnahmen, die Hyun-Sook Song beim Malen zeigen. Die Künstlerin gibt mit diesen erst vor kurzem aufgezeichneten Bildern aus ihrem Atelier vor, wie der bildnerische Prozess vom Kunstbetrachter wahrgenommen werden soll. Am Schluss der Filmsequenz wischt Hyun-Sook Song das Bild wieder ab. Vor der Kamera kann dargestellt werden wie ein Bild gemalt wird, aber keine Malerei geschaffen werden. Song steht beim Malen mit nackten Füssen auf einem rohen Brett über zwei Balken. Mit grosser Sicherheit bewegt sie sich auf dieser schmalen Balkenbrücke über der auf dem Boden ausgebreiteten, grundierten und einfarbig bemalten Leinwand, bückt sich und zieht über den Bildgrund einen Pinselstrich. Der Malvorgang wird nach jedem Pinselstrich unterbrochen. Handelt es sich um eine Arbeit mit nur einem Pinselstrich, ist das Gemälde nach diesem konzentriert ausgeführten Pinselzug beendet, ansonsten hält die Künstlerin inne und verlässt die Balkenbrücke, um den Pinsel entweder gegen einen andern auszuwechseln oder wieder mit Farbe zu tränken und somit für den nächsten Pinselstrich vorzubereiten. Der Bildgrund ist die einzige Farbfläche auf ihren Gemälden, da sich die Figuren immer aus wenigen, einzeln wahrnehmbaren Strichen zusammensetzen. Hyun-Sook Song zählt die Pinselstriche und benennt die Gemälde nach der Anzahl der für das Bild benötigten Striche.2) Jede Linie zeigt den Vorgang ihrer Hervorbringung. Die Künstlerin nimmt mit einem kleinen Pinsel von der angerührten Eitempera, färbt den grösseren Malpinsel mit einer oder mehreren Farben nebeneinander ein, begibt sich auf die Balkenbrücke, setzt den Pinsel an und zieht einen Strich. Dieser kann ein- oder zweifarbig ausgeführt werden. Die Farben mischen erst beim Malen. Jede der Linien wird in einer durchgehenden Bewegung erzeugt, deren Verlauf auf dem Gemälde ablesbar ist.
Zu den von der Künstlerin selbst auferlegten Spielregeln gehört diejenige, dass sie für einen Pinselstrich nicht zweimal ansetzen darf. Reicht die Farbe nicht, um die begonnene Linie zu beenden, wischt sie die Farbe weg und setzt neu an. Jedes Gemälde entsteht in einem kohärenten Maldurchgang. Die Pinselstriche werden in den nassen Bildgrund aufgetragen.

Hyun-Sook Song behandelt ihre Gemälde nicht lediglich in technischer Hinsicht als Ort. In den einfarbigen Grund ihrer Arbeiten malt sie einfache Bildzeichen für Orte wie Brücke, Topf, Haus, Spur. Es handelt sich bei diesen topologischen Motiven im doppelten Sinne um Signifikanten ohne Signifikate. Die Bildzeichen verweisen auf eine zweite Wirklichkeit, einen geographischen und kulturellen Zusammenhang ausserhalb der Malerei, die "asiatische Kultur". Die gleichzeitige Entortung der Bildzeichen im einfarbigen Bildgrund macht aber bewusst, dass es sich dabei um leere Referenzen handelt.
Es gibt diese Welt nur als Malerei und als solche wird sie von der Künstlerin erinnert: Hyun-Sook Song wurde als Tochter eines Reisbauern geboren und wuchs in einem kleinen koreanischen Bergdorf auf. Sie trägt in sich Bilder ihrer koreanischen Heimat und Kultur, in der sie bis ins Erwachsenenalter lebte und der sie sich auch heute, mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Umsiedlung nach Deutschland, zugehörig fühlt. Doch Hyun-Sook Song bringt in ihrer Malerei nicht diese bäuerliche Welt ihrer Kindheit in Südkorea zur Darstellung; auf der Leinwand abgebildet wird im Modus der Pinselbewegung ihr Nachdenken über diese Herkunft. Wer von der Welt ihrer Kindheit nichts weiss, wird diese in der Malerei auch nicht wiederfinden. Sie schildert weder den Alltag einer kleinbäuerlichen Familie im Korea der sechziger Jahre noch die traditionellen Riten und Gebräuche.
All dies findet sich ausschliesslich im filmischen Werk, das in enger Zusammenarbeit mit ihrem deutschen Lebenspartner Jochen Hiltmann entsteht. Im filmischen Werk treibt Hyun-Sook Song, traditionell gekleidet, mit kräftigen Hammerschlägen einen Pfahl in den Boden, dokumentiert auf dem elterlichen Hof die für die Kamera von ihren alten Eltern wiederaufgenommene Seidenherstellung oder zeigt den Auftritt der von der Familie gerufenen Schamanin. Die Malerei dient keinen ethnographischen Interessen. Hyun-Sook Song zeigt keinen verlorenen Ort, sondern bestimmt durch ihre Malerei vielmehr einen konkreten Ort, an dem sich auch der Kunstbetrachter einfinden kann.

Visuelle Darstellung, Formung und Gestaltung der Welt haben in unserer Gesellschaft, die der Kunsthistoriker Hans Belting als "technische Weltzivilisation" 3) bezeichnet, einen hohen Stellenwert: Das Tätigkeitsfeld des Künstlers ist weit und umfasst neben Produktgestaltung, Architektur, Mode und visueller Kommunikation mehr und mehr den Wirklichkeitsbegriff selbst. An der visuellen Formung und medialen Vermittlung von Wirklichkeit beteiligt sich auch die Kunst, um damit ihren gesellschaftlichen Bezug unter Beweis zu stellen. Kreativität, seit der publikumswirksamen Erweiterung des Kunstbegriffs durch den deutschen Plastiker Joseph Beuys ein Schlüsselbegriff der Nachkriegsmoderne, kann sich beispielsweise mit sozialer und politischer Verantwortung verbinden. Hyun-Sook Songs Verständnis von der Rolle des Künstlers und der Funktion des Kunstwerks ist ein anderes. Ihre Kunst verweist nicht auf soziale Handlungsbezüge sondern evoziert Leere und deren Transformation in Bedeutung. Sie arbeitet bewusst und in konstruktiver Absicht am Nullpunkt der Kunst, zu dem sie mit jeder neuen Arbeit zurückkehrt.

"Alle grossen Erzählungen", schreibt Hyun-Sook Song 1994, "worin die Völker der Welt ihr Leben verankerten, sind mir vorlängst schon genommen. Heimatland, Muttersprache, Religion und Sitte sind mir schon lang aus dem Alltag geschieden, aus Lebendigem zu Kunst erhoben. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen. Und dieses Selbst ist das, was in uns allen zum Schweigen verurteilt ist und dennoch, über alle kulturellen Grenzen hinweg, verstanden wird."4) Diese autobiographische Erfahrung der Deterritorialisierung, der Dekontextualisierung und des Verstummens der eigenen Existenz ist eine genuin moderne und durch entsprechende Formulierungen in vielen Künstlerschriften dokumentiert. Mit der Setzung des Pfahls wird eine Ortsbestimmung vorgenommen. Hyun-Sook Songs Pinselspuren sind im Wortsinne keine Pinselstriche sondern -strecken, da das Aufsetzen des Pinsels auf die Leinwand, die Verlaufsrichtung des Farbauftrags und schliesslich die Beendigung des Zugs und das Abheben des Pinsels am Bild ablesbar sind. Die vermeintlich gestische und spontane Malerei ist zwar körperbezogen (kontingent), aber dennoch höchst kalkuliert (konzeptuell). Hyun-Sook Song nimmt mit dem Pinsel Begrenzungen in Ort und Zeit vor, die als solche vom Kunstbetrachter individuell nachvollzogen werden können. Für eine kollektive Wahrnehmung eignet sich diese Malerei nicht.

Dies führt noch einmal zu Walter Benjamin und dessen Umschreibung der "Aura", mit deren "Zetrümmerung" er das Zeitalter der Massenkultur beginnen lässt: "Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat - das heisst die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."5) Hyun-Sook Song entwickelte eine Methode, ihre eigene heterotopische Identität im Bild durch Prozesse maximaler mentaler und minimaler malerischer Verschiebungen so aufzuheben, dass Gegenwart auch für den Kunstbetrachter erfahrbar wird.


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1) Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1977, S. 10-11.
2) Vgl. Werner Hofmann, "Knoten des Herzen", in: Song, Hyun-Sook, Katalog, Kumho Museum of Art, Seoul 1996, o. S.
3) Hans Belting, "Der Ort der Bilder II": Ein anthropologischer Versuch", in: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 60.
4) Hyun-Sook Song: Der Pfahl, Katalog, Kunstverein Göttingen, 1995, o. S.
5) Benjamin, a.a.O., S. 57.