Peter Kraut

Mythos und Imitation

Auch grosse Rockbands schreien und schwitzen immer noch auf der Bühne. Im Studio entsteht ihre Musik aber weitgehend am Computer. Und Computercracks, die Musik machen, vergessen oft, dass es dabei auch ums Hören ginge. Derweil plündert der Pop das musikalische Archiv und bedankt sich bei den Herstellerfirmen von Studioelektronik. Ist alles durcheinander?


Überblickt man die elektronische Musik der letzten zehn Jahre, so zeigt sich ein produktiver Widerspruch: sie ist in hohem Mass abstrakt geworden, durch ihre Verfügbarkeit an der digitalen Schnittstelle aber auch ungemein konkret. So treibt etwa die rechnergestützte Atomisierung der Klänge wundersame Blüten: minimalste Fehlgeräusche werden wie unter der Lupe vergrössert und bilden Ausgangspunkt ganzer CD-Produktionen. Solche Musik ist ohne Kenntnis ihrer technologischen Voraussetzungen nur metaphorisch zu fassen. Will man differenzierter darüber sprechen, braucht es einen Verständigungsapparat über und Einblick in Programmiersprachen, Samplingtechniken, Umgang mit Hüllkurven, digitale Effekte und anderes mehr, um zu beurteilen, ob da jemand Neuland betritt oder bloss ein Untermenu eines Windows-Programmes schlau einsetzt. Dieser von den Fortschritten der Musiksoftware vorangetriebene abstrakte Reduktionismus, der bis ins Innerste des Klanges vordringt, wird wohl bald an ein Ende kommen. Die Breite Front von akademischen Forschern, DJs und esoterischen Bastlern, die hier tätig ist, muss sich dann anderen Bereichen zuwenden, bspw. dem Design virtueller Instrumente, dem forgeschrittenen Plündern des Musikarchivs oder der Katalogisierung von Naturgeräuschen. Demgegenüber steht eine wohltuende Tendenz, die uns wieder auf das Hören selbst zurückwirft: elektronisch gespeicherte Klänge strömen unentwegt aus Lautsprechern von Computern, Mobiltelefonen, Gameboys und Hörstationen, sie plärren in Boutiquen, Schalterhallen und Werbeblöcken. Damit sind wir ausserhalb aller Vermittlungs- und Verständigungscodes, die uns etwa das Konzertritual abverlangt, von Musik und Sounds umgeben. So artifiziell und entfernt diese Sounds von dem eines tatsächlich gespielten Instrumentes auch sein mögen, so nahe dran sind sie am täglichen Leben, umgeben uns, begleiten uns. Wenn es dabei auch oft bloss um Fragen des Produkte- und Dienstleistungsdesigns geht, das mit Klängen modelliert wird, so ist es doch eine permanente Chance, den eigenen Ohren zu trauen. Noch nie waren die Vergleichsmöglichkeiten so umfassend. Musik kann heute überall abgerufen und wiedergegeben werden. Was mit der Elektrifizierung und dem Phonographen angefangen hat, präsentiert sich als Geschichte der Geschwindigkeit und Mobilität – "Alles in Echtzeit, überall" lautet das Ziel. Beide Tendenzen zeigen, dass Musikhören immer auch "understanding media" bedeutet.

Wenn die konzertante Musik tendenziell soziale Zugangs- und Konsumbeschränkungen aufrechterhält, so bringt die elektronische Musik tatsächlich die – allerdings problematische – Demokratisierung. Diese Entwicklung stellt den Hörer autonom und selbstbewusst in Position: jeder ist potentiell Konsument, User, Produzent und kann im täglichen Soundtrack des modernen Lebens mitswitchen und -diskutieren. Die Verfügbarkeit von Klängen in allen Lebenslagen ist aber begleitet von einer masslosen Trivialisierung, von einem unsäglichen "So-tun-als-ob". Elektronische Klänge sind dann am langweiligsten, wenn sie imitieren. Wenn bspw. die Digitalkamera beim Drücken des Auslösers das Geräusch einer analogen Spiegelreflexkamera wiedergibt, so ist das ein Armutszeugnis für die Herstellerfirma: offenbar schafft man es dort nicht, ein den neuen Technologien entsprechendes Klangdesign zur Seite zu stellen oder man traut seinen Kunden den akustischen Fortschritt nicht zu. Etwas schlauer war da Microsoft. Das akustische Logo beim Aufstarten von Windows wurde von Brian Eno gestaltet, einem der wichtigsten Vertreter elektronischer Musik zwischen experimentell und Pop. Fehlendes Bewusstsein für die akustische Gestaltung der urbanen Lebensumgebung ist aber nur ein Grund der Trivialisierung. Der andere liegt in der Technologie, von der kaum erwartet werden kann, dass sie die Mittel zur Lösung ihrer eigenen Probleme bereitstellt: Rechnergestützte Musik ist von der Industrie trotz nie dagewesener technischer Möglichkeiten in enge Bahnen gelenkt worden, weil diese Vieles vorgefertigt zur Auswahl bereitstellt. Im Gastrobereich würde man von "processed food" sprechen: Hard- und softwareseitig bestimmen vorgekochte Zutaten – sogenannte Presets – wie das Resultat klingen wird. Oder man wählt zwischen Möglichkeit a oder b oder c, verändert zahllose Parameter und verliert während des Arbeitens die Fantasie und das Ziel aus den Augen. Unterwegs verbauen einem unzählige Entscheidhilfen den Weg statt ihn zu ebnen. Die grafische Benutzeroberfläche verstärkt diesen Effekt: man modelliert Klänge optisch am Bildschirm, kreiert als virtueller Architekt etwa Hallräume nach eigenen Vorstellungen und vergisst beim Sehen das Hören. Es ist paradox: je mehr Möglichkeiten es gibt, um so mehr scheinen die Resultate zu langweilen und sich anzugleichen. Unter der Explosion der Eingriffsmöglichkeiten verarmt das Resultat.

Der Medientheoretiker Norbert Bolz spricht von intelligenten Filtern, welche uns bei der Bewältigung der Informationsflut helfen sollen und fordert mythische Orte, an denen die Kunst das sinnliche Erlebnis wieder im eigenen Recht überbringen kann. Beides seien Mittel im Kampf gegen den wachsenden Vertrauensverlust, den wir gegenüber den Neuen Medien mit ihren grenzenlosen Manipulationsmöglichkeiten hegten. Also weg mit Touchscreens in Museumshallen, keine Laptops mehr auf Konzertbühnen? Vielleicht hat man zu lange simple Anwendungen der neuen Technologien künstlerisch frisiert und sich wenig um die Aura, die Menschen, die Atmosphäre der Vermittlung gekümmert. Gefragt sind heute geistreiche Verbindungen von Klängen und Bildern, ein durchdachtes Zusammenwirken von nicht wahrnehmbarer Manipulation und Inszenierung der Musiker selbst, ein ergänzendes Spiel der verschiedenen Medien und Informationsträger, ein Wechsel von Online und Offline, die geschickte Verschiebung von Ort und Zeit, wie sie nur mittels elektronischer Musik möglich ist. Es gibt auf die Dauer kaum etwas Unergiebigeres als elektronische Klänge, die im Setting der Konzertmusik aufgeführt werden, also frontal von der Bühne, mit Lautsprechern links und rechts. So schränkt man freiwillig die Möglichkeiten neuer Technologien auf die Rituale der konventionellen Musik ein. Ein Beispiel, was die Alternative im Bereich der elektronischen Musik heissen könnte, ist mit der Idee von "Meta-Instrumenten" umschrieben: Schnittstellen also, die sich nicht als billige Einbahn-Lösungen korrumpieren lassen, sondern komplex in das Aufführungsgeschehen eingreifen und nicht einfach den Willen des Vollstreckers in vorhersehbare Resultate überführen. Ein anderes überzeugendes Beispiel hat der Frankfurter Komponist Heiner Goebbels mit seinem Stück "Max Black" in Szene gesetzt. Der Monolog des Darstellers, seine Geräusche beim Spiel auf der Bühne werden von aufwendiger Technik sofort gesampelt und von der Klangregie nach strengen Vorgaben bruchstückhaft und rhythmisch wieder zurück auf die Bühne und ins Publikum geschickt. So spielt der Akteur mit sich selbst und der Aussenwelt, eine hintergründige zweite Ebene wird eingeführt, die Technologie verfremdet und bereichert, statt bloss sich selbst zu spiegeln.

Auf der Suche nach innovativen Ansätzen der "Kunst von Morgen" ortet der Leiter der "ars electronica", Gerfried Stocker, die vielversprechendsten Ansätze an den Schnittstellen von Wissenschaft und Unterhaltungsindustrie; der geschlossene Diskurs der Kunstwelt sei weder entwicklungsfähig noch legitimationsberechtigt. Das mag für gewisse Bereiche stimmen, etwa für den ungebremsten Spieltrieb der Popkultur, wo man sich subversiv und hierarchielos der zur Verfügung stehenden Technik bedient. Die Behauptung übersieht aber, dass Manches, was heute als innovativ gilt, nicht viel mehr als blendende Anwendung der neuesten Informationstechnologie ist. Imitation, Ersatz und Virtualität sind, es wurde bereits erwähnt, keine vielversprechenden Konzepte der elektronischen Musik. Dort, wo diese über das eigene Medium hinausgreift und so unsere Wahrnehmung fordert, wird sie erst spannend. Dazu braucht es aber nebst anderem historisches Bewusstsein, ein feines Gespür für räumliche und technologische Dimensionen und nicht zuletzt soziale Kompetenz – Fähigkeiten, die man sich kaum am Bildschirm aneignet.