Oliver Kielmayer


Kunst und Leben


Vom Beginn der Moderne bis heute ist das Verhältnis von Kunst und Leben in immer wieder anderen Zusammenhängen diskutiert worden. Angefangen mit den Hoffnungen auf eine Kunst, die sämtliche Bereiche des Lebens beeinflussen sollte, über die manchmal etwas diffusen Forderungen nach einer Vereinigung von Kunst und Leben bis hin zum Problem der Unterscheidung der beiden Bereiche vor allem im 20. Jahrhundert.

Es war Schiller, der mit seiner Rede von der schönen Seele den Stein so richtig ins Rollen brachte. Indem er die Schönheit, in der damaligen Kunsttheorie das ausgezeichnete Merkmal der Kunst, als anzustrebende Vervollkommnung nicht nur des ästhetisch gebildeten Menschen, sondern der gesamten Gesellschaft beschrieb, machte er ein Prinzip, das eigentlich nur für einen Teilbereich innerhalb der Gesellschaft gültig war (die Kunst), plötzlich zu einem universalen Prinzip der richtigen Lebensgestaltung. Nietzsche stellte ein Jahrhundert später sein Begriffspaar von Werk- und Lebenskunst vor, das auf der Ebene von Kunstwerken denselben Sachverhalt reflektierte; Werkkunst war für ihn eine an sich defizitäre und lediglich angesichts widriger Umstände existierende Form von Kunst, die in der kunstvollen – und auch bei ihm meinte dies: besten – Art zu leben überflüssig würde: Die Lebenskunst einer aus Übermenschen bestehenden Gesellschaft bedarf der Kunstwerke nicht mehr.

Ob Werk- oder Lebenskunst, der gemeinsame Nenner findet sich im Begriff der Schönheit. Dieser Begriff ist heute allerdings alles andere als unproblematisch, und ich frage mich, ob er für eine Diskussion überhaupt noch brauchbar ist.

Heute spricht man stattdessen lieber von Brüchen, Verschiebungen oder der Différance, während man gleichzeitig den Begriff der ästhetischen Relevanz zugunsten anderer wie Subversion, Fiktion oder Imagination bereits wieder meidet. Dies alles ändert freilich nichts daran, dass in einer strukturellen Lesart all die gebräuchlichen Begriffe durchaus den philosophischen Konzeptionen ästhetischer Erfahrung, oder auch dem Schönheitsbegriff beispielsweise bei Kant, entsprechen: Wie immer man es nennen mag, stets geht es darum, dass, formal analog zu reinen Erkenntnisleistungen, zum Wahrgenommenen passende Bezeichnungen gesucht werden. Ästhetische Erfahrung ist formal, als Versuch des Verstehens, analog strukturiert zur ausserästhetischen. Gleichzeitig unterscheidet sie sich davon insofern, als nichts endgültig Passendes gefunden wird, da alle gefundenen Bezeichnungen gegenüber dem Wahrgenommenen defizitär bleiben und wiederum neue Bezeichnungsversuche anregen. Diese Unabgeschlossenheit respektive Offenheit ästhetischer Erfahrung bringt es mit sich, dass sie notwendigerweise subjektiv bleibt. Endgültige Bezeichnungen oder Interpretationen wären ja nichts anderes als intersubjektiv anerkannte Bedeutungen des Wahrgenommenen und damit objektiv verbindlich.

Dass der deutsche Idealismus in diesem Antagonismus – dem Zugleich von subjektiven Freiheitsgraden und objektiv verpflichtenden Zuordnungsstrukturen –, ein Prinzip sah, das unser gesamtes Leben prägen sollte, ist heute allerdings kaum mehr plausibel. Es mag zwar durchaus richtig sein, ästhetische Erfahrung als Versöhnung zweier grundsätzlich unabhängiger Prinzipien zu beschreiben – die Formel von Kant beschrieb es als Zugleich von sinnlicher Natur und intelligibler Freiheit – aber weshalb sollte dieses lediglich für einen Teilbereich der Gesellschaft – eben die Kunst – gültige Phänomen für die Organisation einer ganzen Gesellschaft richtig sein? Noch die Romantik beschrieb die gesellschaftliche Realität als in genau diese beiden Bereiche gespalten, wodurch die Kunst einerseits zu etwas Anderem zur Welt wurde, verbunden mit der negativen Einschätzung der Realzustände aber auch zu etwas Besserem. So richtig die Konzeption ästhetischer Erfahrung sein mag, so fragwürdig bleibt die Einschätzung, dass die Versöhnung von Sinnlichem und Vernünftigem als gesellschaftliches Organisationsschema erstrebenswert sei. Ich halte die Ansicht, dass Kunst nicht nur eine Alternative, sondern die bessere Alternative zur Welt sei, für ein ausgesprochenes Missverständnis des deutschen Idealismus.

Die These, dass sich Welt und Kunst konträr, respektive analog in der besseren Zukunft, verhalten, ist heute in der Tat eine kunsthistorische Schrulle. Das ändert jedoch nichts daran, dass Teile dieser Konzeption weitreichende Konsequenzen hatten, beispielsweise die Feststellung, dass ästhetische Diskurse in der gesamten uns umgebenden Welt verankert sein können: Wenn ein Individuum, ein Leben, oder sogar eine ganze Gesellschaft im Sinne eines ästhetisch überzeugenden Arrangements Kunstwerke sein können, was gäbe es da noch, was nicht Kunst sein kann? Vor allem das 20. Jahrhundert nahm diese Einsicht sehr ernst und entwickelte verschiedene Strategien, wie man Kunst im Alltag aufgehen lassen könnte.

Heute geschieht ja das Einbringen von Kunst und ästhetischen Diskursen im Alltag in einem derartigen Ausmass, dass der grosse romantische Wunsch nach einem Leben als Gesamtkunstwerk beinahe erfüllt zu sein scheint... Sieht man sich um, so wird man ohne grosse Mühe feststellen, dass wir uns in einer hochgradig ästhetisierten Gesellschaft befinden. Ästhetik spielt in immer mehr Bereichen eine wichtige Rolle und ist keineswegs auf die Kunst allein beschränkt. Prada oder Gucci stellen ästhetische Fetischobjekte beispielsweise im Bereich der Mode zur Verfügung, und sogar die Auswahl von sehr praktischen Dingen wie Autos oder Staatsmännern ist heute kaum mehr zweckrational motiviert. Mit einer derartigen Ablösung ästhetischer Diskurse von den Kunstwerken und deren Verankerung im Alltag wird die Kunst in der Tat in gewisser Weise zur Lebenskunst: Ein für die Kunst konstitutives Merkmal macht sich selbstständig und erscheint nun plötzlich immer und überall.

Das Einbringen von Kunst im Alltag geschieht jedoch nicht nur durch die Übernahme ästhetischer Diskurse in Bereiche der Nichtkunst – wobei diese beispielsweise in Form von privatem Hedonismus und hochgradig durchgestylter Umgebungsgestaltung wirksam werden –, sondern auch auf Seiten der Künstler, die versuchen, ihre Kunst im Alltag zu platzieren. Es ist keineswegs so, dass sich lediglich aus der Kunst verflüchtigende ästhetische Diskurse in anderer und zumeist instrumentalisierter Form im Alltag zurückmelden, auch die Kunstwerke selber überschreiten als Kunstwerke ihre traditionellen Grenzen. Dazu gehört seit jeher die Platzierung von Kunst im öffentlichen Raum, aber ebenso das Arbeiten vieler zeitgenössischer Künstler abseits des traditionellen Werkbegriffs. In den 60er und 70er Jahren versuchte sich die bildende Kunst noch vermehrt in die Politik einzubringen, heute bescheidet sie sich eher auf verwandte Gebiete, wo die Einbringung ästhetischer Werte nicht am Ende lästig, sondern willkommen ist, und gestaltet Layouts, Ausstellungen oder Bauten.

Aber auch das Umgekehrte findet statt: Viele Künstler sind dazu übergegangen, den Alltag in die Kunst zu holen, wozu sie weniger von romantischem Gedankengut als vielmehr von den Folgen aus Abstraktion und Ungegenständlichkeit getrieben werden. Die Ratlosigkeit vieler Leute angesichts von Werken, die kaum mehr Redundanzen bieten, in denen also Wiedererkennungseffekte bestenfalls noch für den kunsttheoretisch oder -historisch Gebildeten bestehen, hat zu Bewegungen wie der Pop Art geführt, die mit Gegenständen, Zeichen und Begriffen arbeiten, die eigentlich jedermann vertraut sind und somit für eine ästhetische Rezeption anschlussfähig. Gewissermassen als Antwort auf die gescheiterte romantische Hoffnung, aus der Kunst eine Welt zu machen, macht man nun wieder aus der Welt Kunst.

Beide Strategien sind heute bekannt und spielen eine wichtige Rolle. Solange der Alltag zunehmend von ästhetischen Diskursen geprägt wird, Kunst sich in allen nur erdenklichen Formen im öffentlichen Raum platziert und selber wieder genügend Anschlussfähigkeit für ein breites Publikum bietet, ist alles in Ordnung. Problematisch wird es, sobald man feststellt, dass sich die Grenzen zwischen Kunstwerk und Lebenswelt oder zwischen Kunstwerk und ästhetischem Diskurs beinahe aufgelöst haben. Ich meine damit folgendes: Plötzlich hat man das Problem, dass entweder die Kunst derart alltäglich geworden ist oder aber der Alltag derart kunstvoll, dass man sich in der Tat fragt, was Kunstwerke da überhaupt noch sollen.

Man könnte darauf antworten, dass es selbstverständlich keine Garantie geben kann, dass Kunstwerke ewig existieren werden; so gesehen ist auch denkbar, dass diejenigen Bedürfnisse, die heute mit Kunstwerken abgedeckt werden, in einer anders organisierten Gesellschaft anders, sprich ohne sie befriedigt werden.

Im Moment ist eine solch fundamentale Änderung der Gesellschaft, wie immer diese aussehen würde, allerdings nicht in Sicht, also lassen wir doch die Frage nach dem eventuellen Ende der Kunst beiseite.
Für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage bietet sich eine Betrachtung des Readymade an, welches zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Bezeichnung kunstexterner Bereiche als Kunst, beziehungsweise für den Fall, dass sich Kunstwerke äusserlich identisch mit normalen Gegenständen oder Situationen des Alltags zeigen, geschaffen wurde. Kunsthistorisch meint das Readymade vor allem das Auszeichnen eines normalen Gebrauchsgegenstandes als Kunstwerk, wofür Marcel Duchamps' Urinoir der Ur- und Inbegriff ist. Kunst und Alltag werden derart miteinander verklammert, dass die Kunst zum Teil des Alltags wird und der Alltag zum Teil der Kunst. Das Spektrum reicht von der Behauptung, der Alltag sei Kunst (das Ästhetische ist ganz alltäglich), bis hin zur Ausweisung eines ästhetischen Wertes im Alltag (das Alltägliche ist ganz ästhetisch). Im Readymade bewegt sich der theoretische Bedeutungshorizont von Grenzüberschreitung und Interferenz Alltag/Kunst stets innerhalb dieser beiden Pole.


Readymades können also irgendwelche Dinge sein, die wir auch sonst um uns haben; diese Dinge können wiederum von ästhetischem Wert sein oder auch nicht. Natürlich wird man zugeben müssen, dass jedes im Kunstkontext platzierte Objekt gleichsam von selbst ästhetisiert wird, denn dort wird es als Kunstwerk auf sein ästhetisches Potential hin wenigstens untersucht.

Problematisch sind weniger diejenigen Readymades, denen man kein oder bestenfalls ein geringes ästhetisches Potential zuerkennen kann; hier herrscht stets die Behauptung vor, etwas sei Kunst, was dann in Widerspruch zur Wahrnehmung gerät. Die eigene Wahrnehmung wird subvertiert und deren Zuordnungsmechanismen werden in Frage gestellt, was in der Tat ein ästhetisch erfahrbares Spannungsverhältnis zur Folge haben kann. Die Frage ist allerdings, ob man dies immer und immer wieder mit anderen Gegenständen machen kann, oder ob es nicht bei einigen Fallbeispielen bleiben sollte. Die ästhetische Erfahrung ist stets dieselbe, sei es ein Stuhl, ein Stempelkissen oder ein Scheuerlappen, da sie immer auf der Spannung zwischen fremder Behauptung und eigener Wahrnehmung basiert. Der Mehrwert solcher Objekte ist denn auch kaum mehr auszumachen, sobald streng genommen eines davon existiert: Geht es immer wieder nur um die schiere Behauptung, etwas ganz Selbstverständliches sei Kunst, so wird sich das Publikum mit Recht schwertun, diese Behauptung ernst zu nehmen. Wenn jede ästhetische Überzeugungskraft fehlt, werden die Objekte zur Auflage des ewig Gleichen.

Aber wie ist es mit Dingen, die über einen derart hohen ästhetischen Wert verfügen, dass man sie sofort als Kunstwerke anerkennen könnte? Da sie im Alltag ebenfalls vorkommen und – dies hat ihre Prüfung als Kunstwerk ergeben – denselben Anforderungen genügen wie die Kunst, muss man sich berechtigterweise fragen, ob und wie sie sich denn überhaupt noch davon unterscheiden. Das Problem ist dabei weniger, die Objekte als Kunst auszuzeichnen, denn hierfür stehen dem System institutionalisierte Rahmen bereit; schwieriger ist schon eher, dass man ausserhalb des verbrieften Kunstbereichs plötzlich Dinge wahrzunehmen beginnt, auf die das Prädikat Kunstwerk absolut zuzutreffen scheint.

Die Künstler lassen sich von solcher 'Konkurrenz' immer wieder beeindrucken und irritieren. Manchmal nicht ganz zu Unrecht, denn abseits des herkömmlichen Kunstbetriebs entstehen mitunter Dinge, die in kaum für möglich gehaltenem Masse das bieten, was wir von der Kunst erwarten. Wenn Regisseure wie David Lynch hochwertige Filme schaffen, für deren Betrachtung Millionen von Menschen bereit sind, einen Kinoeintritt zu bezahlen, dann ist die verunsicherte, bisweilen panische Reaktion seitens mancher Künstler durchaus zu verstehen. Aber das Beispiel ist nicht nur als Hinweis auf die Schwierigkeit, ein neues Medium als Kunstform zuzulassen, gemeint, sondern auch als Seitenhieb gegen die jüngere Vergangenheit der bildenden Kunst, in der man sich viel zu wenig um das eigene Basisgeschäft kümmerte und stattdessen jeden nur erdenklichen Müll und Blödsinn als Kunst zu verzapfen suchte. Die Schwäche, mit der sich die Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts konfrontiert sah, war zu einem guten Teil hausgemacht, und zwar von einer Kunst, die am Ende alles hat sein wollen, nur eines nicht: sich selber.

Ich denke, man kann sagen, dass sich die Probleme, die beim Versuch der Grenzaufhebung zwischen Kunst und Leben entstehen, ganz allgemein aus dem Fehlen verlässlicher Kunstkriterien ergeben; nichts führt zu grösserer Verlegenheit als die Frage: Was ist Kunst?

Die Kunstkritik hat sich insbesondere im 20. Jahrhundert immer wieder neu mit dieser Frage beschäftigt. Auch die Kunstwerke selber haben unzählige Vorschläge zu ihrer Selbstbestimmung angeregt und gleich wieder verworfen, sie haben sich kritisch hinterfragt bis hin zur Selbstnegation. Das Ergebnis war eine Zerstrittenheit, die in der Überzeugung mündete, dass es offenbar keine Kunstkriterien mehr gebe. Das einzige Kriterium, das sich im Anschluss daran wenigstens teilweise wieder etablieren konnte, war die ästhetische Relevanz, als ihr subjektives Korrelat die ästhetische Erfahrung. Darin liess sich die einzige Bedingung finden, der sämtliche Kunstwerke in der einen oder anderen Form genügen müssen.

Das Problem dabei ist, dass ein verlässliches Kunstkriterium nicht nur nach innen bestimmen muss, also alles erfassen, was faktisch zur Kunst gehört, sondern auch nach aussen abgrenzen und somit nichts zulassen, das faktisch nicht dazugehört. Das Kriterium des ästhetischen Wertes kann dies allerdings nur bedingt, denn selbst wenn nur dasjenige zur Kunst gehören soll, was einem gewissen ästhetischen Wertmassstab entspricht, so muss man sich doch die Frage stellen, weshalb dann nicht jedes ästhetische Arrangement dazugehören soll; das ist ja gerade eines der Grundprobleme der Verschmelzung von Kunst und Leben. Die Vorrangstellung ästhetischen Wertes bleibt zwar kunstimmanent ein verlässliches Kriterium, allerdings nicht mehr, sobald man den Blick über die Grenzen des Kunstsystems hinweg weitet. Das Problem, dem man sofort begegnet, ist dasjenige des Zuviel, denn auch der ästhetischen Relevanz eignet die unangenehme Eigenschaft, dass sie auf mehr zutrifft als das, was rein faktisch als Kunst vorliegt.

Die Antwort darauf ist, dass Kunstwerke nur eine Teilmenge derjenigen Ereignisse in Raum und Zeit sind, die wir ästhetisch erfahren. Man muss deshalb über Eigenschaften nachdenken, die ein ästhetisches Ereignis zusätzlich erfüllen muss, um ein Kunstwerk zu sein. Eine genaue Untersuchung der Bedingungen, welchen Kunstwerke genügen müssen, ist meines Wissens bis heute leider nicht geführt worden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gelangte man angesichts der Vielfalt von Formfindungen viel eher zur Ansicht, dass eine gemeinsame normative Idee der Kunst zu begründen überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit geworden sei, und begnügte sich mit der Behauptung, dass es keine universalen Kunstkriterien mehr gebe, welche die Kunstwerke von der Umwelt im Allgemeinen, wie auch von den ästhetischen Objekten oder Ereignissen im Besonderen unterscheiden könnten.

Ein Hauptproblem war sicherlich, dass man viel zu stark aufgrund materialer Eigenschaften und dem äusseren Erscheinungsbild argumentierte. Das wird beispielsweise an der Kategorie der Zwecklosigkeit deutlich: Weil man einerseits Urinoirs und andere Gebrauchsgegenstände als anerkannte Kunstwerke in die Museen aufzunehmen begann und man andererseits beobachtete, dass Inkunabeln der Moderne wie die Werke von Mondrian plötzlich Haarstylingprodukte von L‘Oréal zierten, begann man an der Zwecklosigkeit zu zweifeln. In Wirklichkeit obsolet geworden war jedoch nicht die Kategorie der Zwecklosigkeit, sondern die Vorstellung, man könne anhand dinglicher oder medialer Eigenschaften entscheiden, ob es sich bei etwas um ein Kunstwerk handle oder nicht.

Das Beispiel ist grundsätzlich richtig, führt aber auf eine falsche Fährte. Die Zwecklosigkeit ist in der Struktur ästhetischer Erfahrung bereits enthalten und somit Teil davon; die Offenheit, die zu dieser speziellen Art der Erfahrung überhaupt erst führt, ist nur durch die Abwesenheit eines bezeichenbaren Zweckes möglich. So gesehen wäre es missverständlich, sie als zusätzliches Kriterium zuzulassen.

Immerhin kann man behaupten, dass etwas, was als Kunstwerk bestehen will, sich vor jeder Zweckmässigkeit einem ästhetischen Wertmassstab stellen muss; auch wenn ein Auto, das als Readymade im Museum steht, durchaus noch (s)einen Zweck erfüllen könnte, so dient es diesem als Kunstwerk nicht mehr.

Jeder eventuelle Zweck ist, gleich wie alle anderen bezeichenbaren Eigenschaften, im Sinne einer Redundanz für ein Kunstwerk von Bedeutung; im erwähnten Beispiel des Automobils wäre dies vielleicht vergleichbar mit der Art der Lackierung. Kunst kann alles sein, also auch jeder Inhalt und jeder Zweck.
Im Sinne eines Kriteriums kann man die Zwecklosigkeit vielleicht als ein Primat der ästhetischen Erfahrung verstehen: Für ein Kunstwerk zählt nur der ästhetische Wert, alles Praktische hat sich diesem im Sinne einer Redundanz unterzuordnen. Alles andere ist und bleibt Design.


Ich denke, da sind wir uns einig. Aber wie sieht es mit weiteren Kriterien aus?

Neben dem Vorrang ästhetischer Erfahrung ist das Kriterium der Neuheit oder Einzigartigkeit sehr interessant. Nehmen wir zum Beispiel eine gute Fälschung der Mona Lisa; sie hat mit Sicherheit dieselbe ästhetische Qualität wie das Original. Sobald man jedoch weiss, dass es sich um eine Kopie handelt und das Werk also nichts Neues ist, wird man es ablehnen, diese Kopie als Kunstwerk anzuerkennen. Eine Ausnahme mag auf den ersten Blick vielleicht das Statement eines konzeptuell vorgehenden Künstlers sein, der mit Zitaten arbeitet; er wird sich allerdings auf die Neuheit des Zitierens berufen müssen, um seine Kopie als Kunstwerk durchzusetzen, respektive auf den Umstand, dass das Zitat als Kunstwerk neu ist. Natürlich ist mit Neuheit oder Einzigartigkeit nicht gemeint, dass Drucke oder Fotografien, die in einer Auflage erscheinen, keine Kunstwerke sein können: Hier gehört zur Einzigartigkeit des Kunstwerks einfach mit dazu, dass es so und so viele Male existiert. Die Kopien freilich, die in der vom Künstler autorisierten Auflage nicht enthalten sind, bleiben blosse Kopien und sind folglich keine Kunstwerke.

Lässt sich Neuheit aber nicht in dem Sinne mit dem vorher erwähnten Vorrang ästhetischen Wertes verbinden, indem man sagt, ein Kunstwerk müsse im Sinne eines ästhetisch erfahrbaren Objektes neu sein?

Nein, denn das gilt für viele andere Objekte auch. Ein Turnschuh beispielsweise kann plötzlich als ästhetisch erfahrbares Objekt wahrgenommen werden, also als solches neu sein, weshalb er aber noch lange kein Kunstwerk ist. Der Alleinanspruch des ästhetischen Wertes lässt sich nicht auf die Unterscheidung alt/neu reduzieren. Bestenfalls könnte man sagen, ein Kunstwerk muss im Sinne eines nur ästhetisch erfahrbaren Objektes neu sein.

Ein weiteres und häufig etwas vernachlässigtes Kriterium ist neben dem Primat ästhetischer Erfahrung und der Neuheit die Autorenschaft...

...wobei damit weder die Selbstverwirklichung eines Menschen in wahrnehmbaren Objekten oder Ereignissen noch die effektive Absicht desjenigen, der ein Kunstwerk schafft, gemeint sein dürfen. Selbstverwirklichung ist zwar insofern beteiligt, als mit jedem Kunstwerk der Welt, wie sie ist, etwas Anderes, so darin noch nicht Vorkommendes entgegensetzt beziehungsweise gegeben wird. Lässt man den schieren Zufall einmal beiseite, so ist es einzig die Kreativität eines Individuums, die Neues schaffen kann; wie anders als durch den individuellen Willen, etwas anders zu machen, könnte dies geschehen? Damit ist die Verwirklichung des Selbst aber im Kriterium der Neuheit bereits enthalten, wohingegen die reine Selbstverwirklichung kein Garant für ein Kunstwerk sein kann: sie ist auch ohne jede Neuheit oder ästhetischen Wert möglich und ist wohl eher ein Kriterium für das persönliche Lebensglück als für die Kunst.

Aber wie ist es mit der Absicht: Man wird sich mit dem Gedanken schwertun, dass Kunstwerke durch völligen Zufall und ohne jede Absicht des Machers entstehen können. Der Gedanke, dass ein Börsenmakler rein zufällig ein Kunstwerk schafft, bereitet doch ebenso Mühe wie Gemälde, die von Elefanten gemalt werden.

Gerade in letzterem Beispiel geschah dies allerdings im Auftrag von Künstlern, und die damit verbundene Provokation war sehr wohl beabsichtigt. Die Autoren der Bilder blieben letztendlich die Künstler Komar & Melamid, welche die Aktion initiierten, gleich wie Warhol Autor der Siebdrucke, die von Mitarbeitern seiner Factory hergestellt wurden, blieb.
Gleichzeitig muss man einräumen, dass sehr vieles von dem, was als Kunstwerk gilt, sich nicht der direkten Absicht dazu verdankt: Man denke nur an all die Beteuerungen der Künstler, es gehe ihnen um die Auseinandersetzung mit einem Thema und nicht um die ästhetische Überzeugungskraft. Wenn die Absicht eine Rolle spielen würde, so könnte dies unter Umständen mit dem Kriterium des Vorrangs der ästhetischen Erfahrung vor jedem weiteren Zweck kollidieren, denn die Auseinandersetzung mit einem Thema bezeichnet durchaus einen Zweck. Wenn die Absicht des Künstlers also ein Kriterium sein soll, dann kann es die Vorrangstellung ästhetischer Erfahrung nicht so ohne weiteres sein. In der Realität kommt es den meisten Künstlern am Ende sehr wohl darauf ankommt, wie sie sich mit dem einen oder anderen Thema auseinandersetzen; und dann kommt doch sehr schnell die Formel, sie möchten dies in der Form von Kunstwerken tun...


Damit wäre die – wenn auch bisweilen uneingestandene – Absicht des Künstlers am Ende stets die Generierung ästhetischen Wertes: Als Grundsatzentscheidung des Künstlers kann man dann bezeichnen, dass die Auseinandersetzung (mit irgendeinem Thema) in Form von ästhetischen Arrangements geschehen soll.

Vielleicht ist es am besten, die Absicht gänzlich freizustellen und einfach am Primat der ästhetischen Rezeption festzuhalten: Die Absicht spielt dann nur als vom Betrachter implizierte Sinnvermutung eine Rolle, also im Prozess der ästhetischen Erfahrung, und nicht als Motivation des Künstlers. Die Absicht des Künstlers ist – gleich wie jeder Zweck und alles Begriffliche – eine mögliche Redundanz innerhalb des Kunstwerkes; damit ist sie beteiligt und unter Umständen wichtig, allerdings auch auswechselbar.
Um aber noch einmal auf die Elefantenbilder von Komar & Melamid zurückzukommen: Die Bilder änderten an dem besagten Sachverhalt natürlich nichts, die dadurch ausgelöste Kontroverse zeigte indessen, wie heikel die Frage nach der Absicht im Grunde ist.


Autorenschaft schrumpft damit zusammen auf den relativ trivialen Umstand, dass Kunstwerke schlicht und einfach etwas vom Menschen Gemachtes sind. Daran ändert wohl auch die Tatsache nichts, dass Kunstwerke im Extremfall Readymades aus natürlichem Material sind, beispielsweise eine Blumenwiese, die man im Museum oder sogar in der freien Natur antrifft: Als Kunstwerk muss auch die Blumenwiese einen Autor haben, selbst wenn dieser – als zusätzliche und wohl letzte Komplikation – anonym bleibt.

Immerhin lassen diese wenigen Kriterien erkennen, wie falsch die Gleichsetzung ästhetischer Objekte mit Kunstwerken, der man im theoretischen Diskurs aber immer wieder begegnet, im Grunde ist: Kunstwerke sind eine Teilmenge aller möglichen ästhetischen Ereignisse in Raum und Zeit, die sich aus dem Primat der ästhetischen Erfahrung sowie der Beschränkung durch Neuheit und Autorenschaft ergibt. Spannend daran ist, wie sehr sich auf dieser Folie das Prädikat 'Kunstwerk' plötzlich einem erheblichen Anteil Wissen ausserhalb der 'nur' subjektiven ästhetischen Erfahrung verdankt; Primat ästhetischen Wertes, Autorenschaft oder Neuheit sind ja durchaus nachprüfbare Dinge!
Die Festlegung dessen, was man kunsthistorisch als verbindlichen Kanon versteht, ergibt sich denn auch nicht einfach aus der Willkür subjektiver oder privilegierter Einzelinteressen, sondern ist ebenso das Ergebnis ästhetisch neutraler Recherchen. In letzter Konsequenz bedeutet dies noch immer, dass die Festlegung dessen, was als Kunstwerk gilt, vorläufig bleibt. Die Vorstellung von Kunst und dem, was dazugehört, ist etwas durchaus Veränderliches. Phänomene, die man heute nicht als Kunstwerke akzeptieren möchte, werden morgen als die grossartigsten gefeiert, während vieles von dem, was heute zum Dernier cri hochgejubelt wird, am Ende im Mülleimer der Geschichte verschwindet. Diese Unabgeschlossenheit ergibt sich nur schon daraus, dass niemand über das totale Wissen verfügen kann, das notwendig wäre, um all die nachprüfbaren Aspekte von Kunst vollständig zu klären; andererseits könnte kein Wissen der Welt abschliessend beantworten, ob ein zur Debatte stehendes Werk nun ästhetisch gelungen sei oder nicht. Die Offenheit des Kanons ist also keinesfalls eine Folge daraus, dass es keine Kunstkriterien mehr gibt, sondern gerade umgekehrt ein formallogischer Schluss aus den Bedingungen, denen ein Kunstwerk genügen muss.






Dieser fiktive Dialog ist der Publikation 'Artificialities – Kleines Helmhaus 2000 – 2002' (Christoph Merian Verlag) entnommen. Da es sich beim Text in der Online-Fassung um ein work in progress handelt, ist ein Meinungsaustausch jederzeit erwünscht.

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