Justin Hoffmann

Sonic Television


Es ist mehr als bezeichnend, dass das Standardwerk der Filmmusik von Roy M. Prendergast den Titel "Film Music - a neglected art" trägt. Wenn aber schon Filmmusik als eine vernachlässigte Kunst gilt, als was kann dann Fernsehmusik angesehen werden? Einen Beleg für die derzeit geringe Einschätzung der TV-Soundtracks liefert auch Knut Hickethiers "Film- und Fernsehanalyse" (3. Auflage, Stuttgart 2001). Diese Pflichtlektüre für Studenten der Medien- und Kommunikationswissenschaft an deutschsprachigen Universitäten, widmet sich nur auf gut vier Seiten der Filmmusik und davon auf ganzen elf Zeilen der Musik im Fernsehen. Wenn also Filmmusik als eine vernachlässigte Kunstform betrachtet wird, dann ist Fernsehmusik eine fast völlig negierte. Sie ist gegenwärtig auf den untersten Plätzen einer Rangliste der musikalischen Kompositionen zu finden. Zusätzlich sitzt sie mit ihren Referenzen sowohl zu klassischer als auch populärer Musik gleichsam zwischen den Stühlen von E und U, falls man heute überhaupt noch in diesen Kategorien denken will. Denn auch von den TheoretikerInnen der Popkultur wird die TV-Musik kaum beachtet. Im Unterschied etwa zu Musikvideoclips und zur Werbung haben sich die Cultural Studies jedenfalls noch nicht eingehender mit diesen Bereich beschäftigt.

Vermutlich im Zuge der Easy Listening-Welle kamen in den letzten Jahren zwar auch einige CDs mit TV-Soundtracks vor allem der 60er und 70er Jahre auf den Markt. Vor allem das Unternehmen "Tee Vee Toons" in New York hat sich mit der Herausgabe von acht Compilations mit ausführlichen Liner Notes Verdienste erworben. Aber auch diese Tonträger wurden in Musikzeitschriften gewöhnlich nicht besprochen. Die Gründe für die Ignoranz liegen mehr oder weniger auf der Hand. Die Fernsehmusik entspricht noch weniger als die Filmmusik der Idee der Autonomie der Kunst. TV-Musik gilt mit ihrer Koppelung an Fernsehsendungen stets als angewandte Kunst. Sie wird als Illustration der handelnden Figuren oder als rhythmische Vorgabe für die rasanten Bildsequenzen des Serienanfangs verstanden. Die Fernsehmusik muß sofort zur Sache kommen und kann es sich nicht leisten, subtil und langsam zu wirken. Sie soll die Gefühle des Fernsehzuschauers augenblicklich ansprechen. Wegen ihres funktionalen und auch eklektizistischen Charakters wird die Fernsehmusik als niedere Kunstform betrachtet und sie besitzt nur geringes kulturelles Kapital. Für jemanden, der sich jedoch für populare Kultur interessiert, stehen jedoch andere Kriterien als der Grad der Autonomie im Vordergrund. Für ihn ist die Frage der sozialen Relevanz entscheidend, oder wie weit diese Musikstücke in unser kultureller (Unter-)Bewußtsein eingedrungen sind und die gesellschaftliche Vorstellung von Musik mitprägen. Daß viele Menschen Fernsehmusik bestens kennen, hängt auch mit der Tatsache zusammen, daß sie den Bedürfnissen gerade jener Bevölkerungsgruppen entgegenkommt, die nicht den bürgerlichen Musikgeschmack repräsentieren? Sie fungieren als musikalische Kicks, die die Zuseher auf angenehme Weise stimulieren.

Die Tonträger mit Fernsehmusik tragen häufig kuriose Titel wie "Tee-Vee Tops", "Echt kultig – die TV Hits", "The Cult Files. As Seen On TV", oder einfach "Television`s Greatest Hits", wobei bis auf sehr wenige Ausnahmen keiner dieser Stücke jemals wirklich in die Hitparade gelangte. Ausnahmen dürften die Soundtracks zu "Mission Impossible" (in Deutschland ausgestrahlt als "Kobra, übernehmen Sie!") von Lalo Schifrin und "Raumpatrouille", der ersten Science Fiction-Serie im deutschen Fernsehen, von Peter Thomas sein. Der Großteil der TV-Soundtracks sind Hits höchstens in dem Sinne, daß viele Leute diese Stücke kennen. Wobei sich die Beliebtheit der jeweiligen Fernsehsendung auch auf die Popularität des Soundtracks überträgt. Denn indem man eine Fernsehserie liebt, liebt man fast automatisch auch ihre Musik. Überhaupt wenn von TV-Hits gesprochen wird, dann ist meist nur ein bestimmter Teil der Musik im Fernsehen gemeint: in der Regel die Anfangsmusik einer Fernsehserie, in seltenen Fällen die Musik zu Werbeclips. Die Fernsehmusik bildet ein wesentliches Element des Vorspanns. Von der Medienwissenschaft wird der Vorspann, der den Titel der Serie und ihre Hauptakteure vorstellt, als eine Form von Programmverbindung im Fernsehen betrachtet und analysiert. Mit ihren schnellen Schnittfolgen und hastigen Verknüpfungen werden gerade Programmverbindungen für den Eindruck der Beschleunigung im Fernsehen verantwortlich gemacht. Knut Hickethier und Joan Bleicher sprechen in ihrem Reader "Trailer, Teaser, Appetizer. Zu Ästhetik und Design der Programmverbindungen im Fernsehen" hier von einer Ästhetik des Übergangs, die signifikant für die Fernsehästhetik allgemein sei. Die Titelmusik der Serien bildet somit ein wesentliches Element dieser transgressiven Ästhetik.

In der Werbung für die Tonträger wird die Fernsehmusik häufig mit Attributen wie "kultig" oder "classic" versehen. Den Kultstatus, den bestimmte TV-Soundtracks erlangt haben, teilen diese mit anderen Werken der Popkultur wie B-Movies, 3D-Postkarten oder frühen Telespielen. Wenn man von der heute bisweilen praktizierten Titulierung als "kultig" schon bei der Veröffentlichung – was lächerlich ist - einmal absieht, deuten diese Attribute ein für die Popkultur langes Haltbarkeitsdatum an. Es sind kulturelle Produkte, die über Jahrzehnte hinweg nicht in Vergessenheit geraten sind und noch heute ihre Fans besitzen. So sind es häufig nostalgische Gründe, warum CDs mit Fernsehmusik aus den 60er und 70er Jahren ihre Käufer finden.

Die Popularität und das Erkennen von Fernsehmusik generiert in enger Verbindung mit dem Visuellen. Wenn die Musik von Fernsehserien ertönt, sehen wir bereits die dazugehörigen Bilder, auch wenn wir noch gar nicht auf den Monitor blicken. Die Musik ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität einer Serie. Ertönt zu Beginn ihre Musik, wirkt sie wie ein Signal, wie eine Aufforderung, näher an das Fernsehgerät zu rücken. Mit diesen Klängen werden Emotionen evoziert, welche die Zuseher in eine bestimmte Atmosphäre versetzen. Bevor die eigentliche Handlung beginnt, lernen sie somit die Grundstimmung kennen, in der sie abläuft. Der hohe Bekanntheitsgrad dieser Musik entsteht zudem durch die Regelmäßigkeit der Präsentation. Durch den seriellen Charakter dieser Musik lassen sich auch entscheidende Unterschiede zur Filmmusik feststellen. Letztere hört man meist nur einmal, gewöhnlich während des oftmals einzigen Kinobesuchs des Films. Die Musik der meisten Fernsehserien hört man normalerweise täglich oder wöchentlich. So ist der Identifizierungsgrad der Musik mit bestimmten Bildern und Szenarios ein weitaus höherer als beim Film. Andererseits haben Soundtracks der Filme "Titanic" (1997, Interpretin: Céline Dion) oder "Romeo Must Die" (2000, Interpretin: Aaliyah) in den letzten Jahren gezeigt, daß Filmmusiksongs leichter in der Hitparade landen können als TV-Songs.

Die Unterschiede zwischen Fernseh- und Filmmusik korrespondieren mit den Differenzen von Film und TV überhaupt. Ein zentraler Aspekt ist dabei das unterschiedliche Verständnis von Zeit. Dieses spielt bereits in der Entstehung der Musik eine Rolle. In der Regel erhalten Komponisten für die Produktion von Filmmusik mehr Zeit (und auch Honorar) als von TV-Musik. Aber auch die Verkürzung des Handlungsgeschehens im Fernsehen, z.B. durch schnelleren Schnitt, findet in der akustischen Ebene seinen Niederschlag. Die Komposition wird auf einen kurzen Zeitraum verdichtet. Sie wird auf das Essentielle reduziert. TV-Soundtracks erscheinen deswegen häufig als komprimierte Fassungen von Filmmusik. Besonders das Privatfernsehen verlangt eine schnelle Abfolge starker Reize und innovativer Elemente. In den TV-Soundtracks drückt sich diese Tendenz in der Verwendung prägnanter Motive, von Melodien und Klängen, die leicht ins Ohr gehen, aus. Diese Konzentration auf Emotionen stimulierende Notenfolgen und Klänge, sowie auf eingängige, leicht wiedererkennbare Melodien kommt der vergleichsweise flüchtigen Wahrnehmung beim Fernsehen entgegen. Der Spielfilm zieht allein durch ihre Rezeptionssituation, die besondere architektonisch-strukturelle Disposition des Kinos, das Publikum stärker in ihren Bann. Dagegen wird die Aufnahmebereitschaft der Fernsehzuschauer oftmals von häuslichen Dingen, z.B. Konversation mit Familienmitgliedern, Abendessen oder Hausarbeit, abgelenkt. Um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erlangen, sind entsprechend starke musikalische Akzente notwendig.

In der Art der Verkürzung und Verdichtung kann die Fernsehmusik mit der Methode des Sampling in der elektronischen Musik in Beziehung gesetzt werden. Denn Samples sind besonders wirkungsvolle und aussagekräftige Partikel, die losgelöst vom ursprünglichen musikalischen Kontext einsetzbar sind. Als ausdrucksstarke, kleine musikalische Einheit steht der TV-Soundtrack dem Sample somit nahe. Beide sind auf ein Mindestmaß reduziert. Außerdem liegt dem TV-Soundtrack und dem Sampling das gleiche Recycling-Prinzip zugrunde. Man bedient sich gleichermaßen ungeniert der verschiedenen Stile und ethnischen Traditionen. Fernsehmusik ist vielfältig. Sie kann sowohl an klassische Musik, an Jazz oder Popmusik erinnern. An klassische Hollywood-Ouverturen lassen die meisten Soundtracks US-amerikanischer Science Fiction- und Mystery-Serien wie Star Trek (Raumschiff Enterprise) oder X-Files (Akte X) denken, die also gar nicht so futuristisch orientiert sind, wie man es von diesen Genres erwarten würde. Der Jazzmusik am nächsten kommen Krimiserien unterschiedlichster Prägung. Quincy Jones, der auch für Filme von Sidney Pollack und Sidney Lumet arbeitete, komponierte z.B. den Soundtrack von "A Man Called Ironside", einer beliebten Dedektivserie der Jahre 1967-75. Ein anderes Thema mit Jazzcharakter, "Kojak" (gespielt von Telly Savalas) schrieb für die ersten Folgen der Komponist Billy Goldenberg, der auch für die Titelmusik von "Columbo" und "Golden Girls" verantwortlich ist. Jazz-Liebhaber Bill Cosby engagierte Jazz-Sänger Bobby McFerrin, der mit "Don´t Worry, Be Happy" auch kommerziellen Erfolg hatte, für den Titelsong seiner Sitcom "The Cosby Show" (1984-1992), in der Musiker wie B.B. King, Sammy Davis Jr., Nancy Wilson, Stevie Wonder und Joe Williams Gastauftritte erhielten. Natürlich ist die Wahl der Musik eng mit dem Inhalt der Serie verbunden. So erinnert die Musik von "Bonanza", wie es nicht anders sein kann, an Country & Western-Musik. Sie wurde übrigens von dem Songwriter-Erfolgsduo Jay Livingston und Ray Evans verfaßt, das auch die Soundtracks für das sprechende Pferd "Mr. Ed", "The Doris Day Show" (Que Sera, Sera) und andere Fernsehsendungen schrieb. Viele gegenwärtige TV-Soundtracks sind durch Bezüge zur Popmusik geprägt, wobei zwischen Instrumentals und Songs unterschieden werden kann. Titelsongs werden vor allem dann verwendet, wenn speziell ein junges Publikum angesprochen werden soll. Eine bei Jugendlichen weltweit beliebte Serie ist "Der Prinz von Bel-Air", die in den Jahren 1990-96 in den USA produziert wurde. Der Star der Serie, der junge Will Smith, sang zusammen mit seinem damaligen HipHop-Partner Jeff Townes das Titelstück gleich selbst. Zu jener Zeit war das Duo als DJ Jazzy Jeff & The Fresh Prince bekannt und brachte mehrere Stücke in die Top 100. Die Verwendung von Popmusik für den Serienvorspann hat zu einem besonderen Phänomen, den "sound-a-likes", geführt. Da die Stars der Popmusik für die Produktion von Fernsehmusik in der Regel zu teuer sind, werden statt dessen Komponisten, Musiker und Sänger engagiert, die ein den Popmusikhits ähnliches Resultat herstellen können. Diese Praxis des "Fast-Kopierens" hat allerdings nicht selten ein juristisches Nachspiel. Und Serien, die auf mehrere Jahre Sendezeit geplant sind, verzichten oft auf die Verwendung von Popmusik, da die Produzenten von einem zu schnellen Wechsel von Geschmack und Moden ausgehen.

Die beschriebene Nähe der Fernsehmusik zur Methode des Sampling könnte gerade für ProduzentInnen elektronischer Musik eine Herausforderung sein, sich näher mit TV-Soundtracks, und ihren ausdrucksstarken, komprimierten Tonfolgen auseinanderzusetzen. Im Unterschied zu anderen musikalischen Quellen wurden TV-Sounds jedoch von den ProduzentInnen digitaler Musik bis jetzt kaum verwendet. So bleibt es abzuwarten, ob die Integration von Elementen bekannter Fernsehmusikstücke das sonische Spektrum der elektronischen Musik wirklich erweitern kann und zu interessanten Ergebnissen führt.

Justin Hoffmann