Justin Hoffmann

Machtverhältnisse im Kunstsystem


In der Kunst sind Herrschaftsverhältnisse weniger sichtbar als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ihre Machtverteilung scheint diffus. Trotzdem prägen hierarchische Ordnungen das Kunstsystem und bestimmen ihre Dynamik. Im Vergleich z.B. zur Popmusik, wo vier internationale Konzerne mehr als drei Viertel des Markts beherrschen, fehlt hier die klare ökonomische Struktur. Im Bereich der Kunst gibt es keine eindeutigen Besitzverhältnisse. Die extreme Machtdiversifizierung im Kunstsystem hängt womöglich auch damit zusammen, daß die Kunst niemals den Status einer industriellen Warenproduktion, wie sie von verschiedenen Seiten immer wieder angestrebt wurde, erreichte. Der Vortrag erhebt nicht den Anspruch, die Machtverhältnisse umfassend zu erschließen, sondern versucht Ansätze der Forschung zu nennen, Tendenzen aufzuzeigen und Strukturen zu interpretieren.

Die Macht im Kunstsystem hat eine materielle (Produktionskosten, Sponsoring, Verkauf etc.) und eine symbolische Seite? Ich möchte mich in meinen Überlegungen stärker der symbolische Ebene zuwenden, da der mediale Charakter der künstlerischen Arbeiten ihr ein besonderes Gewicht verleiht. Sind es doch auch kommunikative Prozesse, die den Wert der Kunst festlegen, ihre gesellschaftliche Bedeutung und Funktion, ja selbst, was als Kunst anerkannt wird oder nicht, konstituieren. Dabei wird der Diskurs heute als Folge der Ausdifferenzierung des Kunstsystems weitgehend von Nicht-KünstlerInnen bestimmt. Für den Soziologen Pierre Bourdieu ist das Feld der Kunst ein Kampfplatz um die Vorherrschaft von Vorstellungen und Wertungen. In ihm spiegelt sich das gesellschaftliche System im Kleinen wieder. Es gibt in diesem System welche, die sich stärker mit den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, und welche, die sich mit den nahezu Ohnmächtigen verbunden fühlen und mit ihnen kooperien wollen? Die Identifikation mit den jeweiligen sozialen Gruppen geht bisweilen soweit, daß sich KünstlerInnen selbst als ArbeiterInnen oder UnternehmerInnen begreifen, obwohl sie natürlich weiterhin dem Bereich der KünstlerInnen und Intellektuellen angehören, den Bourdieu auch als den der machtlosen Mächtigen bezeichnet. Machtlos mächtig, weil sie keine wirkliche Macht innehaben, jedoch das Privileg der Artikulation besitzen, und mit Hilfe der verschiedenen Medien gesellschaftlichen Veränderungen vorantreiben können.

Die slowenische Soziologin und Philosophin Renata Salecl behauptet zwar, daß die Menschen in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr die Macht der Institutionen und damit kein großes Andere anerkennen. Enttäuscht und verärgert über die Impotenz der Autorität nützen sie die Möglichkeiten der Selbst-Schöpfung, die sich vermehrenden Formen des Spiels mit der Identität. Das mag partiell wohl stimmen und hat vielfach zu einem veränderten Machtgebaren, zu einem selbstironischen Umgang mit Machtpositionen geführt. Trotzdem, der hierarchische Aufbau der Gesellschaft ist nicht gänzlich, nicht grundlegend beseitigt, und auch nicht seine im Kern partriarchal und rassistisch geprägte Struktur. Ein häufig anzutreffender Zynismus scheint diese nur zu vertuschen.

Grundsätzlich möchte ich die TrägerInnen der Macht in Institutionen und Personen, die ich ihrer Wirkung nach Opinion leader nenne, unterteilen. Wichtige Institutionen im Kunstsystem sind Sammlungen, Museen, Galerien, Art Consulting Firmen, Zeitschriften, Auktionshäuser usw. In den letzten Jahren fanden hier Veränderungen in einem größeren Ausmaß statt, die auch zu Verschiebungen der Machtverhältnisse führten. Opinion leader sind durch das Besetzen mehrerer wichtiger Posten und umfassende transnationalen Kontakte gekennzeichnet. Ihre Macht ist die Macht der Definition, der Verbreitung von Meinungen.


1. Der Wissen-Macht-Komplex

In einem Gespräch zwischen dem Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen und dem Kölner Künstler Michael Krebber bekennt letzterer, daß für ihn Kunst erst zur Kunst wird, wenn sie in einer Zeitschrift publiziert wird. Er steht mit dieser Meinung sicherlich nicht allein.
(K: Es gibt ja von Dan Graham diesen Aufsatz "Meine Arbeit für Zeitschriften", in dem er sagt, daß sich die Kunst erst bemerkbar macht, indem sie in der Zeitschrift erscheint, ja überhaupt erst Kunst wird - na, ich weiß nicht, ob er das wirklich sagt.
D: Würdest du soweit gehen?
K: Ja, ich schon.
D: Kunst wird erst zur Kunst in der Zeitschrift?
K: Da sie in der Zeitschrift landet: Ja!
aus: Mein Material ist der Papagei. Ein Gespräch mit Michael Krebber, in: Jahresring. Jahrbuch für moderne Kunst 37, München 1990)

Doch machen Kunstmagazine wirklich die Kunst erst zu einem sozialen Faktor und damit überhaupt erst zur Kunst? Ich denke, es wäre eine Überschätzung der Printmedien, die Abbildungen von und die Texte zu künstlerischen Arbeiten als ihren Initiationritus für die Art World zu begreifen. Doch die Funktion der Wertsteigerung von Kunst, weniger materiell als ideell gesehen, besitzen sie sicher. Dabei spielt der Faktor Labeling eine wesentliche Rolle, d.h. wenn sich der Ruf eines bekannten Kritikers auf die künstlerischen Arbeiten überträgt. Auch der Imagetransfer in die andere Richtung wird praktiziert, das gezielte Schreiben über prominente KünstlerInnen. Dieses Phänomen gilt nicht nur für Zeitschriften, sondern auch für wissenschaftliche Veröffentlichungen. Gerade bei KunstgeschichtsstudentInnen ist die Hoffnung weit verbreitet, mit einer Disseration über eine/n populären zeitgenössischen KünstlerIn seine/ihre Aufstiegschancen zu erhöhen. Eine neue wichtige Tendenz der Kunstmagazine ist die auffällige Verschiebung vom Review zum Preview (s. artforum). Mehr und Mehr werden nur mehr Vorberichte über Ausstellungen und Veranstaltungen geschrieben. Der Anteil der analysierenden Kritiken geht zurück. Previews über Ausstellungen können von den Redaktionen mit den Anzeigen der Galerien und Kunsthallen besser in Einklang gebracht werden. Kritische Töne oder negative Aussagen können damit fast vollkommen vermieden werden. Diese Entwicklung weist daraufhin, daß die finanzkräftigen Anzeigenkunden - Galerien, Museen, private Kunsthallen - in den Printmedien an Einfluß gewinnen.

Die Zeitschriften bauen auf den Zusammenhang von Macht und Wissen. Die Kunstzeitschriften und die Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen suggerien ihren LeserInnen, die für sie notwendigen Informationen zu liefern. Eine asketisch aufgemachte Zeitschrift wie der "Informationsdienst Kunst" will beispielsweise gegenüber Professionellen des Kunstbetriebs den Eindruck erwecken, daß, wer ihn nicht liest, im alltäglichen Konkurrenzkampf sofort ins Hintertreffen gerät? Einige Zeitschriften werben mit einer umfassenden, nahezu enzyklopädischen Auskunft wie das Kunstforum, andere mit einem Wissen der Hipness wie die Springerin oder Texte zur Kunst? Manche bedienen spezielle, kleinere Gruppen wie "Starship". Auch die neuen Formen der Telekommunikation bieten neue Möglichkeiten, sich umfangreiches Wissen anzueignen. Eine unzählige Anzahl von Texten relevanter AutorInnen aus dem Kulturbetrieb können bereits heute kostenlos auf den privaten PC geladen werden. Deswegen spekulieren nicht wenige damit, daß die elektronischen Netze in naher Zukunft zu Informationsvorsprüngen und damit zu Machtgewinn führen werden? Schon heute gilt, daß der einen wichtigen Vorteil hat, wer ausgezeichnete Kenntnisse über die interessantesten links besitzt? Konträr dazu wächst das Bedürfnis nach direktem Erleben. So mehren sich die Einladungen zu Kunst-Bars oder Kunst-Parties, auf denen sich die Leute lockerer und berauschter unterhalten als auf den gewöhnlichen Eröffnungen. Gut Tanzen als sozialer Kapitalgewinn. Selbst diejenigen, die bevorzugt digital miteinander kommunizieren, die Computerfreaks, scheinen sich immer mehr auf irgendwelchen Kongressen persönlich treffen zu wollen. Im Ausstellungskontext sind es heute die Vorbesichtigungen für die Elite und Betuchten, aber auch die normalen Vernissagen, die bevorzugt zum Wissenaustausch unter den Personen des Kunstsystems genützt werden. Andere schwören immer noch auf die großen Kunstmessen vor allem in Basel, Berlin und Köln.

Apropo Städte, wer sind die Global Cities der Kunst? Hat sich Ihre Rangfolge in den letzten Jahren verändert? Frankfurt war in Deutschland auf jeden Fall der Chartbreaker der 80er Jahre. Als Metropole der Banken schienen genügend finanzielle Mittel vorhanden zu sein, dieser Stadt einen glänzenden kulturellen Anstrich zu verpassen. Das mißlang gründlich. Kultur läßt sich nicht einfach von oben aufpfropfen. Inzwischen klagen alle führenden Köpfe des Kulturbetriebs über den notorischen Haushaltsmangel der öffentlichen Hand und die geringer gewordene Unterstützung von privater Seite. Die erst vor ein paar Jahren initiierte Messe verliert zunehmend an Bedeutung. Die meisten, oft neu hinzugezogenen Galerien haben das sinkende Schiff bereits wieder verlassen oder wurden frühzeitig geschlossen. Das einzig wirklich Vitale, was Frankfurt heute in kultureller Hinsicht zu bieten hat, ist die Technoszene.

Der Aufsteiger der letzten Jahre war sicherlich London. Als Zeichen dafür kann gelten, daß sich StudentInnen deutscher Kunstakademien für Stipendien nun bevorzugt für diese Stadt und nicht mehr für New York bewerben. Der Hype der Young British Art hat im Ausland gerade erst ihren Höhepunkt erlebt.

In Österreich bemängeln nicht wenige das kulturelle Gefälle zwischen Wien und den Hauptstädten der Länder. Nun wird mit kulturpolitischen Aktivitäten versucht, den Abstand zu verkleinern. Eine Umgewichtung ist im Gange. Die basistage gehören zu diesen Bemühungen. Noch ist nicht abzusehen, ob dieses Vorhaben glückt, und Wien an hegemonialer Macht verliert.

Die Geographie spielt auch für den Transfer von Wissen eine zentrale Rolle. Wähernd der Theorie-Input in den 80er Jahren vor allem aus Frankreich kam, fließen die meisten Kulturinformationen gegenwärtig aus den angloamerikanischen Ländern. Nicht nur die akademischen Fächer Cultural Studies, sondern auch Urban, Postcolonial, Media und Gender Studies werden mit TheoretikerInnen vor allem aus den USA und Großbritannien, aber auch Australien verbunden. Sind diese Gebiete doch fester Bestandteil der dortigen Hochschulsysteme, während sie in den deutschsprachigen Ländern nur am Rande gelehrt werden. Die Forschungsergebnisse sind entsprechend spärlich, und das Niveau dieser Studien läßt bisweilen zu wünschen übrig.


2. Der Geld-Macht-Komplex

Wenn von Kunst und Markt die Rede ist, kommt man schnell auf den Kunsthandel. Hier gibt es einige wichtige Entwicklungen zu beobachten. Einen wichtigen Anteil daran hat der Aufschwung der großen Art Consulting Firmen wie z.B. Achenbach, die Unternehmen und Banken gleichsam vollständig mit Kunstwerken ausstatten und für die weniger bedeutenden Filialen im qcm-Preis jährlich Arbeiten von AkademiestudentInnen aufkaufen. Firmen dieser Art lassen Galerien mitunter als Tante Emma-Läden, als Überbleibsel einer vergangenen Epoche erscheinen. Wie reagieren nun die Galerien auf diese übermächtige Konkurrenz. Sie versuchen selbst einige Funktionen des Art Consulting zu übernehmen. In München haben sich Galerien mit Hilfe des Computers zum sogenannten Art Pool zusammengeschlossen, um so ihr Programm gemeinschaftlich, d.h. nicht nur die Werke von 20 sondern von 200 KünstlerInnen, anbieten zu können.

Eine andere Form des Machtzuwachs entsteht wie in der Wirtschaft üblich durch Fusion. Hauser & Wirth in Zürich sind ein gutes Beispiel für diese Konzentrationsbewegung. Nach der von der Wirtschaftszeitschrift Bilanz veröffentlichten Hitliste der Schweizer KünstlerInnen befanden sich fünf KünstlerInnen dieser Galerie unter den ersten zehn Spitzenplätzen, darunter die Nr. 1 Fischli/Weiss und Nr. 2 Pippilotti Rist. Iwan Wirth gründete seine erste Galerie mit 16 Jahren als Gymnasiast. Inzwischen hat er eine Niederlassung in New York und ist Sammler im grossen Stil. Seit mehreren Jahren arbeitet er in Zürich mit Ursula Hauser als Partnerin zusammen. Sie ist Teilhaberin der Elektrogerätefirma Fust. Die Sammlung beider ist so gewachsen, dass sie ein eigenes, öffentlich zugängliches Sammlungsgebäude in St. Gallen ins Leben riefen. In Jahr 1998 kam es zu einer weiteren Fusion. Die ehemalige Leiterin der Zürcher Galerie Walcheturm, die österreicherin Eva Pressenhuber holten Hauser & Wirth als zusätzliche Galeristin ins Haus. Ihr Kapital waren die KünstlerInnen, die sie in ihrer früheren Galerie vertreten hatte und die mit ihr auch in Zukunft zusammenarbeiten wollten, darunter so nahmhafte wie Fischli/Weiss, Franz West, Ugo Rondinone und Douglas Gordon. Dieser Zusammenschluss bedeutete eine Fusion von kaufmännischen Qualitäten und inhaltlicher Kompetenz.

Im künstlerischen Feld scheinen die ansonsten herrschenden ökonomischen Gesetze nicht zu gelten. Historisch betrachtet bildete sich das intellektuelle und künstlerische Feld seit dem 19. Jh. gegen das Gesetz des ökonomischen Profits heraus. Seitdem beruht Macht in ihm nicht vorrangig auf finanziellen oder materiellen Faktoren. Bis heute bildet dieser Bereich eine Ausnahme. Denn steht das Profitstreben in der Kunst zu sehr im Vordergrund, geht das Renomme verloren. Dabei erscheint es für junge KünstlerInnen fast als ein ungeschriebenes Gesetz, die Herrschenden des Kunstsystems als korrupt abzuwerten, denn sie hätten sich zu sehr auf das Spiel von Ehre, Macht und Geld eingelassen - eine Anschuldigung, die häufig auch seine Berechtigung hat. Der kommerzielle Erfolg ist in der gesamten kapitalistischen Welt gewöhnlich mit großem Ansehen verbunden. Im Kunstsystem kommt es geradezu einer Diffamierung gleich, KünstlerInnen oder GaleristInnen als "kommerziell" zu bezeichnen. Es scheint gefährlich zu sein, schnell viel zu verkaufen. Bourdieu spricht deshalb von der Verkehrten Welt der Kunst. Hier wird zwischen Reinem, z.B. dem sauber verdientem Geld, korrektem Verhalten, und Unreinem, z.B. dem Einlassen auf die Unterstützung durch fragwürdige Unternehmen oder PolitikerInnen, unterschieden.

Bourdieus These der verkehrten ökonomischen Welt der Kunst kann mit Diederich Diederichsens Konzeption der Konvertierung von subkulturellem in kulturelles Kapital kombiniert werden. Diederichsen geht davon aus, daß eine Selbstverwirklichungsphase, die mit einer Vielzahl von Entbehrungen verbunden ist, zu einer künftigen Honorierung führen kann. Nach Jahren der Armut und des Geheimtipstatus kann ein/e KünstlerIn gerade wegen des Durchhaltevermögens, der Unbeirrbarkeit und der Credibility mit Titeln und Preisen überhäuft werden. Nach einer Aufschubphase erhalten diese scheinbar doch noch den gerechten Lohn. Natürlich gilt das nicht für jeden.


3. Macht und Institutionen

Die einzelnen Elemente des Kunstsystems sind nicht gleichwertig. Ihre Verhaltensweisen zueinander werden, wie ich ansatzweise schon ausführte, weitgehend durch Machtverhältnisse bestimmt. Nun möchte ich diese Aussage durch einige grundlegende Anmerkungen zum Thema Macht ergänzen.

Neben Hannah Arendt war es in der Philosophie vor allem Michel Foucault, der sich mit dem Phänomen der Macht ausführlich beschäftigte. Seine Theorie der Macht stellt frühere Vorstellungen von der Konfrontation der Ohnmächtigen mit den Mächtigen in Frage und zeigt auf wie jede/r einzelne von Macht durchdrungen ist und sie reproduziert. Das betrifft auch jene, die sich im Kunstsystem als machtlos fühlen, aber häufig unbemerkt in Verhalten und Denken die existierende Machtstruktur stärken. Mit dieser Konzeption gelingt es Foucault, selbst Begriffe wie Wahrheit oder Qualität in Frage zu stellen und als Ergebnis von Machtausübung vorzuführen, denn wer sagen kann, was wahr oder gut ist, der hat Macht. Die Qualitätskriterien in der Kunst werden von jenen aufgestellt, die Macht besitzen und sie damit für einen längeren Zeitraum erhalten wollen. Schulen dienen zur Kanonisierung von Wissen. Akademien und Hochschulen sind Orte, die sich ausgezeichnet zur Bewahrung von Vorstellungen über Kultur und Bildung eignen. Sie sorgen somit für eine Orthodoxie der künstlerischen Werte. Ausgehend von diesen Vorstellungen beschreibt Michel Foucault historische Prozesse der Normierung und Disziplinierung, die sich genauso wie die Repräsentation von Macht im Laufe der Zeit wesentlich veränderten. So hat sich die Bedeutung der Visualisierung umgekehrt: während frühere Herrscher das Zentrum des Blicks der Untergebenen waren, sind die heute Mächtigen unsichtbar und beobachten u.a. mit elektronischen Medien oder Datenerhebungen die von ihnen Beherrschten. Was sind demnach die unsichtbaren Machtzentren der Kunst? Sind die Mächtigen ambitionierte Bürokraten, die in den Kulturbehörden nach ihren Interessen über große Mengen öffentlicher Gelder bestimmen? Oder sind es die häufig ungenannten Juroren, die Preise und Stipendien vergeben und somit über die Existenzbedingungen von KünstlerInnen entscheiden? Vielleicht sind es aber auch die Sammler, die anonym bleiben wollen, oder die Geldgeber, die nicht in den Presseinfos auftauchen dürfen?

Für die Normierung und Disziplinierung ist die Institution von großer Relevanz. Eine Institution ist nach Foucault geballte Macht, in ihr hat sie sich als Bastion verfestigt. Institutionen haben nicht nur eine Geschichte und eine Funktion, sie besitzen auch eine Architektur, eine Topographie, eine Satzung und einen inneren Aufbau.

In "Mikrophysik der Macht" äußert sich Michel Foucault zum Verhältnis von Macht und System: "Man gibt leicht dem sozialen Feld eine gewisse Undurchsichtigkeit, wenn man dort auf nichts anderes zielt als auf die Produktion und das Begehren oder auf die Ökonomie und das Unbewußte. Tatsächlich aber gibt es eine ganz transparente Zwischenschicht zu analysieren, die sich enthüllt, untersucht man die Strategien der Macht, in denen die Soziologen nur das stumpfe System oder das Unbewußte der Regeln, die Epistemologen nur schlecht kontrollierte ideologische Wirkungen erblicken. Da genau kann man die perfekt geführten und kalkulierten Strategien der Macht sehen."

Rassismus und Seximus können als Strategien zur Erhaltung von Macht interpretiert werden. Sie spielen auch im Kunstsystem eine Rolle. Wenn man einer Umfrage von Karlheinz Schmids "Kunstzeitung", wer die Mächtigsten im Kunstbetrieb seien, glauben darf, ist er noch fest in Männerhänden, dies, obgleich die Jury, welche die Personen auswählte, geschlechtlich paritätisch besetzt war. Erst in den letzten Jahren wurde damit begonnen, verstärkt Formen von institutionellem Rassimus und von impliziten und expliziten rassistischen Darstellungen in den Medien zu untersuchen. Laura Cottingham, bell hooks u.a. äußerten sich zu frauenfeindlicher Gewalt in und außerhalb des Kunstbetriebs. Aber auch in Architekturen und urbanen Strukturen, in ihren Formen des Ein- und Ausschlusses, werden alltäglich Machtverhältnisse sichtbar. Das gilt gerade auch für Museums- und Sammlungsbauten.

Nach der Hegemonietheorie von Antonio Gramsci beruht Herrschaft auf labilen Bündnissen, die mehrheitlich Anerkennung finden. Ihr gegenüber stehen antihegimoniale Kräfte, die sich gewöhnlich uneinheitlich verhalten. Dabei ist oppositionelle Kultur immer als ein integraler Bestandteil der Gesamtkultur einer Gesellschaft zu denken, was nicht bedeutet, daß sie ohne Wirkung bleiben muß und nichts verändern kann. Unter dem Begriff der antihegemonialen Kräfte, die eine Art Gegenmacht im Kunstsystem bilden, können all jene Bestrebungen wie Subversion, Gegenöffentlichkeit, Affirmationskritik oder Alternativkultur zusammengefaßt werden, die als oppositionelle Bewegungen gegen die im System Herrschenden operieren.


4. Opinion leader oder die Personalisierung von Macht

Massenkommunikation trifft nicht auf atomisierte Individuen. Denn die Individuen gehören in der Regel gesellschaftlichen Gruppen an, in denen bestimmte Meinungen herrschen. Ihre Mitglieder orientieren sich an sozialen Gruppennormen, um sich mit der Gruppe identifizieren zu können. Argumente und Ideen kommen deswegen meist nicht direkt bei den Menschen an. Man spricht so von einem Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation. Opinion leader unterbrechen diesen Fluß. Diejenigen nicht an den Austauschprozessen einer Gruppe teilnehmen, lassen sich leichter direkt von den Massenmedien beeinflußen.

Meinungsführer oder Opinion leader (Paul Lazarsfeld, Radioforschung, 1944) sind tonangebende Individuen, die die Meinungen sozialer Gruppen steuern. Sie nehmen besonders großen Einfluß an der Schnittstelle von Massen- und interpersonaler Kommunikation. Sie besetzen strategische Positionen und Rollen innerhalb des Kommunikationsprozesses. Sie verteilen den Fluß der Kommunikation, indem sie Medieninhalte filtern und die Weitergabe an weniger starke Mitglieder der sozialen Gruppe organisieren.

Im Bereich der Kunst vertreten die Opinion leader ebenfalls Gruppeninteressen, die Gruppen, die um die Macht in Kunstsystem kämpfen. Sie repräsentieren deshalb in gewisser Weise die Debatten um eine vorherrschende Meinung, um ein dominierendes Wertesystem. Da die Qualitätszuweisung im System der Kunst auf besonders vagen Annahmen beruht, auf besonders wackeligem Boden steht, wird der Meinungskampf im Diskurs umso bedeutsamer.

Opinion leader geben Meinungen weiter (als Verteiler) oder machen selbst Meinung. Sie besetzten ein Positionen, die es ihnen ermöglicht, die Empfänger ihrer Aussagen zu beeinflußen. Die Opinion leader vertreten nicht die öffentliche Meinung, sondern die Meinung einer Elite. "Nicht immer setzt sich die Elitemeinung durch, nicht immer wieder die veröffentlichte Meinung zur öffentlichen Meinung; aber ohne das Wortführertum der Elitemeinung setzt sich eine neue öffentliche Meinung auch nicht durch."

Wenn die Rolle von Opion leadern untersucht wird, tauchen immer ähnliche Fragen auf: Welche Position nehmen Opinion leader ein? Welche Interessen, welche Interessensgruppen vertreten sie? Für wen sind sie das Sprachrohr (oben)? Für wen filtern sie Meinungen (unten)? Wie verlaufen die Anerkennenungsprozesse, d.h. wie sehen ihre Biographien aus, z.B. wie kamen sie zu der jeweiligen Stellung? Wer oder welche Gruppen stützten und förderten sie? Welche Kunst präferierten sie? Welche Künstlernamen pushten sie? Welche Aufgabe weisen sie der Kunst in unserer Gesellschaft zu?

Zur Verdeutlichung des Begriffs des Opion leaders möchte ich zwei Personen anführen: Hans-Ulrich Obrist und Boris Groys

Hans-Ulrich Obrist mag als ein gutes Beispiel dafür gelten, wie Macht weitergegeben, gleichsam vererbt werden kann. Als Obrist nur wenig über 20 Jahre alt war, nahm ihn der prominente Ausstellungsmacher und Rektor der Städelhochschule in Frankfurt am Main, Kasper König, unter seine Fittiche. Er machte ihn 1993 zum Kompagnon für so populäre Ausstellungsunternehmungen wie "Der Zerbrochene Spiegel" in der Kunsthalle Wien und den Deichtorhallen Hamburg, sowie "Paris Hamburg Frankfurt" im Hamburger Kunstverein. (Zuvor war er in einer größeren Kunstinstitution nur im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris tätig.) Die Zusammenarbeit mit König führte ihn in kürzester Zeit in die High Society der Kunst ein und öffnete ihm viele Tore. Hinzukommt, wie Obrist in seinen eigenen Ausstellungen die Funktion des Kurators neu definierte und jene kuratorische Praxis mit zum Durchbruch half, bei der sich kuratorische und künstlerische Ideen angleichen und die gerne mit der Kurzformel "der Kurator als Künstler" umschrieben wird. Dabei übertrug er Konzepte angesehener Künstler wie Duchamp, Broodthaers oder von Fluxus-KünstlerInnen auf die kuratorische Tätigkeit. Kaum einem anderen Kurator gelang es so perfekt, ein weitverbreitetes Netz von Machtpositionen anzulegen wie Obrist. Er kann sich heute in New York genauso heimisch fühlen wie in Berlin, in Zürich wie in Wien, in London wie in Paris.

Boris Groys ist ein anderer Fall. Mit seiner umfangreichen Textproduktion und gelegentlichen kuratorischen Tätigkeit bietet er für Konservative heute einen willkommenen Anknüpfungpunkt an die aktuelle Kunst. Denn in seinen meist auf prägnante Formeln gebrachten Aussagen verbindet er die Abwertung gesellschaftskritischer Kunst und Kultur mit postmoderner Argumentation. Aus seinen Erfahrungen in der Sowjetunion heraus erklärt er linke Konzepte als gescheitert, die Kulturlinken im Westen würden Vorstellungen anhängen, die in der Sowjetunion schon längst wiederlegt worden wären. Aus einem ähnlichen Erfahrungshorizont heraus befürwortet er elitäre Zusammenhänge, die in Moskau jedoch aus einer Zwangssituation, der Isolation durch staatliche Organisationen, entstanden sind. Diese antisoziale Orientierung verbindet er mit traditionalistischen Momenten, die These von der Kunst, die unbedingt ins Museum will, und kulturpessimistischen Ansichten, der angeblichen Abwesenheit von Geschmackskriterien in der Gegenwart. Mit Aussagen dieser Art trifft er in den deutschsprachigen Ländern allerorts auf offene Ohren. Mit seiner Theorie, das Kunst heute für das Museum produziert wird, mit der nebenbei alle anderen interventionistischen, temporären und ephemeren Kunstformen negiert werden, bekommt er Beifall von zahlreichen Museums- und Kunsthallenleitern, durch seine antilinke Tendenz erhält er große Unterstützung von Seiten der Wirtschaft und konservativen politischen Kreisen, mit seiner Überlegung, daß Katalogtexte und Kritiken Kunstwerke eher verunstalten und sowieso nicht gelesen werden, trifft er die Meinung der schweigenden Mehrheit. Doch Boris Groys erfährt nicht nur Zustimmung, er wird von vielen Seiten entsprechend honoriert und protegiert. Heute ist er Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. So geht das nämlich.