Samuel Herzog

Wie sich die 90er aus dem mystischen Kunstbegriff der 80er befreien
Mythen, mit denen wir nichts mehr anfangen können


Eines scheint sicher: Die junge Kunst der 90er hat bisher mehr von sich reden gemacht als von sich sehen lassen. Die Suche nach einem Grund hierfür bringt unmittelbar ins Zentrum des Problems: Die Generation von Künstlerinnen, Theoretikern, Kritikerinnen und Ausstellungsmachern, die zu Beginn der 90er Jahre ihre Arbeit aufnahm, sah sich mit einem zwar vielfältigen aber immer mystischen Kunstbegriff konfrontiert, der sich spätestens mit dem Kunstboom der 80er Jahre fest und scheinbar unverrückbar etabliert hatte. Noch zu Anfang dieses Monats zeigte der Auftritt von Jean-Christoph Ammann im Rahmen des Kolloquiums zur Ausstellung <Check in!> im Basler Museum für Gegenwartskunst, wie eindringlich dieser Kunstbegriff auch heute noch wirkt: Ammann sprach von der <Kunst, die aus dem Gedächtniskörper stammt>, zitierte Beuys' Satz vom Kunstwerk als Rätsel, zu dem der Mensch die Lösung sei und schloss: <Da die Kunst so alt ist wie der Mensch, bleibt sie ein an den Menschen gekoppeltes Mysterium>.
Die Tatsache, dass die Verwalter dieses Mysteriums an allen wichtigen Schaltstellen des Kunstbetriebs sassen, war wohl die kleinere Schwierigkeit für die nachrückende Generation: Das grössere Problem waren die weit geöffneten Arme dieser machtvollen älteren Generation, die mitgeprägt von den Maximen der 68er eine schier schrankenlose Grosszügigkeit gegenüber dem jungen Kunstschaffen an den Tag legte. Diese Grosszügigkeit, gekoppelt mit dem Verzicht auf eine klare eigene Position, führte nicht nur zu einem friedlichen Klima, sondern auch zum Fehlen jeder Reibungsfläche, an der sich die jüngere Generation eine eigene Identität hätte erschürfen können. Ausserdem hatte die ältere Generation den Kunstbegriff von allem Doktrinären oder Prinzipienhaften sosehr befreit, dass ein Vakuum entstand, das nur mit den erwähnten mystischen Formeln wieder gefüllt werden konnte. Noch besser als bei den Künstlern und Ausstellungsmachern zeigt sich diese Tendenz zur Mystifizierung bei der Kritik: Selten sind Ausstellungsberichte, die nicht früher oder später von der Analyse des Gegenstandes abheben, um meist unvermittelt <Fragen nach dem Sinn und Ort von Existenz> zu konstatieren oder sonstwie im grossen Teich der <Condition humaine> zu rühren. Kunst ist, so könnte man daraus folgern, wenn es um die ganz grossen Fragen der menschlichen Existenz geht. Es ist nicht ganz auszuschliessen, dass sich hinter dieser Tendenz, in jedem abgetragenen Schuh die schiere Schuhaftigkeit des Schuhs hinterfragt und die darin eingeschriebenen Seinsfragen ausgelotet zu sehen, auch das aufrichtige Bedürfnis verbirgt, das Wahre und Schöne in einer Kunst zu finden, die vom Markt mit Erfolg als schöne Ware gehandelt wird.
Welch verschiedene Strategien die junge Kunstgeneration gefunden hat, um das Problem der fehlenden Reibung und die philosophische Schwammigkeit des theoretischen Diskurses zu überwinden, haben vor zwei Wochen die von <attitudes> veranstalteten <Rencontres internationales des Organismes d'Art Indépendants> in Genf gezeigt. Damit ist auch bereits angedeutet, dass sich die Veränderungen der 90er Jahre weniger an Objekten festmachen lassen, denn an einer neuen Art des Auftritts, einer neuen Praxis, die von Künstlerinnen ebenso getragen wird wie von Kunstvermittlern.
Das von einem Büro in Wien aus operierende <Museum in progress> etwa will Kunst einem Publikum zugänglich machen, das <nicht unbedingt ein Kunstpublikum sein muss>, wie Sabine Dreher sich ausdrückt. In Zeitschriften wie dem politischen Wochenmagazin <Profil>, in Tageszeitungen, auf Plakatwänden und in Werbebroschüren etwa der <Austrian Airlines> kaufen oder erhandeln sich die Betreiber des <Museum in progress> einzelne Seiten, Werbe- oder Inserateflächen. In diesen zwar zweidimensionalen, dafür aber multiplizierten <Ausstellungsräumen> wird dann, teilweise mit Hilfe von Kuratoren, Kunst inszeniert. Dieses Vorgehen führt dazu, dass nicht eingeweihte Zeitschriftenleser oder Fluggäste etwas wahrnemen können, ohne es unbedingt als Kunst wahrnehmen zu müssen.
Ähnlich arbeitet der Genfer Künstler Gianni Motti mit seinem Projekt <In Vitro - In Vivo>: In verschiedenen Vitrinen der Stadt, auf Plakatwänden ebenso wie an Mauerecken, Strassenlaternen oder auf Baustellen zeigt er kleine Kunstwerke und lässt von Künstlern Eingriffe ausführen, die oft von grösster Diskretion sind. Rosa-Maria Rourich zum Beispiel befestigte farbige Stoff- und Plastikfetzen an den Gelenkstellen eines Baugerüstes - eine Akzentuierung, die wohl von den meisten Passanten als eine originelle Idee der Baufirma angesehen wurde, von niemandem aber als Kunst. Teilweise vergleichbar geht derzeit auch die Crew des Basler <Kaskadenkondensators> vor, die im Rahmen ihres <Nonlieux>-Projektes an verschiedenen Stellen der Stadt kleine Veränderungen vornehmen liess, die sich ebenfalls nicht primär als Kunst zu erkennen geben - wer käme schon beim Ertasten eines eingetrockneten Kaugummis unter einem Wirtshaustisch darauf, hier mit einem Kunstwerk konfrontiert zu sein.
Eine etwas andere Strategie verfolgen der <Kiosk> oder <Tapko>. Die in Kopenhagen aktive Gruppe <Tapko> verfügt über keinen eigenen Ausstellungsraum, sondern hat sich auf die Zwischennutzung von vorübergehend leerstehenden Gebäuden der verschiedensten Art spezialisiert. <Uns interessieren kontaminierte Orte, in denen nicht nur räumliche, sondern auch soziale oder funktionale Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen>, sagen Kerstin Bergendal und Cai Ulrich von Platen. Eine <Möglichkeit, im Alltag in unmittelbaren Kontakt mit künstlerischem Schaffen zu kommen>, bietet die seit 1995 im Berner Lorrainequartier tätige Gruppe <Kiosk>. Sie fangen ihr Publikum auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf ab, wollen ihm aber nicht explizit Kunst vorführen, sondern vielmehr optische, haptische oder akkustische Eindrücke vermitteln, die zu ungewöhnlichen Gedankengängen oder Assoziationen führen können.
Noch einen Schritt weiter geht das Bruxeller <Moving Art Studio>, das mit Kunst eigentlich gar nichts mehr zu tun haben will. <Unser Ziel ist es, soziale Situationen zu schaffen, in denen auch Autoren oder Wissenschaftler ihren Platz haben>, sagt Jens-Ingo Brodesser: <Von Kunst oder Künstler zu reden, das macht heute doch keinen Sinn mehr, das sind Mythen, mit denen wir nichts mehr anfangen können>.
Auch wenn am vergangenen Wochenende nicht alle den Begriff <Kunst> so leichtens fallen lassen wollten, zeichnete sich doch deutlich ab, dass Kunst nur noch für die wenigsten ein <an den Menschen gekoppeltes Mysterium> sein dürfte. So verschieden die Strategien auch sind, die jungen Kunstschaffenden haben eines gemeinsam: Sie misstrauen dem optischen Ereignis <Kunst> und greifen dafür oft sehr pragmatisch in den Alltag ein. Dem Publikum ist es - sofern es überhaupt Gelegenheit hat, sich diese Frage zu stellen - freigestellt, ob es diese Eingriffe als Kunst verstehen will oder nicht. Das Label <Kunst> ist jedenfalls - und das ist vielleicht der wichtigste Unterschied zur Vergangenheit - für das Funktionieren vieler Arbeiten keine Bedingung mehr.
Mit dieser Entweihungspraxis unterlaufen die jungen Kunstschaffenden nicht nur den mystischen Apparat der älteren Generation, sie nehmen auch vielen Kritikern den Wind aus den Segeln. Arthur C. Dantos Argument, dass die Kunst immer mehr von der Theorie abhänge und durch diese gar <entmündigt> worden sei, verliert angesichts einer so pragmatischen Kunstpraxis jede Schärfe, denn wo die Kunst nicht als Kunst auftritt, braucht ihr auch kein theoretischer Diskurs nachgereicht zu werden. Die Kunst hat sich also ihres theoretischen Überbaus bis zu einem gewissen Grade entledigt. Gleichzeitig spricht sie auch ein Publikum an, das bisher - gerade weil es an diesem theoretischen Diskurs nicht teilhatte - von jeder Erfahrung von Gegenwartskunst ausgespart blieb.
Zutreffend ist Jean Baudrillards in <Le Complot de l'Art> formulierter Vorwurf, die Kunst habe einen <Verlust der Transzendenz> zu verzeichnen. Tatsächlich tritt heute an die Stelle der Transzendenz mehr und mehr die Transgression in die verschiedensten Lebensbereiche. Als Folge einer Kunst, die in ungewöhnlichen Alltagsbereichen auftritt und gar nicht mehr als Kunst erkannt werden will, entsteht bei einem im Ausstellungsbetrieb trainierten Publikum der Eindruck, diese Kunst sei optisch unbefriedigend und lasse doch recht wenig von sich sehen.
Das mag man mit einigem Recht bedauern. Doch vielleicht ist sie nicht anders zu leisten, die Befreiung vom befreiten Kunstbegriff der 80er Jahre. Immerhin entlastet die Kunst der 90er Jahre den Betrachter von der Aufgabe, die Kunst in der Kunst zu suchen und fordert ihn dazu auf, vermehrt seinen eigenen Augen zu trauen.

Erschienen in der Basler Zeitung am Freitag, 20. März 1998 und in Orbis 1. Quartal 1999