Interview von Samuel Herzog, 1998

Ausstellen heute V: Roman Kurzmeyer
freier Ausstellungsmacher

<Es gibt ein Recht auf Interpretation von Kunst>

Roman Kurzmeyer (1961 in Reiden geboren) hat in Basel Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und über die lebensreformerische Siedlung um Josua Klein in Amden am Walensee promoviert. 1983 bis 1985 führte er eine Galerie, danach war er als Kunstkritiker für diverse Fachpublikationen tätig. 1991/92 war er Assistent von Harald Szeemann. Derzeit arbeitet er am Katalog sämtlicher Ausstellungen von Szeemann. In diesem Jahr wird er ausserdem eine Retrospektive des Afro-Amerikaners Bill Traylor zeigen und in der Kunsthalle Bern einen Projektraum führen.

BaZ: In Ihrer letztjährigen Ausstellung in der Kunsthalle Liestal haben Sie unter dem Titel <Der verlorene Garten> Werke von neun sehr unterschiedlichen Künstlern gezeigt. Wie kam es zu dieser Zusammenstellung?
Roman Kurzmeyer: Bei dieser Generationen und Gattungen übergreifenden Ausstellung habe ich mit meinem visuellen Gedächtnis gearbeitet. Diese Vorgehensweise habe ich bereits in zwei Ausstellungen erprobt. Ich habe mir vorzustellen versucht, welche mir bekannten Werke sich in diesen Räumen unter dem gegebenen Titel zusammenfinden könnten.

Sie haben die Ausstellung also komponiert wie ein Künstler.
Nein, in Liestal habe ich eine optimale Antwort auf den Raum gesucht, der vorgibt was möglich ist und was nicht. Den richtigen Platz zu finden für ein Werk, das ist eine der zentralen Aufgaben für einen Ausstellungsmacher.

Und wann steht ein Werk am richtigen Platz?
Wenn es mir gelingt, die Werke in eine Dialogsituation zu bringen.

Birgt das nicht auch die Gefahr, dass man einem Werk einen bestimmten Sinn überstülpt?
Ja, auch wenn diese Gefahr hier wie bei thematischen Ausstellungen besteht, halte ich es denoch für legitim, durch präzise Werkkombinationen bestimmte Aspekte oder Inhalte eines Werkes zum Vorschein zu bringen - schliesslich spricht man damit ja noch nicht das letzte Wort über diese oder jene Arbeit. Es gibt ein Recht auf Interpretation von Kunst.

Dieses Recht hat auch Catherine David mit der documenta X in Anspruch genommen.
In Kassel standen Fragen der Urbanität und Gesellschaft im Vordergrund. Das sind Themen, die auch im Rahmen von Texten diskutiert werden könnten. Mich interessieren eher Fragen, die in Worten schwer fassbar sind: Die Erfahrung zeitübergreifender Phänomene, der Relativität oder des Fremden etwa - auch die Persönlichkeit des Künstlers.

Das Künstlerleben?
Nein, damit meine ich nicht nur die Biographie, sondern die Originalität einer Position, die Unverwechselbarkeit einer Bildsprache. Es fasziniert mich, wenn ein Werk eine bestimmte Haltung und Weltsicht formuliert. Mich interessieren Arbeiten, die sich als erlebte Modelle zu erkennen geben.

Und wie spüren Sie als Ausstellungsmacher solchen Werken nach?
Ich habe kein Programm im Kopf - entscheidend ist, dass mich ein Werk überzeugt. Ich möchte zunächst einmal verführt werden. Es ist ein intuitiver Entscheid, ob ich mich mit einem Künstler näher beschäftige oder nicht. Erst in einer zweiten Phase gebe ich mir Rechenschaft darüber, was mit mir passiert ist. Ausgangspunkt ist dabei immer die Verbindung eines Originals mit meiner eigenen Realität.

Wenn Sie ohne ein klares Konzept vorgehen, besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit?
Es gibt immer Standpunkte, von denen aus alles beliebig erscheint. Oft ist übrigens, was nach Konzept aussieht, das Zusammentreffen bestimmter äusserer Interessen. Ich verstehe nicht, weshalb Vertrauen in die Wirkungsmächtigkeit einer Arbeit zu Beliebigkeit führen soll. Entscheidend ist die Realität des Werkes: Der Künstler muss konsequent daran arbeiten, das Werk muss ein individuelles Werk sein.

Ist Individualität im Zeitalter der Massenmedien überhaupt noch möglich?
Kunst, die in den Massenmedien aufgehen will, interessiert mich nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, die zusehends kulturelle und nationale Grenzen überwindet. Mein sich daraus erklärender Relativismus hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern ist Ausdruck von Achtung vor der Wirklichkeit. Eine plurale Gesellschaft fordert das Gegenteil von Beliebigkeit: Konzentration auf einzelne Aspekte und damit auch Individualität. Wenn Beliebigkeit heute entsteht, dann in der Verschleifung von Individualität.

Das müssen Sie dem Publikum auch irgendwie vermitteln - wie?
Ein wichtiges Mittel ist immer noch der Katalog, in dem ein Ausstellungsmacher die Auswahlkriterien darlegen soll.

Wäre es nicht einfacher, die Schau selbst so zu programmieren, dass sie dem Besucher auch ohne Text eine erste einfache Lektüre ermöglicht?
Es gibt Kunst, die kommentarbedürftig ist. Im Prinzip versuche ich aber, meine Ausstellungen so zusammenszustellen, dass sie aus sich heraus verständlich sind. Allerdings ist es falsch zu glauben, dass man Kunst beliebig vereinfachen muss, um ein Massenpublikum zu erreichen. Die documenta hat gezeigt, dass für den Publikumserfolg kunstferne Faktoren massgeblich sind. Letztlich hat Kunst dann doch nur ein sehr kleines Publikum.

Sollte sich das nicht ändern?
Nein, denn Künstler sind nicht einfach Meinungsträger - man kann ihre Arbeiten nicht als reduzierte Pole eines <courant public> ansehen.

Aber wenn Kunst nur einem beschränkten Publikum zugänglich ist, dann kann sie auch zur sozialen Differenzierung dienen.
Das ist wohl so - aber diese Differenzierung ist nicht zwingend eine des Geldes. Kunst ist die Realität jener Menschen, die von ihr berührt werden und sich mit ihr beschäftigen - die Realität der Künstlerin oder des Künstlers und des Publikums, das mit einem Werk erreicht wird.

Erschienen in der Basler Zeitung am 15.4.1998