Interview von Samuel Herzog, 1998

Ausstellen heute VI: Bice Curiger
Kunsthaus Zürich

«Ich sorge dafür, dass über Kunst gesprochen wird»

Bice Curiger (1948 in Zürich geboren) hat in Zürich Kunstgeschichte studiert und über den Schweizer Maler Albert Welti promoviert. Als Kritikerin hat sie für Tageszeitungen und Kunstzeitschriften geschrieben, 1982 eine Monographie über Meret Oppenheim verfasst und 1984 die Zeitschrift «Parkett» mitbegründet. Seit 1980 ist sie als freie Ausstellungsmacherin in den USA und Europa tätig, von New York über London und Paris bis nach Wien. Seit 1992 arbeitet sie auch als feste freie Kuratorin für das Kunsthaus Zürich. Nach Ausstellung wie «Endstation Sehnsucht», «Zeichen und Wunder» oder «Birth of the Cool» zeigt sie jetzt im Kunsthaus «Freie Sicht auf's Mittelmeer».

BaZ: In Ihrer letztjährigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich haben Sie unter dem Titel «Birth of the cool» amerikanische Malerei gezeigt und dabei die abstrakten Bilder eines Pollock oder Newman mit figurativen Positionen etwa einer Sue Williams oder eines Alex Katz in Zusammenhang gebracht. Wie kam es zu dieser Kombination? Bice Curiger: Zunächst wollte ich zeigen, dass es in den USA nicht nur abstrakte Malerei gibt - wie bei uns gerne geglaubt wird. Auch wollte ich darauf hinweisen, dass viele dieser Bilder sowohl abstrakt als auch figurativ gelesen werden können: Das gilt natürlich für Chuck Close, es gilt aber auch für Georgia O'Keeffe oder Alex Katz. Ausserdem glabe ich, dass es in Europa heute ein gewisses Bedürfnis gibt nach einer Malerei, die sehr Direkt wirkt, die mit einem gewissen Selbstbewusstsein und einer gewissen Grösse auftritt - und das bieten die Amerikaner.

Bedeutet dies, dass die europäische Kunst im Unterschied zur amerikanischen ohne theoretischen Diskurs nicht funktioniert?
Nein, aber die Europäer geben sich oft bescheidener, sie arbeiten sehr nahe am Alltag und treten nicht mit dieser grossen Kunst-Geste auf wie die Amerikaner. Das heisst nun aber nicht, dass die Künstler hier sehr theoretisch oder akademisch vorgehen würden, im Gegenteil: Gerade die Schweizer Szene zeigt, dass die meisten Künstler weder besonders historisch denken noch sonderlich an Theorie interessiert sind. Die Sehnsucht nach dem Realen und nach gesellschaftlicher Relevanz ist hier sehr gross.

Und wie stellt sich diese Relevanz her?
Zum Beispiel daduch, dass die Strasse in die Kunst hineinkommt - die Altäre von Thomas Hirschhorn sind da ein gutes Beispiel. Im Unterschied zu früher glaube ich, dass sich der Künstler heute nicht «besser» macht als sein Publikum: Er beobachtet, was die Menschen um ihn herum beschäftigt und schleicht sich dann mit den Dingen des Volkes wieder in die Kunst hinein. Es gibt eine gewisse Demut gegenüber der alltäglichen Wirklichkeit.

Und welche Position nehmen sie als Vermittlerin ein?
Ich fühle mich solidarisch mit den Künstlern, auch bin ich keiner sehr formalistischen Kunst verpflichtet, sondern einer Kunst, die bei allem Formalen doch wissend aus dem Alltag schöpft. Von Anfang an habe ich mich näher bei den Künstlern gefühlt als bei der akademischen Betrachtungsweise. Ich wollte durch Kunst das Leben und die Welt besser verstehen. Kunst gibt Impulse, die uns aus der Sauce des Nicht-Weiterdenkens, des Sich-Installierens herausziehen.

Was tragen Sie selbst als Vermittlerin dazu bei?
Kunst gibt es nicht allein. Es gibt sie erst, wenn darüber gesprochen wird. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass darüber gesprochen wird.
Als Ausstellungsmacherin wählen Sie die Künstlerinnen und Künstler aus und entscheiden damit, worüber gesprochen wird.
Ich bin mir bewusst, dass meine Position mit einer gewissen Macht verbunden ist und entsprechend auch mit viel Verantwortung. Jeden Tag muss ich die Ansprüche an mich und an die Künstler hochschrauben, jeden Tag muss ich legitimieren, warum ich dies oder das zeige und nicht jenes.

Fragen der Qualität?
Ja, und die stellen sich jeden Tag von neuem. Interessant dabei ist vor allem, dass man die Frage der Qualität immer nur für den Moment, nie für den nächsten Tag beantworten oder auch nur diskutieren kann.

Ist das nicht auch schwierig?
Zum Glück bin ich ja nicht mehr in der Situation der Kritiker des 19. Jahrhunderts. Ich muss auf keinen Podest steigen und muss keine Noten verteilen. Ich muss nicht definitiv entscheiden, was schlecht ist und was gut ist. Ich habe eher ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Künstlerinnen und Künstlern.

Und welche Arbeiten übernehmen Sie in dieser Partnerschaft?
Zum Beispiel ist es meine Aufgabe, die gezeigte Kunst in der Geschichte zu verankern, die Möglichkeit einer Übersicht zu schaffen...

...und also einen theoretischen Diskurs zu etablieren.
Nicht nur. Indem ich in Ausstellung die Arbeiten verschiedener Künstler kombiniere und je nachdem auch unsichtbar mit Zeugnissen der Geschichte verknüpfe, kann ich auch aufzeigen, dass es andere Dinge gibt und andere Sichtweisen als die gängigen. Mit der Inszenierung einer Ausstellung kann ich Kategorien durchbrechen und als Fiktionen entlarven. Immer natürlich im Austausch mit den Künstlerinnen und Künstlern.

Und welche Rolle spielt dabei das Museum, eine Institution wie das Kunsthaus?
Einerseits müssen wir natürlich die Sammlung bewahren und pflegen. Andererseits aber sollten wir auch Energien hereinlassen, denn sonst verstauben wir. Eine Ausstellung wie «Freie Sicht auf's Mittelmeer» soll überbordend wirken, sie soll zeigen, wie lebendig und vielfältig die Kunstszene in der Schweiz ist. Natürlich keine Beliebigkeit, aber allzu viel Angst vor Experimenten sollte man auch nicht haben. Es geht immer darum, eine gute Mischung zu finden zwischen Verantwortung und einer gewissen Inspiriertheit.

Erschienen in der Basler Zeitung am 6.Juni 1998