Samuel Herzog

Für unsere Milchstrasse besteht keine Gefahr


Das Pariser Palais de Tokyo steuert durch die Antimaterie

   Es gibt ein Land, dessen Bewohner nur 7 Tage pro Jahr arbeiten - und 51 Wochen lang in den Ferien sind. Eine andere Nation schenkt ihren Bürgern Geld, so viel sie nur wollen - und ein Staat gibt trotz beschränkten Mitteln an sämtliche Menschen gratis Pässe ab. Ein Inselreich bietet anarchischen Frieden - ein anderes tropische Üppigkeit ohne die obligate Schwitzerei. Diese Länder heissen Atlantium, Aerica, Elgaland-Vargaland, Sealand oder Pinsk. So verlockend diese Nationen sind - sie haben allesamt den Nachteil (oder ist es ein Vorteil?), dass sie nicht existieren. «Etats (faites-le vous-même)» nennt der Künstler Peter Coffin ein Projekt, das er derzeit im Pariser Palais de Tokyo präsentiert: Da hängen die Flaggen erfundener Mikronationen in Reih und Glied an der Wand, in Vitrinen liegen Geldscheine, Pässe und Briefmarken aus - es gibt königliche Uniformen zu bestaunen, Verfassungen und Dekrete zu analysieren, Landkarten und Modelle zu studieren, und ab und zu wird einem auch mit viel falsch gestimmtem Blech eine Nationalhymne ins Ohr geblasen.

Utopische Phantasien

   Die meisten dieser Mikronationen wurden von Künstlern geschaffen - aus unterschiedlichen Motiven heraus: Enttäuschung über die reale Politik, Steuerflucht, Alltagsüberdruss, Lust am Umgang mit monarchischen Symbolen usw. Erstaunlicherweise bilden sozialkritische Projekte, die reale Verhältnisse verzerren oder spiegeln, eher die Ausnahme. Was viele dieser Arbeiten eint, ist die Lust, sich eine eigen Nation als Spielstätte mehr oder weniger utopischer Phantasien zu schaffen. Wer sich als Besucher von dieser Lust anstecken lässt, kann sich hier selbstverständlich auch einbürgern lassen - gleich mehrfach, wenn man will.

   «Staaten (zum Selbermachen)» ist Teil einer Reihe von gleichzeitig stattfindenden Einzelausstellungen, die Marc-Olivier Wahler (seit bald einem Jahr Direktor des Palais de Tokyo) unter dem Titel «M - Nouvelles du monde renversé» zusammengeführt hat - wobei das M mit einem Querbalken darüber geschrieben wird, was in der Symbolik der Physiker Antimaterie bedeutet. In der Ausstellung selbst nimmt man allerdings vor allem die Materie wahr - bei Koki Tanaka etwa, der auf einer Art Modell-Kegelbahn das Mobiliar des Palais de Tokyo mit Hilfe einer Bowling-Kugel durcheinandergebracht hat. Oder bei Dewar & Gicquel, die uns mit ihren Objekten in ein ethnologisches Museum der bizarrsten Art entführen: In ihrer Installation mit dem Titel «Granitoïd trans goa rascal koï koï . . .» fragt man sich, was für ein seltsamer Volksstamm das sein muss, der als Kultobjekt eine riesige Panflöte herstellt oder einen gigantischen Garnknäuel wie eine erlegte Wildsau von der Decke baumeln lässt.

   Auch bei Michel Blazy geht es äusserst materiell zu. Als geistiger Erbe von Dieter Roth und anderen Fluxuskünstlern lässt der Franzose ganze Mauern verschimmeln, Joghurts eintrocknen und Türme von Orangen verrotten. Sprosse wuchern sich zu gigantischen Pilzen aus, ein Skelett aus Hundekeksen wird allmählich von Vögeln aufgefressen, und aus ein paar Containern quillt ohne Unterlass dicker Schaum. Die konzeptuelle Nähe von Blazys Arbeit etwa zu Dieter Roths Schimmelbildern und Schokoladeskulpturen hat schon manchen Kritiker irritiert - allerdings sind wir bei Blazy als Wanderer in seinen Installationen Teil eines Prozesses, den wir vor Roths Bildern nur als Beobachter von aussen wahrnehmen. Zudem geht es bei Blazy wohl auch noch um etwas anderes: Während bei Roth der Prozess der Verwesung und das Vanitäre im Vordergrund stehen, schafft Blazy mit ähnlichen Mitteln ein verführerisch schönes Ambiente, in dem man sich gerne bewegt - auch wenn die Nase da und dort auf eine harte Probe gestellt, die olfaktorische Neugier nicht immer belohnt wird. Auf einer Wand des Palais de Tokyo etwa hat Blazy mit Hilfe von Fertiggerichten ein zauberhaftes, fast orientalisch anmutendes Ornament geschaffen - auf einem anderen Mauerstück haben die Bakterien einer Erdbeerkonfitüre ein gigantisches Gemälde entstehen lassen, das an die psychografischen Abstraktionen der französischen Nachkriegskunst erinnert (Fautrier, Bissière, Wols usw.). Und das Gelb von Blazys Sprossenpilz ist von einer Intensität, die sich mit Farbe wohl so nicht herstellen liesse - all dies hat oft mehr mit Malerei zu tun als mit demonstrativer Verwesung.

Flexible Programmierung

   Das Konzept der multiplen Einzelschau erinnert, wie manche Kommentatoren festgestellt haben, an die Ausstellungspraxis des Genfer Musée d'art moderne et contemporain (Mamco), wo Wahler in den neunziger Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Für eine Institution wie das Palais de Tokyo, die über riesige Räume und ein beschränktes Budget verfügt, ist ein solches Vorgehen sicher nicht die schlechteste Wahl: Der laufende Wechsel einzelner Ausstellungsteile gestattet die Gestaltung eines abwechslungsreichen Programms ohne allzu monströse Umbauarbeiten. Wen stört es da, dass die theoretische Unterfütterung des Programms mit der Anrufung physikalischer Begriffe etwas gar trendig daherkommt.

   Immerhin spielt Antimaterie auch in vielen Science-Fiction-Geschichten eine wichtige Rolle - bei Perry Rhodan etwa gibt es ein Volk, das aus einem Universum aus Antimaterie stammt, die sogenannten Accalauries. Vielleicht hätte Accalaurien ja auch noch in den Reigen der imaginären Nationen gepasst - als Staat der Wesen mit dem Balken auf dem Kopf. Eine Gefahr für unsere Milchstrasse stellen derzeit weder die Accalaurier noch die anderen Mikronationen dar - nach Einschätzung der Perrypedia auf jeden Fall.


erschienen in NZZ, Donnerstag, 12.04.2007 / 41