Samuel Herzog

Ärger im 21. Stockwerk


Die Zweite Moskau-Biennale für zeitgenössische Kunst

   Die Zweite Moskau-Biennale für zeitgenössische Kunst verwirrt den Besucher mit einer Vielzahl von Collateral Events - verzichtet aber darauf, ein Thema herauszuarbeiten oder klar Position zu beziehen.

   In einer Ecke der Eingangshalle der Metrostation Serpuhowskaja liegt ein Hund - seine Augen sind geschlossen. Unmittelbar neben seinem Kopf strömen Reisende in Scharen durch eine Türe, die mit einem pausenlosen «Flap» auf und zu schwingt. Vor dem Hund liegen zwei Frankfurter Würstchen am Boden - unberührt. Warum nur frisst der Hund die Würste nicht? Ist er tot? Ist er satt? Ist er zu erschöpft? Oder mag er Frankfurter Würstchen nicht?

   Ein ähnliches Rätsel gibt uns auch die Zweite Moskau-Biennale für zeitgenössische Kunst auf. Die Veranstaltung hat die besten Chancen: Sie erhält die höchste Aufmerksamkeit der Fachwelt, international - und auch an Geldern scheint es ihr nicht grundsätzlich zu fehlen. Doch anstatt die Wurst zu packen, die ihr da vor der Nase liegt, anstatt Visionen zu entwickeln oder wenigstens eine eigene Haltung, lässt sie sich ganz offenbar von Mechanismen bestimmen, die zumindest auf Besucher aus dem Ausland wenigstens undurchsichtig, wenn nicht gar anrüchig wirken müssen.

Kunst im Büroturm

   Russland steht derzeit im Ruf, das Land zu sein, wo der Kapitalismus seine übelsten Blüten treibt - eine Nation zugleich, die regelmässig im Chaos schlechter Organisation versinkt und sich durch alte Strukturen behindert sieht. Wer all diese Vorurteile bestätigt haben möchte, wird von dieser Zweiten Biennale von Moskau optimal bedient. - Die Hauptausstellung gibt es auf drei Etagen eines erst halbfertigen Glasturms namens «Federation Tower» in einem Aussenquartier zu sehen, wo eine neue Bürostadt aus dem Boden gestampft wird. Sicher ist es für die Besitzer des Turmes günstig, dass da eine international beachtete Veranstaltung die gesichtslosen Räume nobilitiert, ihnen ein wenig Geschichte und positives Renommee verleiht. Grund genug, die umstehenden Krane zur Feier des Events mit blauen Lichterketten zu dekorieren und mit ein paar ausgewählten VIP in Magnum-Dosen mit Beluga herumzulöffeln. Umgekehrt geht der Handel allerdings nicht ganz auf - für die Kunst nämlich sind die Räume eine Katastrophe. Was auch immer hier gezeigt wird, muss sich gegen die Konkurrenz einer atemberaubenden Aussicht behaupten - denn vor den Fenstern im 21. bis 23. Stockwerk kriecht bei Tag und bei Nacht der Moloch Moskau durch den russischen Winter.

   Eine kluge Besucherführung hätte dieses Problem vielleicht entschärfen können - doch darauf wurde gänzlich verzichtet. Laut Programm soll man in dem Turm vier separat kuratierten Ausstellungen begegnen, die allesamt sehr schöne Titel tragen: «Stock Zero or the Icy Water of Egotistical Calculation» heisst die Schau von Nicolas Bourriaud, «After All» die Abteilung von Rosa Martinez und Fulya Edemci, «History in Present Tense» nennt Iara Boubnova ihren Teil - und Joseph Backstein sucht nach «Art in the Era of Social Darwinism». Leider fehlt es in dem Turm an Hinweisen, die den Besucher darüber informieren würden, in welcher Ausstellung er sich gerade befindet. Offen bleibt auch die Frage, wie diese Ausstellungsteile mit dem Generalthema der Biennale verknüpft sind, das «Footnotes on Geopolitics, Markets, and Amnesia» heisst - laut Backstein ein Hinweis darauf, dass die Kultur in Russland nicht mehr als eine Fussnote ist und es in den Schulen diesbezüglich an jeglicher Bildung fehlt (was den überraschten Gast zu der Frage bringt, wo denn all die Schulklassen herkommen, die den Besuch in der Tretjakow-Galerie oder dem Puschkin-Museum so mühselig machen). Natürlich gibt es im «Turm» trotzdem ein paar schöne Arbeiten zu sehen - Artur Zmijewskis nackte Ehrengarde etwa, Mats Bigert & Lars Bergströms «Last Supper» oder Javier Téllez' Spielereien mit der Polizei von Venezuela - ja und Dan Perjovschi schafft es mit seinen auf die Fenster geschmierten Schnellzeichnungen sogar, diesem Unort für Kunst einen gewissen Reiz abzugewinnen.

Persönliche Freundschaft

   Der zweite Teil der Hauptausstellung findet im TsUM, Moskaus edelstem Warenhaus an der Petrowka, statt. Ein Teil dieses Gebäudes befindet sich noch im Rohbau - und hier haben Daniel Birnbaum, Gunnar B. Kvaran und Hans Ulrich Obrist die Ausstellung «USA: American Video Art at the Beginning of the Third Millennium» eingerichtet. Die Videoarbeiten von mehr als dreissig Künstlern werden auf Bildschirmen und Projektionsleinwänden in einem einzigen grossen Raum präsentiert - ohne jede Trennwand. Dass sich die Bilder da arg konkurrenzieren, ist das eine - ein weit grösseres Problem noch wäre die Vermischung der Töne. «Wäre» - denn man hat sich entschlossen, die meisten Videos einfach ohne Ton vorzuführen. Eine pragmatische Lösung, sicher, sie führt allerdings dazu, dass die Kunst hier zur reinen Raumdekoration degradiert wird - ja eigentlich hätte man die Filme so auch an anderer Stelle in dem Warenhaus präsentieren können, zwischen den «Diesel»-Jeans oder den Lippenstiften von L'Oréal.

   Dass sich diese Biennale überhaupt im TsUM präsentiert, verdankt sich offenbar der persönlichen Freundschaft zwischen Joseph Backstein und dem Besitzer des Warenhauses - wobei man wohl auch hier fragen darf, wer denn nun von wem profitiert. Ja es gab Pläne, die ganze Biennale in diesem Warenhaus stattfinden zu lassen - was nicht ungünstig gewesen wäre, liegt das TsUM doch immerhin sehr zentral. Dass der Hauptteil der Veranstaltung nun aber im abgelegenen «Federation Tower» stattfindet, liegt laut Backstein einfach daran, «dass der Mann, der die Türme besitzt, mehr Macht hat als mein Freund vom Warenhaus». Ja, das leuchtet natürlich ein.

Status ungeklärt

   Wobei hier einzuschränken wäre, dass der Mann der Türme bei aller Macht kein sonderlich guter Organisator sein kann (oder ihn dieser Teil des Handels vielleicht auch einfach nicht interessiert). Das zeigte sich am Eröffnungsabend vor den Toren seiner Baustelle, wo es zuging wie wohl sonst nur bei einem grossen Fussballspiel - und man sich mit aller Kraft dagegen wehren musste, von der aufgebrachten Menge an Gittern oder Mauern platt gedrückt zu werden.

   Nebst diesen Hauptausstellungen gibt es eine schier unüberblickbare Vielzahl von Nebenschauplätzen, wo dem Auge die unterschiedlichste Kunst geboten wird. In der Rubrik «Special Guests» zum Beispiel gibt es im charismatischen Schusew-Museum für Architektur ein älteres Video von Pipilotti Rist zu sehen - und eine geradezu aufregend lausig gemachte Jeff-Wall-Ausstellung, in der die teuren Leuchtkästen des Kanadiers wie billige Schülerarbeiten schief von den Wänden hängen. - Unter den «Special Projects» fallen zum Beispiel jene auf, die im «Winzawod» stattfinden - einer ehemaligen Weinfabrik im Osten des Stadtzentrums, wo in den nächsten Monaten eine veritable Kunstzone mit Galerien, Ausstellungsräumen, Ateliers, Cafés usw. entstehen soll. - Auch die Museen der Stadt sind auf die eine oder andere Weise in diese Biennale involviert - ebenso Galerien und Kunsträume der unterschiedlichsten Art. Ja manchmal hat man das Gefühl, dass sich ein jeder, der über die entsprechenden Mittel verfügt, mit einem Projekt in diese Biennale hat einkaufen können - nationale Kulturabteilungen wie die Pro Helvetia oder der British Council ebenso wie Stiftungen, Sammler usw. Gegen eine solche Offenheit ist grundsätzlich nichts zu sagen - wenn man nur wüsste, was welchen Status hat.

   All dies ist sehr verwirrend und ebenso undurchsichtig. Zwar gibt es durchaus gute Kunst zu sehen - aber sie wird hier oft so arg instrumentalisiert, dass man von ihr lieber gar nicht sprechen möchte. Was also soll man von dieser Biennale halten - tut sie der kulturellen Entwicklung in Moskau gut, oder fügt sie ihr Schaden zu, indem sie Machtstrukturen kulturell glorifiziert, die wahrscheinlich weder sozial noch besonders demokratisch sind? Von der Warte der Kunst aus lässt sich diese Frage nicht wirklich beantworten - überhaupt hat man das Gefühl, dass die Kunst bei aller Kunst hier nicht wirklich im Mittelpunkt steht. Wie dem auch sei - auf jeden Fall misstrauen auch wir der Wurst, die uns da vorgeworfen wird.



erschienen in NZZ, Mittwoch, 14.03.2007 / 45