Samuel Herzog

«Es kommt darauf an, was die Menschen sehen»


Die Kunstmetropole Mexiko-Stadt und das Werk von Julio Le Parc

    Mexiko-Stadt ist ein Moloch mit zahllosen Problemen - und mit einer Kunstszene, die sich in den letzten Jahren so stark entwickelt hat, dass sie heute auf allen Ebenen international mithalten kann.

   Warum sollte man Würmer essen, die sonst friedlich auf den Agaven herumkriechen? Warum Heuschrecken knabbern? Und warum lässt man die Eier von Ameisen nicht einfach in Ruhe, wo die kleinen Tierchen doch so diszipliniert auf der Welt unterwegs sind? Wer in einem Restaurant an der Plaza Tolsá sitzt und einen Teller mit Gusanos, Chapulines und Escamoles vor sich hat, der kann unter Umständen ganz schön ins Grübeln kommen - als Mitteleuropäer zumindest.

Je mehr Probleme - desto mehr Kunst

   Paris, London und New York - das waren die nervösen Kunstmetropolen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer etwas werden wollte mit Pinsel, Leica oder Handycam, der kam zumindest bis Ende der achtziger Jahre kaum um sie herum. Mit den neunziger Jahren allerdings löste sich die Vormachtstellung dieser drei Städte mehr und mehr auf - und neue Namen kamen hinzu, längst nicht nur solche aus der westlichen Welt: Moskau, Istanbul und Schanghai, Peking, Gwangjiu und Rio de Janeiro, São Paulo, Singapur oder Busan boten sich der reisefreudigen Kunstkarawane als frische Oasen an.

   Je grösser die Stadt und je heftiger von urbanistischen Problemen betroffen, desto geeigneter für die Kunst - so schien in den letzten Jahren die Regel zu lauten. Mit ihren zwanzig Millionen Einwohnern, ihren Migrationsproblemen, ihrer Luftverschmutzung, ihrer Kriminalität und ihrer schwierigen geologischen Lage bietet sich auch Mexiko-Stadt schon rein statistisch als eine ideale Stätte für die Kunst an. Denn an einem Ort, wo das Leben existenzieller scheint als anderswo, hat auch die Kunst fast automatisch mehr Relevanz. Und wo sogar der städtische Müllberg Gegenstand diverser Bodenspekulationen ist, scheint fast alles möglich.

   Und tatsächlich ist Mexiko-Stadt heute wohl die wichtigste Kunststadt in Zentralamerika. Das zeigt allein schon der Blick auf die zahlreichen Institutionen der Stadt, die sich mit moderner und zeitgenössischer Kunst beschäftigen. Da gibt es zum Beispiel das Museo Nacional de Arte, das die mexikanische Kunst der letzten fünfhundert Jahre im Überblick präsentiert. Das Museo de Arte Moderno und der Palacio de Bellas Artes zeigen unter anderem Werke des für die Stadt so typischen Muralismo. Das Centro de la Imagen gilt als erstklassige Anlaufstelle in Sachen Fotografie. Und das Antiguo Colegio de San Ildefonso macht vor allem auch mit Wechselausstellungen von sich reden - derzeit gibt es dort gerade eine umfangreiche Retrospektive des Wahlmexikaners Francis Alÿs zu sehen (bis 1. Juli).

   Auch auf der Ebene des Marktes schliesst Mexiko-Stadt auf. Die erste Kunstmesse «Maco» (México Arte Contemporáneo) im Jahre 2004 soll nach Aussage von Zeugen zwar noch eine ziemlich armselige Angelegenheit gewesen sein - die dritte Ausgabe indes, die um den ersten Mai herum im Edificio Expo Reforma durchgeführt wurde, stand vergleichbaren Anlässen in Europa oder Nordamerika in nichts mehr nach. Wo es eine Kunstmesse gibt, muss es auch Sammler geben - eine potente Collection mit zeitgenössischer Kunst kann man unmittelbar vor den Toren der Stadt in der Fabrik von «Jumex» bewundern, wo ausserdem Dosensäfte für die halbe Welt produziert werden.

   Wie quirlig die kreative Szene in Mexiko-Stadt geworden ist, konnte man auch in Europa schon mehrfach erfahren. 2002 etwa in der Ausstellung «Zebra Crossing» im Berliner Haus der Kulturen - oder 2003 in der vom Exilmexikaner Gabriel Orozco für die 50. Biennale von Venedig kuratierten Schau «Lo Cotidiano Alterado», die nebst gebürtigen Mexikanern auch einige der recht zahlreichen Künstler vorführte, die sich Mexiko freiwillig zur Heimat gemacht haben.

   Diese Wahlmexikaner dürften denn auch den Aufschwung der mexikanischen Kunstszene in den letzten Jahren wesentlich mitgetragen haben. Dass die heutige mexikanische Szene aus dem absoluten Nichts entstanden sei, wie manchmal behauptet wird, scheint jedoch nicht ganz zutreffend. Zwar haben Künstler wie Diego Rivera, Frida Kahlo und die ganzen Muralisten als figurative Maler ästhetisch nicht viel zum Kanon einer Moderne beigetragen, die sich hauptsächlich über verschiedene Formen der Abstraktion definierte. Und auch der Beitrag des grossen Abstrakten Rufino Tamayo ist nicht ganz unumstritten. In ihrer Haltung aber waren all diese Künstler sehr modern - haben sie sich doch ganz und gar über ihre Arbeit definiert und versucht, sich mit den Mitteln der Kunst (auch politisch) Gehör zu verschaffen.

   Mit Erfolg - klingt das Lied ihrer künstlerischen Taten doch heute bis in die Filmindustrie nach. Und namentlich in Europa und Nordamerika gehören auch Ausstellungen mexikanischer «Moderner» längst zum täglichen Betrieb. Da klingt allerdings zugleich auch ein Problem an, das Mexiko mit allen anderen Ländern Lateinamerikas teilt. Während nämlich der Austausch mit Europa und Nordamerika relativ gut funktioniert, ist der Austausch mit den anderen Kulturkreisen des Kontinents geradezu inexistent.

Den Austausch fördern

   An diesem Punkt setzt die Arbeit der in Zürich beheimateten Daros-Latinamerica ein. «Wir wollen den Austausch zwischen den einzelnen Ländern fördern und ein Bewusstsein schaffen für die Qualität der Kunst in Südamerika», fasst Hans-Michael Herzog zusammen, der die Aktivitäten von Daros-Latinamerica als Kurator lenkt. Mit diesem Ziel hat Daros nun ein Anwesen in Rio gekauft, das Ende 2007 als Casa Daros zum «Anlaufzentrum für alle Südamerika-Fragen» werden wird und sich für Projekte als ein Partner anbietet, der auch eine gewisse Kontinuität garantiert.

   Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist auch die Ausstellung zu sehen, die Daros derzeit im Laboratorio Arte Alameda im Herzen von Mexiko-Stadt zeigt. Die Schau, die in anderer Form bereits in Zürich zu sehen war, führt über vierzig Werke mit Licht des argentinischen Künstlers Julio Le Parc (geb. 1928) vor. Die Arbeiten stammen zu einem grossen Teil aus den sechziger Jahren und wurden mit grossem Auf-wand renoviert, zum Teil auch rekonstruiert. Das Laboratorio ist in einer ehemaligen Klosterkirche eingerichtet und bietet sich so als ein idealer Ort für die Arbeiten von Le Parc an. Wer die Kirche betritt, wird sogleich von einem Lichterspiel empfangen, das von einem Mobile aus lauter silbern glänzenden Scheiben produziert wird. Mit jedem Schritt taucht man alsdann tiefer und tiefer in die leuchtenden Fluten dieser Ausstellung ein. Le Parc arbeitet explizit nicht für ein Kunstpublikum - und spricht möglichen Interpreten seines Werks auch von vornherein jede Autorität ab: «Es kommt darauf an, was die Menschen sehen, und nicht darauf, was einer darüber sagt», lässt er sich verlauten. Also können wir uns in diesem «Parc Lumière» ganz dem Genuss der Effekte, ganz eigenen Gedanken oder Träumen hingeben.

   Und während wir in diesen Lichterhimmel starren, melden sich auch sogleich die Gusanos, Chapulines und Escamoles wieder zu Wort, die wir offenbar immer noch nicht ganz verdaut haben. «Es kommt darauf an, wie etwas schmeckt, und nicht darauf, was einer darüber sagt» - so viel ist klar. Und dennoch: Die Würmer waren etwas fettig, an den Heuschrecken hatte es zu viel Koriander - die Ameiseneier aber, die waren wirklich gut.




erschienen in NZZ, Montag, 15.05.2006 / 23    Le Parc Lumière. Julio Le Parc: Das kinetische Werk. Mexico, Laboratorio Arte Alameda. Bis 16. Juni.