Samuel Herzog

Blätter ohne Eigenschaften

«Andy Warhol: Popstars» - eine Ausstellung in der Wiener Albertina


 Es gibt Zeichenkünstler, die mit wenigen lockeren Strichen eine ganze Welt aufs Papier bannen können. Und es gibt Zeichner, die sich mit allerlei Tricks wie Abpausen, Collagieren usw. abmühen müssen, um ihren Gegenstand oder ihre Intention auch nur einigermassen (wieder)erkennbar zu Blatt zu bringen. Neigte man früher dazu, nur den gekonnten Strich für Kunst zu halten, so hat man sich in den letzten Jahren mehr und mehr auch für angestrengte Stiftführung zu interessieren begonnen. Andy Warhol, bekannt für seine coolen Ready-mades, seine experimentierlustigen Filme, seine Selbstinszenierung als Star und seine hochdekorativen Serigraphien, ist das Zeichnen wahrscheinlich nicht gerade leichtgefallen. Um dennoch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen seinen Skizzen und ihrem Gegenstand herzustellen, hat er sich oft mit Tricks wie dem Abklatschverfahren oder dem Nachzeichnen fotografischer Vorlagen beholfen. Warhol hatte nicht das Vermögen oder aber nicht die Geduld, die Welt mit dem Stift allein aufs Papier zu bannen - auf diesen Gedanken jedenfalls kommt der Betrachter von Warhols zeichnerischem Werk. Aber vielleicht war ja auch das von Beginn weg Strategie - und wäre folglich auch als Stil anzusehen. Die Geister scheiden sich da: Den einen ist Warhol schlicht ein schlechter Zeichner - den anderen ein genialer Manipulator medialer Transfers, ein Verweigerer gegenüber der Kunstgeschichte usw.

Raum für Projektionen

   Man kann von Warhols Zeichnungen halten, was man will - auch jene, denen die gezeichneten Blätter schlicht zu flach, zu unbeholfen und zu unpersönlich sind, werden zugeben müssen, dass Warhols Kopierverfahren zumindest bei einem Sujet ganz ausgezeichnet passt: dem Thema Popstar. Denn wird ein Star nicht gerade dadurch zum Star, dass seine äussere Erscheinung, seine Umrisse sozusagen, wieder und wieder kopiert, durchgepaust und collagiert werden? Nicht Darstellungen, die etwa in die psychischen Tiefen eines Menschen vorzudringen versuchen, machen aus einem Gesicht eine Pop-Ikone - es sind Repräsentationen, die möglichst viel Raum für Projektionen lassen, die den Popstar zum Popstar machen.

   «Andy Warhol - Popstars» heisst eine Ausstellung, mit der die Wiener Albertina derzeit das Publikum lockt. Der Titel führt allerdings ein wenig in die Irre: Denn wer nun hofft (oder befürchtet), dass ihm die üblichen in plakativem Dreifarbendruck leuchtenden Marilyns und Maos, Jaggers und Jacksons um die winterlich glühenden Ohren gehauen werden, wird enttäuscht (oder erleichtert) durch die fürstlichen Räume schreiten. In Wien gibt es nämlich nicht die fertigen Serigraphien zu sehen, mit denen heute jedes Kunstmuseum aufwarten kann (oder muss), sondern zeichnerische und collagierte Vorarbeiten dazu.

   Mittel- und Höhepunkt der Schau sind die Vorarbeiten zum Cover des Albums «Love You Live», mit dem die Rolling Stones 1977 für Aufregung sorgten. Zunächst machte Warhol mit der Polaroid-Kamera diverse Aufnahmen der verschiedenen Bandmitglieder. Diese projizierte er dann mit Hilfe eines Overhead-Projektors auf grosse Papiere an der Wand - und zeichnete mit dem Graphitstift die Umrisse und einige Binnendetails nach. Wie man sich unschwer vorstellen kann, entstanden dabei überaus flache Zeichnungen ohne allzu viel Handschriftlichkeit oder psychologische Tiefe, Zeichnungen, deren Komposition ganz von der fotografischen Vorlage bestimmt wurde. Manche dieser Zeichnungen hat Warhol dann in einem nächsten Schritt mit farbigen Blättern oder stark vergrösserten Fotografien kombiniert - und so jenen stilistischen und medialen Mischmasch kreiert, der viele seiner grossen Serigraphien charakterisiert.

   Für das Cover von «Love You Live» hat Warhol die einzelnen Bandmitglieder gebeten, menschliche Körperteile in den Mund zu nehmen: So hat Keith Richards ein Knie, Ron Wood einen Fuss, Bill Wyman ein Stück Schulter zwischen den Zähnen - und Mick Jagger beisst mit demonstrativer Lust in eine zarte Frauenhand. Auf anderen Zeichnungen gibt sich Jagger, ebenso ostentativ, einem heftigen Zungenkuss hin - auf der bearbeiteten Foto küsst er eine junge Frau, in der Zeichnung dann sich selbst. Überhaupt scheint es, als habe Warhols Interesse vorrangig dem narzisstischen Schauspiel und dem charismatischen Gesicht des Bandleaders gegolten - auf jeden Fall zieren dessen tief gefurchte Züge die meisten der hier gezeigten Blätter. - Die unpersönliche Machart dieser Zeichnungen führt dazu, dass uns diese Figuren wie aus einer seltsamen Zwischenwelt oder vielleicht eher einem Nicht-Ort heraus entgegenblicken - als wären sie Teil eines Comics, für den sich kein Autor verantwortlich fühlt. Es sind Zeichnungen ohne Eigenschaften, die sich so sehr als Projektionsflächen anbieten, dass wir fast ein wenig misstrauisch werden. Als Fans von Pop-Stars wollen wir projizieren, ja, doch wollen wir auch merken, dass wir es tun? Warhols Zeichnungen sind so leer, dass wir uns in ihnen verlieren - wodurch sie uns auf eine gewisse Weise ebenso haltlos machen könnten wie die grossen Paneele eines Barnett Newman. Vor Rot, Gelb und Blau hat heute wohl niemand mehr Angst, vor Mick Jaggers Runzeln aber schon.

Sich Welt aneignen

   Das wäre ein netter Schluss. Und doch rufen diese Blätter nach einem Nachsatz. Sie unterlaufen unsere Erwartungen, ja. Sie lassen uns auf eine gewisse Weise im Stich, jawohl. Aber tun das nicht eigentlich alle Werke, die sich der modernen Kunstaufgabe verweigern, uns ein persönlich gefärbtes und also interpretierbares Gegenüber zu sein? Sind Warhols Zeichnungen also vielleicht doch nur leer? Oder hässlicher ausgedrückt: hohl? Keine revolutionäre Leistung also? Keine existenzielle Metapher? Wollte sich Warhol mit seinen Methoden vielleicht wirklich nur von dem Makel befreien, ein schlechter Zeichner zu sein oder, gemeiner: nicht zeichnen zu können? Vielleicht ist aber auch diese Geste nicht gänzlich uninteressant. Kann ein Gang durch die Wiener Ausstellung doch auf jeden Fall Lust machen, sich die Welt zeichnerisch anzueignen - selbst wenn man, wie wohl auch Andy Warhol, in der Schule der Albtraum seines Zeichenlehrers war. Und das wäre auf eine gewisse Weise ja dann doch wieder ziemlich revolutionär.


   Andy Warhol: Popstars. Zeichnungen und Collagen. Wien, Albertina.


erschienen in NZZ, Donnerstag, 11.01.2007 / 47